Protokoll 4. Verhandlungstag – 16. Mai 2013

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Der vierte Verhandlungstag im NSU-Prozess beginnt wieder einmal zäh. Zunächst geht es um Stellungnahmen zu Anträgen der Verteidigung. Nach der Mittagspause verkündet der Vorsitzende Richter immerhin, dass das Gericht nicht plane, den Tatkomplex Nagelbombenanschlag in Köln 2004 vom Rest des Verfahrens abzutrennen. Gegen Ende dringt das Verfahren dann näher zu seinem „Kern“ (Rechtsanwalt Bliwier) vor: Die Angeklagten werden gefragt, ob sie sich zur Sache äußern wollen. Wie erwartet, wollen sich nur die Angeklagten Carsten S. und Holger G. äußern.

 

Zum geplanten Sitzungsbeginn um 9.30 Uhr wird verkündet, dass sich der Beginn der Verhandlung um eine Viertelstunde verschiebt. Maik E. sitzt diesmal nicht im Publikum. Der Zwillingsbruder von André E. gilt als potenzieller Zeuge, was wohl auch die Verteidigung André E.s so sieht.

Um 9.55 Uhr betritt das Gericht den Saal und stellt zunächst die Präsenz fest. Danach bittet Richter Götzl um Stellungnahmen zu den Anträgen des letzten Verhandlungstages. Zu den beiden Anträgen der Verteidigung von Ralf Wohlleben auf Aussetzung und Einstellung möchte sich niemand äußern. Zum Aussetzungsantrag der -Verteidiger_innen, der auch die Forderung nach Ablösung des Bundesanwalts Diemer und der Oberstaatsanwältin beim Generalbundesanwalt Greger enthielt, äußert sich zunächst die Bundesanwaltschaft.

Bundesanwalt Diemer fordert, den Antrag abzulehnen. Das Verfahren müsse nicht ausgesetzt werden, um die Akten der Untersuchungsausschüsse einsehen zu können. Die Möglichkeit, diese einzusehen, sei bereits gegeben. Die Ermittlungen des Generalbundesanwalts bezögen sich ohnehin auf Originalquellen, nicht auf abgeleitete Quellen, wie sie die Unterlagen der Untersuchungsausschüsse darstellten. Die Bundesanwaltschaft erlebe „die größtmögliche Kooperationsbereitschaft der Geheimdienste und Behörden“.
Eine Ablehnung von Staatsanwält_innen sei gesetzlich nicht vorgesehen und überdies kein Grund, ein Strafverfahren auszusetzen. Einsicht in die Akten der Staatsanwaltschaften der Länder sei gegeben, die Verteidigung müsse sich dazu eben die Mühe machen, nach Karlsruhe zu kommen. Und die Greger vorgeworfene „subjektive Einschätzung“ der Angeklagten Zschäpe sei angemessen gewesen: „Wir leben von Einschätzungen, sie gehören zu unserem Leben.“

Nebenklage-Vertreterin Clemm möchte sich dem Antrag der Verteidigung Zschäpe zwar nicht anschließen, stellt aber fest: „Faktisch haben wir zwar ein Akteneinsichtsrecht, aber das ist nicht umzusetzen.“ Im Anschluss an die Forderungen der Verteidiger_innen von Beate Zschäpe betont Clemm zusätzlich, wie wichtig die Einsichtnahme in die so genannte „129er-Liste“ mit 129 Namen von Personen aus dem Umfeld des NSU für die Wahrheitsfindung und daher auch für die Nebenklage sei. In dem Fall müssen Verteidigung und Nebenklage aber nicht den Beschluss des Senats abwarten. Bundesanwalt Diemer: „Ehe die 129er- Liste noch mehr auslöst, werden wir diese Liste an das Gericht senden.“ Weitere Nebenklage-Vertreter_innen schließen sich zwar nicht dem Antrag der Verteidigung auf Aussetzung bzw. Unterbrechung an, verlangen aber ebenso eine Verbesserung der Einsichtnahme. RA Scharmer, Vertreter der Nebenklägerin Gamze Kubaşık: „Wir haben eine Unterbrechung bis zum 4. Juni, jetzt ist Zeit für den Senat mit den Untersuchungsausschüssen zu klären, ob eine andere Form der Einsichtnahme möglich ist.“ Zudem beantragt er die Zusendung von Spurenakten zum Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund 2006, die bisher nur bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe einzusehen seien.

