Zusammenfassung der Prozesstage vom 4. Juni bis 4. Juli 2013

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Seit unserer letzten Zusammenfassung der ersten vier Prozesstage vom 31. Mai liegen einige sehr unterschiedliche Verhandlungswochen hinter uns. Wir strukturieren und fassen hier die Erkenntnisse und Eindrücke zusammen.

[Türkçe]

Während die ersten Tage sich den Angeklagten Carsten S. und Holger G. widmeten, war die danach begonnene Beweisaufnahme zu den verschiedenen Tatkomplexen wenig stringent und sprang zwischen den Befragungen zu unterschiedlichen Fragen hin und her: Es wurden sowohl Zeugen und Sachverständige zur Brandstiftung geladen sowie Beamte zu dem Mord an Abdurrahim Özüdoğru, der Waffenidentifizierung durch Carsten S. und Holger G. als auch Beamte, die quasi informelle Gespräche mit Beate Zschäpe geführt hatten.

Neue Erkenntnisse

Neue Erkenntnisse traten im Prozess in erster Linie durch die Aussagen von Carsten S. zu Tage, die er nie vorher – weder bei Vernehmungen durch die Polizei noch bei Gesprächen mit  Antifaschist_innen in Düsseldorf – gemacht hatte. Diese sind noch zu überprüfen, geben Anlass für neue Recherchestränge und liefern sogar Ermittlungsansätze, die aufgegriffen werden müssen. Spektakulär war vor allem seine bisher verschwiegene Erinnerung an Anspielungen und Prahlereien, die Mundlos und Böhnhardt ihm gegenüber bei der Waffenübergabe in Chemnitz gemacht haben sollen: In Verbindung mit journalistischer Recherche deutet alles darauf hin, dass der einen weiteren Anschlag verübt hat, nämlich am 23.06..1999 mit einer Rohrbombe in Form einer Taschenlampe auf eine von einem türkischen Wirt betriebene Kneipe in Nürnberg.  Bei der anschließenden Pressekonferenz konnten die Vertreter_innen des Generalbundesanwalts nicht einmal sagen, ob es sich bei diesem Anschlag um einen so genannten „Prüffall“ gehandelt habe, also um einen jener vielen ungeklärten Anschläge, die nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 überprüft worden seien. Mittlerweile ermittelt die Bundesanwaltschaft in dem Fall mit einem neuen Ermittlungsverfahren. Zu diesem Komplex wurden Carsten S. bereits von den Ermittler_innen vernommen.

Holger G. aber vor allem Carsten S. belasteten schwer. Die Aussagen lassen den Schluss zu, dass Wohlleben eher ein führendes NSU-Mitglied gewesen ist, als „nur“ ein Unterstützer. S. erinnerte sich z.B. nun auch daran, dass bei einem Telefonat mit den Untergetauchten Wohlleben gelacht habe und ihm erzählte, dass „sie einen angeschossen“ hätten. Wenngleich nur sehr bruchstückhaft  kamen durch die Befragung von Carsten weitere Erkenntnisse über rassistische und neonazistische Gewalttaten und Strukturen in Thüringen an die Öffentlichkeit und tragen so dazu bei, ein genaueres Lagebild von der rechten Szene um die Jahrtausendwende zu zeichnen. Zudem sei laut seinen Aussagen in der Thüringer Szene über „die Drei“ gesprochen worden. Seine Schilderungen über einen Angriff auf vermutete Nazi-Gegner_innen, bei denen Wohlleben einem der Opfer „auf dem Gesicht rumgesprungen“ sei, führte zur Einleitung eines neuen Ermittlungsverfahrens gegen Wohlleben – wegen versuchtem Mord. Einige Aussagen von Carsten S. werfen zudem die weiterhin wichtige Frage auf, inwieweit der durch V-Leute wie und andere (ausgestiegene) Neonazis über Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt informiert gewesen sein müsste.

