Taten und Worte – Neonazistische „Blaupausen“ des NSU

1
Bewaffnete Neonazis, darunter 2 Frauen. aus: "The way forward", B&H Skandinavien

Bewaffnete Neonazis, darunter 2 Frauen. aus: „“, B&H Skandinavien

Von Eike Sanders / Kevin Stützel / Klara Tymanova

Seit der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im November 2011 sind umfangreiche Bezüge zwischen Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos und ihres Netzwerks von mutmaßlichen UnterstützerInnen zu gut organisierten Strukturen von „Blood & Honour“, „“ und „Ku-Klux-Klan“ bekannt geworden. Ohne die umfangreiche logistische Hilfe dieser Strukturen hätte die rassistische Mordserie des NSU wahrscheinlich nicht stattfinden können. Allerdings wurden Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos im Untergrund nicht nur mit Waffen und Pässen aus der Neonaziszene versorgt. Mit ihren Taten verwirklichten sie Konzepte, die seit den 1980er Jahren in europäischen und US-amerikanischen Neonazikreisen diskutiert, für die geprobt und die letztendlich auch in anderen Ländern ausgeführt wurden.

Neonazistische Konzepte für den bewaffneten Kampf

Verschiedene Konzepte und Handlungsanweisungen für den bewaffneten Kampf kursierten seit den 1980er Jahren in der deutschen und internationalen Neonaziszene. Verbreitet wurden Schriften, die sich unter anderem auf die Organisation „Werwolf“ im historischen Nationalsozialismus bezogen und gemäß diesem Vorbild zum Untergrundkampf und gezielten Sabotageakten aufriefen.[2] Hinzu kamen die gescheiterten Bemühungen, die NSDAP in Deutschland wiederzubeleben und in einen quasi legalen bewaffneten Kampf zu treten. Darüber hinaus kursierten Handlungsanweisungen und Konzepte, die einen „leaderless resistance“ – einen „führerlosen Widerstand“ – propagierten. „Handbücher“, Traktate, Romane und kürzere Diskussionsbeiträge in Skinhead-Fanzines wurden gedruckt und zigfach kopiert, verbreitet unter Ladentischen und auf Konzerten, im Internet veröffentlicht sowie per Hand von Kamerad zu Kameradin weitergeben. Dabei war der Rechtsterrorismus übrigens nie eine ausschließliche „Männerangelegenheit“[3].

In den Konzepten wiederholen sich verschiedene Punkte. Betont wird, dass der „Rassenkrieg“ („Racewar“ oder auch „RaHoWa“, sprich „Racial Holy War“) und damit der Ausnahmezustand schon längst begonnen habe. Imaginiert wird der Kampf gegen einen übermächtigen Gegner, der nur „aus dem Dunkeln“, dem Untergrund geführt werden könne. Der illegale, bewaffnete Arm wird als der Hauptstrang der neonazistischen Bewegung gesehen[4]. Gewalt gegen Menschen wird ausdrücklich befürwortet und ideologisch gerechtfertigt. Angriffe auf Linke[5], auf „Ausländer“ und auf „das System“, das als „zionist occupied government“ („zionistische Besatzungsregierung“) apostrophiert wird, werden propagiert. Es geht um die Ausübung systematischer militärischer Gewalt zum Beispiel in „Wehrsportgruppen“, um „Krieg spielen“ und darum, den „Killerinstinkt zu wecken“.[6] In den neonazistischen Fanzines der 1990er Jahre wurde aber auch der Unterschied zum linksradikalen bewaffneten Kampf etwa der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) diskutiert. Bewaffnete Gewalt wurde eher als „verdeckte“ Gewalt geschildert, Bekennerschreiben sollten unterlassen werden. Gelten sollte das Prinzip der „Propaganda der Tat“[7]. Diese sollte für sich selbst sprechen.