Um 10.20 Uhr folgt eine Unterbrechung, in der geklärt wird, wie die Schaltung der Mikrofonanlage funktioniert. Es war zu Diskussionen gekommen, weil das Mikrofon von Diemer sofort funktioniert, während die Nebenklage immer warten muss, bis die jeweiligen Mikrofone freigeschaltet sind. Nach zwanzig Minuten kommt das Gericht zurück und verkündet, das Mikrofon  der Bundesanwaltschaft sei jetzt so eingerichtet wie die Mikrofone der Nebenklage.

Es folgen weitere Stellungnahmen der Nebenklage zum Aussetzungsantrag der Zschäpe-Verteidigung, in denen unter anderem gefordert wird, der Senat müsse darauf hinwirken, dass die Sperr- und Verschlussanordnungen der Untersuchungsausschüsse Thüringen und Bayern aufgehoben werden. RA Heer, Anwalt von Zschäpe, kündigt schließlich an, auf die Stellungnahme der BAW erwidern zu wollen. Dafür benötige er jedoch eine Unterbrechung von mindestens 30 Minuten. Götzl möchte jedoch zunächst die Stellungnahmen zu den Anträgen von RA Klemke, Verteidiger von Wohlleben, und der Verteidigung Zschäpe zum Frage- und Rederecht hören.
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof Jochen Weingarten fordert, den Antrag abzulehnen. Das Fragerecht sei gesetzlich geregelt, die Staatsanwaltschaft käme dabei vor der Verteidigung und im Zweifel entscheide der Vorsitzende Richter. Es gebe im Übrigen kein Anrecht der Verteidigung,  relevante Fragen selbst zu stellen. Als Spitze gegen RA Heer fügt er an: „Es ist nicht hilfreich, wenn die Reihenfolge wichtiger ist als der materielle Gehalt.“

Im Anschluss bittet Götzl den Nebenklage-Vertreter RA Mohammed um eine Klärung zu seinem Antrag bezüglich weiterer möglicher Nebenkläger_innen aus dem Tatkomplex Nagelbombenanschlag in Köln. Dieser Antrag, den Mohammed schriftlich an das Gericht gestellt hat, hatte zu der gestrigen Debatte um eine mögliche Abtrennung des Tatkomplexes geführt. Mohammed führt aus, dass er auf die Zahl von weiteren 70 potenziellen Nebenkläger_innen aus diesem Komplex gekommen sei, weil in den Akten von einer möglichen Streuung der Nagelbombe  und damit einer „Todeszone“ von 250 Metern die Rede sei. Damit kämen prinzipiell alle Personen in Frage, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags in diesem Bereich rund um den Explosionsort aufgehalten haben. Konkrete Anhaltspunkte, dass diese Personen tatsächlich nebenklageberechtigt sind, habe er jedoch nicht und auch keinen Kontakt. Eine Information der möglichen Nebenkläger_innen müsse von Amts wegen erfolgen. Sein „Antrag“ sei vielleicht eher als Anregung an den Senat zu verstehen, sich darum zu kümmern. Nebenklage-Vertreter RA Erdal fordert Mohammed auf, doch den Antrag zurück zu nehmen, worauf Mohammed entgegnet, er könne das aus rechtlichen Gründen nicht tun. Nebenklage-Vertreter Bliwier sagt, es gebe keine Verpflichtung dem Senat gegenüber, etwaige weitere Nebenkläger_innen zu ermitteln, wie sie sich Mohammed offenbar vorstellt. Da sei offenbar eine Irritation beim Senat entstanden. Er beantragt, diese Sache zu den Akten zu legen.

Schon um 11.15 unterbricht Götzl die Verhandlung für die Mittagspause.

Um 13.45 Uhr geht es weiter. Götzl verkündet das Wichtigste zuerst: Das Gericht plant derzeit keine Abtrennung des Tatkomplexes Nagelbombenanschlag Keupstraße.