Von außerhalb des Gerichtssaals erreichte am 12.Juni 2013 die Öffentlichkeit die Nachricht, dass Beate Zschäpe eine Brieffreundschaft zu dem Neonazi Robin Sch. pflegt. Ob der beschlagnahmte 26-seitige Brief als Beweismittel dem Prozess beigezogen wird und so die möglichen daraus zu lesenden Erkenntnisse über ihre Gedankenwelt und ihre sozialen Beziehungen in eine Bewertung des NSU einfließen können, wird noch im Gericht ausgefochten.

Eindrücke von den Angeklagten

Carsten S. entschuldigt sich  unter Tränen am Ende der Befragung der Nebenklage: „Ich kann nicht ermessen, was ihren Angehörigen für unglaubliches Leid, Unrecht angetan wurde, ihren//- Sie als Angehörige- da fehlen mir die Worte.“ Überraschenderweise kündigte Carsten S. an, keine Fragen der Verteidigung von Ralf Wohlleben zu beantworten, solange dieser sich nicht selbst einlässt. Doch so erfreulich das artikulierte und begonnene „Reinen-Tisch-Machen“ von Carsten S. und seine Bereitschaft, sich den Fragen vor Gericht zu stellen , sein mögen – der Eindruck bleibt, dass er immer noch nicht alles erzählt, was er weiß: Weiterhin hatte er dort „Erinnerungslücken“, wo er andere (außer Wohlleben) belasten könnte und wo seine eigene Schuld deutlich wurde. Ausweichend umschiffte er die politische Einordnung seiner Taten und seine damaligen durchaus hohen Funktionen in und JN. Laut Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann stilisierte Carsten S. sich als „Antirassist in der NPD“. Warum er nicht viel früher auspackte und dass er sowohl vom NSU als auch den Behörden angeblich nach seinem Ausstieg in Ruhe gelassen wurde, zieht für uns weitere Fragen nach sich.
Im Gegensatz zu Carsten S. weigerte sich der Angeklagte Holger G.  befragt zu werden. In einer verlesenen Einlassung gab er alle ihm vorgeworfenen Unterstützungsleistungen für die Untergetauchten zu und belastete die Angeklagten Zschäpe und Wohlleben schwer. Jedoch spielte er seine Rolle herunter. Auch er begründete  seine eigenen Handlungen als nicht politisch motiviert sondern als reine Freundschaftsdienste, deren fatale rassistische Konsequenz er nicht habe kennen können.

Die Angeklagten Zschäpe, Wohlleben und André E. schweigen wie angekündigt weiter.
Über die Befragungen von Beamten, die in verschiedenen Gesprächssituationen (nicht Vernehmungen!) mit Zschäpe geplaudert haben, kamen einige interessante Einblicke über die schweigende Angeklagte an die Öffentlichkeit. So konnten einige ihrer sich selbst belastenden Äußerungen festgehalten werden. Interessant ist dabei vor allem die Erzählung eines Kriminalhauptkommissar des BKA, der mit Zschäpe Gespräche über ihre angebliche Unzufriedenheit mit ihrem Verteidiger und ihre Erwägungen, auszusagen geführt hatte.So solle sie gesagt haben, sie sei „niemand, der nicht zu ihren Taten stehe“.

Bundesanwaltschaft vs. Nebenklage

Zunächst musste die Bundesanwaltschaft durch Druck der Nebenklage-Anwält_innen am 11.6. einräumen, dass es eine aktualisierte Liste mit Personen aus dem Umfeld des NSU gibt: Die sogenannte 129er-Liste umfasse derzeit etwa 500 Personen. Die Bedeutung der Liste spielten die Ankläger_innen jedoch herunter. An verschiedenen Verhandlungstagen machten sie sehr deutlich, dass es in diesem Strafprozess eben nicht – entgegen den Interessen der Angehörigen und der Nebenklage – darum gehen könne, das Unterstützer_innen-Umfeld aufzuklären: Die Bundesanwaltschaft erklärte zu den Anträgen von Nebenklage-Anwält_innen, die „Aufklärung des rechtsextremistischen Umfelds des NSU“ gehöre „nicht in diese Hauptverhandlung“. Anlass war die Erklärung und der Beweisantrag des Nebenklage-Anwaltes Bliwier, der Kontakte zwischen den Neonazi-Szenen in Dortmund und Kassel beleuchten möchte –  vor allem ein Treffen 2006 im Rahmen eines Rechtsrockkonzertes in Kassel, bei dem auch V-Leute des Verfassungsschutzes sowie und anwesend gewesen sein sollen.