Deutschsprachige Ausgabe der Turner Tagebücher

Deutschsprachige Ausgabe der Turner Tagebücher

„Leaderless resistance“ und „Turner-Diaries“

Im Großen und Ganzen herrschte in dem Spektrum, dem der NSU entstammte, Einigkeit über die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. Streit gab es um die Einschätzung des richtigen Zeitpunktes, die Rücksichtnahme auf die legalen Strukturen der neonazistischen Szene, die präferierten Anschlagsziele und vor allem um die Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit der KameradInnen. Propagiert wurde vor allem das Prinzip des „führerlosen Widerstands“ („leaderless resistance“). Dies entwarfen und publizierten anonyme Verfasser*innen [8] zur Jahrtausendwende online im „“. [9] Der Text formuliert zwei Möglichkeiten, den bewaffneten Kampf zu führen. Zum einen wird die Option des Einzelkämpfers genannt, der auch als „“ beschrieben wird. Hierbei solle es sich um ein einziges, hoch motiviertes Individuum handeln, das auch alleine Aktionen durchführen könne. Diese „Ein-Personen-Zelle“ sei undurchdringlich für die Strafverfolgung. Als Nachtteil wird aber erachtet, dass der „lone wolf“ in der Größenordnung der Anschläge, die er durchführen könne, beschränkt sei. Zum anderen propagiert das Konzept eine Struktur von unabhängigen, kleinen Zellen, die aus mehreren Personen bestehen sollen: „(…) wir [müssen] eine Organisationsstruktur von kleinen ‚Zellen‘ bilden. Jede dieser Zellen wird nur wenige Mitglieder haben und in der Lage sein, unabhängig von den anderen zu operieren. Bestehend aus langjährigen, vertrauenswürdigen Bekannten sollte eine Zelle handlungsfähig zu sein. Eine Handvoll engagierter Soldaten (nicht mehr als 4 oder 5) können eine undurchdringliche, kohärente und wirksame Waffe gegen die Tyrannei gegen uns sein.“[10]

Laut des Konzeptes des „leaderless resistance“ komplementieren und bedingen sich in einer Mehrpersonenzelle die jeweiligen Funktionen ihrer einzelnen, wenigen Mitglieder bis zum gemeinsamen „Sieg“ oder „Untergang“. Die Zelle erscheint als organische Kampfgemeinschaft, soll autonom agieren und alleine überlebensfähig sein:
„Es ist genau diese Art von in Zellen strukturiertem Widerstand, die die verräterischen Machthuren in der Regierungsmacht am meisten fürchten. Sie haben keine Ahnung, wie man mit dieser Art von Bewegung umgehen kann, sie hat keine hierarchische Machtstruktur, so dass sie nicht gestürzt werden kann und die Zellen sind zu klein um sie zu infiltrieren.“[11]

Diese Konzeption findet sich sowohl im „leaderless resistance“ als auch in einem weiteren für den neonazistischen bewaffneten Kampf wesentlichen Text wieder: „The Turner Diaries“ (dt. „Die Turner-Tagebücher“) ist ein dystopischer [12] Roman, den der Amerikaner William L. Pierce unter dem Pseudonym 1978 verfasste. , der für den Anschlag auf das „Murrah Federal Building“ in Oklahoma City, bei dem 1995 168 Menschen starben, verurteilt wurde, gab an, die „Turner Diaries“ hätten ihn zu seiner Tat inspiriert. Der Neonazi David Copeland, der im April 1999 in London drei Bombenanschläge innerhalb von zwei Wochen durchführte und dabei drei Menschen tötete und über hundert verletzte, gab ebenfalls an, die „Turner Diaries“ gelesen zu haben. Auch die US-amerikanische Neonazi-Organisation „“ orientierte sich an diesem menschenverachtenden Machwerk. Nach mehreren Mordanschlägen, Banküberfällen und Schusswechseln mit der Polizei wurde „The Order“ 1985 vom FBI zerschlagen.

In den 1990er Jahren kursierten die „Turner-Tagebücher“ auch in der deutschen Neonazi-Szene und wurde breit und positiv rezipiert. In vielen neonazistische Fanzines wurde sich auf die „Tagebücher“ bezogen, so heißt es zum Beispiel im Editorial des Nazi-Fanzine „“ [13]: „Beginnen wir das Heft mit einem „Zitat“, das an dieser Stelle recht gut in die heutige Zeit passt“ – darauf folgt dann ein 15-zeiliges Zitat aus den „Turner-Tagebüchern“. Auch bei den Hausdurchsuchungen nach dem Auffliegen des NSU bei den Angeklagten André Eminger und Ralf Wohlleben wurden die „Turner-Tagebücher“ auf ihren Computern gefunden. Es kann davon ausgegangen werden, dass der NSU und seine UnterstützerInnen diese und weitere für den neonazistischen bewaffneten Kampf relevante Schriften gelesen haben.