Dann verkündet er Beschlüsse des Senats: Sämtliche Anträge auf akustische, audiovisuelle oder stenografische Aufzeichnung der Hauptverhandlung werden, wie erwartet, abgelehnt. Die wörtliche Protokollierung ist im Einzelfall und auf Antrag möglich.
Der Antrag auf Einsichtnahme der 129er-Liste sei mit der Ankündigung Diemers, die Liste dem Gericht zukommen zu lassen, erledigt. Beim Antrag auf Versendung der Spurenakten zum Mord an Mehmet Kubaşık fehle dem Senat die Kompetenz, da es sich nicht um Sachakten handele. Hierzu müsse sich RA Scharmer an den Generalbundesanwalt wenden.
Zu den Anträgen zum Frage- und Rederecht verkündet Götzl, dass sie abgelehnt seien. Über die Erteilung des Wortes entscheide der Vorsitzende.

RAin Sturm, Verteidigerin Zschäpes, fragt, welche Version der 129er-Liste Bundesanwalt Diemer meine. Es gebe zwei, eine beim Bundeskriminalamt und eine beim Generalbundesanwalt. Diemer sichert zu, beide Version ans Gericht zu senden.

RA Heer beanstandet die Verfügung Götzls zum Fragerecht und verlangt einen Beschluss des Senats. Um 13.55 Uhr wird erneut unterbrochen. Um 14.10 Uhr teilt Götzl dann mit, dass die Verfügung bestätigt wird.

Danach verliest Heer eine Erwiderung auf die Stellungnahme der Bundesanwaltschaft zu den Anträgen auf Aussetzung der Verhandlung und Ablösung von Diemer und Greger. Diemer entgegnet: „Wir wenden uns nicht gegen die Einsicht der Akten, wir haben sie nur nicht zu den Akten genommen, weil wir sie nicht für relevant für dieses Verfahren halten.“ Nebenklage-Vertreter Bliwier fordert: „Wir sollten demnächst zum Kern des Strafverfahrens vordringen.“

Kurz drauf kommt Götzl tatsächlich wieder zum Kern des Verfahrens. Er fragt die Angeklagten, ob sie Angaben zur Sache machen möchten. RA Stahl verkündet für seine Mandantin Beate Zschäpe, dass diese keine Angaben zur Sache machen werde. Die Verteidigung von André E. verkündet in dessen Auftrag das Gleiche. Nicole , Anwältin von Ralf Wohlleben, teilt mit, dass ihr Mandant zwar keine Angaben zur Sache machen werde, es aber eine Verteidigererklärung geben werde. Carsten S. antwortet selbst auf die Frage des Vorsitzenden: Er wird Angaben machen. Auch Holger G. kündigt an, sich zu äußern.

RA Scharmer fragt, ob die beiden Angeklagten S. und G. auch bereit seien, Fragen zu beantworten. Die Verteidigung von S. bejaht dies, die Verteidigung von G. möchte auf diese Frage noch nicht antworten. Die Verteidigung von Carsten S. fragt, ob mit ihrem Mandanten begonnen werde. Dies bestätigt Götzl.

Es folgen noch Fragen zum Ablauf der Befragung und eine kurze Auseinandersetzung um die Sitzposition der aussagenden Angeklagten. RAin Schneiders (Verteidigung Wohlleben) verlangt, dass die Angeklagten im Zeugenstand Platz nehmen, damit sie bei ihren Aussagen nicht im Rücken der Verteidigung Wohlleben sitzen. Die Angeklagten Holger G. und Carsten S. sitzen nämlich in der dritten Reihe der Angeklagten: vorne Zschäpe und André E. mit ihren Verteidiger_innen, dahinter Ralf Wohlleben mit seinen Verteidiger_innen. Somit sitzen jene Angeklagten, die Aussagen angekündigt haben, im Rücken der anderen Angeklagten und von deren Verteidigung. Eine Anhörung im Zeugenstand ist jedoch allgemein nicht üblich, wenn Angeklagte sich äußern. Entsprechend lehnen die Verteidiger von S. und G. eine Änderung der Sitzposition ab. Götzl sagt nur: „Na gut, warten wir's ab.“ Er werde diese und andere Fragen im Laufe der anstehenden zweiwöchigen Sitzungspause entscheiden.

Um 14.30 Uhr endet die Sitzung, am 4. Juni geht es weiter.

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