Strategien der Verteidigungen

Wenig überraschend widersprach die Verteidigung Zschäpes  der Verwertung der Aussagen der Beamt_innen, die mit Zschäpe „plauderten“. Die Szene-AnwältInnen und Olaf , die Wohlleben verteidigen, beantragten die Entlassung ihres Mandanten aus der U-Haft – bis jetzt erfolglos. Außerdem wollen sie die Verwertung der Aussagen von Carsten S. verhindern. Während sich die Verteidigung von Carsten S. kooperativ gegenüber den Anträgen und Fragen von Gericht und Nebenklage zeigte, spielten die Verteidiger_innen von der Angeklagten Holger G. und André E. bis jetzt kaum eine Rolle.

Die ermittelnden Behörden

Die begonnene Beweisaufnahme zum Mord an Abdurrahim Özüdoğru, der am 13.06.2001 in seiner Änderungsschneiderei in Nürnberg durch zwei Kopfschüsse getötet wurde, gaben einen ersten Einblick in die mitunter rassistisch vorverurteilende Gedankenwelt der Polizei. Dies kennen wir bereits aus den Erkenntnissen der Untersuchungsausschüsse zum NSU: Auch im Prozess kam der aussagende Beamte nicht ohne abwertende Seitenhiebe auf das Opfer aus.

In die Beweisaufnahme zur Identifizierung der Ceska-Pistole, die Carsten S. und Wohlleben als Mordwaffe übergeben haben sollen, wurden die Aussagen von Polizeibeamten, die Waffenvorlagen durchgeführt hatten eingeführt. Dabei offenbarten sie vor allem die chaotischen Ermittlungsarbeiten der Polizei: zuerst waren Carsten S. schlechte schwarzweiß-Kopien von verschiedenen Waffen vorgelegt worden, später verschiedene Waffenmodelle. Ähnlich chaotisch war die Beweisaufnahme zur Identifizierung von Waffen durch den mutmaßlichen Unterstützer Holger G.: Ein Polizeizeuge, der bei einer Vernehmung des Angeklagten Holger G. beteiligt war und ihm Waffen vorgelegt hatte, sollte dies anhand von Waffen im Gerichtssaal nachvollziehen. Diese Waffen, so stellte sich erst im Verlauf der Vernehmung heraus, waren zwar die gleichen Typen von denjenigen Waffen, die G. seinerzeit vorgelegt wurden – aber es waren nicht dieselben Waffen, möglicherweise hatten die damals gezeigten Waffen sogar andersfarbige Läufe.

Fazit und Ausblick

Nach den mitunter überraschenden Aussagen von Carsten S. wird deutlich, dass der Prozess durchaus neue Erkenntnisse und Rechercheansätze zu Tage fördern kann. Klar zum Ausdruck kam hingegen abermals das Interesse der Anklage, den Prozess lediglich auf die Beweisführung zu den verhandelten Straftaten der Angeklagten zu beschränken und nicht das gesamte Ausmaß und Umfeld des NSU aufzudecken. Die Nebenklage schafft es bisher jedoch, ihren Interessen trotz Zeitdruck Raum zu verschaffen. Zäh wurden einige Verhandlungstage vor allem durch lange Einlassungen und Anträge der Verteidigungen.

Auch in den kommenden Wochen geht die Verhandlung nicht sehr stringent. weiter. Auf der Tagesordnung stehen sowohl die verschiedenen Morde, aber es wird auch die Beweisaufnahme zum Brand in der Frühlingsstraße fortgesetzt.