Die „Turner-Tagebücher“ sind ein fiktiver Roman, der in der Zukunft, nämlich 1991 bis 1993, in den USA spielt. Im Zentrum der rassistischen und antisemitischen Fiktion steht die Unausweichlichkeit eines „Rassenkampfes“. Geschildert wird eine schrittweise herbeigeführte „weiße Revolution“, in deren Verlauf ein weltweiter Genozid an Juden und Jüdinnen und Nicht-Weißen stattfindet. Der Roman gibt im Vergleich zum Konzept des „leaderless resistance“ Einblicke in die angestrebte psychologische Wirkung des propagierten neonazistischen bewaffneten Kampfes. Zur beabsichtigten Tatausführung heißt es: „Die Willkür und Unberechenbarkeit sind wichtige Aspekte der Wirksamkeit“ [14]. Ziel sei es, die potentiellen Opfer zu verunsichern, weil diese nicht wissen könnten, wer die TäterInnen seien und wer das nächste Opfer sein könne. Diese Form des neonazistischen Terrors wird propagiert, um ein Klima der Angst zu erzeugen. Der Glaube an die Unbesiegbarkeit der Regierung und das Gefühl der Bevölkerung „sicher zu sein“, solle erschüttert werden. Dies ist übrigens im Gegensatz zu anderen neonazistischen Texten zum bewaffneten Kampf aus diesem Zeitraum, die eher als Handlungsanweisungen zu lesen sind, die einzig bekannte strategische Konzeption für eine schrittweise Herbeiführung einer „weißen Revolution“.

Gender in den Konzepten zum neonazistischen bewaffneten Kampf

Propagiert wird in den „Turner Diaries“ ein dichotomes, aber durchaus ambivalentes Geschlechterbild. Ambivalent werden etwa die Opfer des neonazistischen Hasses hinsichtlich ihres Geschlechts dargestellt. An verschiedenen Stellen der „Turner-Tagebücher“ werden zunächst die „moralischen Skrupel“ des Protagonisten erörtert, „weiße Frauen“ zu töten. Im Verlauf des Romans kommt es jedoch zunehmend zu Schilderungen von Morden an „weißen Frauen“. Als zentraler Vorwurf gegen sie fungiert die Konstruktion einer sogenannten „Rassenschande“.[15] „Nicht-weiße Frauen“ finden als Hassobjekte im Roman dagegen so gut wie keine Erwähnung. Demgegenüber kommt es zu drastischen und brutalen Schilderungen von Gewalt gegen „schwarze Männer“, die in hohem Maße sexualisiert werden. Die „Turner Diaries“ enthalten viele lustvolle Schilderungen von Gewalt gegen den politischen beziehungsweise den „rassischen“ Gegner. Dennoch wird das Ideal eines politischen Soldaten propagiert. Dieser solle sich durch Selbstbeherrschung, soldatische Männlichkeit und bedingungslose Disziplin auszeichnen. Er solle keine Gefühle zulassen und keinen Schmerz zeigen. Hier besteht eine Ambivalenz aus Enthemmung und moralisch legitimierter Gewalt: Der selbstbeherrschte „Rassenkrieger“ darf durchaus lustvoll die tödliche Gewalt gegen seine nichtweißen Opfer genießen. Gleichzeitig hat er sich aber noch so im Griff zu haben, dass er die Kontrolle über das gewalttätige Gesamtgeschehen nicht verliert.[16]

In Bezug auf Gender-Fragen ist in den „Turner-Diaries“ allerdings auch die Schilderung der neonazistischen Zellen selbst interessant. Die im Roman beschriebenen Untergrundzellen bestehen meist aus vier bis acht Mitgliedern. Überwiegend handelt es sich um Männer und Frauen, wobei Männer für Gewalttaten zuständig sind, während Frauen meist in der Propaganda, der Beschaffung, der Deckung und der Tarnung agieren. Frauen sind also Teil der kämpfenden Einheiten. Sie sind Soldatinnen, aber nicht vollends gleichberechtigt. Beispielsweise wird „Katherine“, die spätere Freundin des Protagonisten des Romans, als jemand geschildert, die zunächst „unpolitisch“ war. Durch die fiktive Vergewaltigung und Ermordung ihrer Mitbewohnerin durch Schwarze wurde sie angeblich dazu gebracht, sich zu bewaffnen und sich der „Organisation“ des Protagonisten anzuschließen. Der Roman beschreibt sie als hart, klug und attraktiv. Allerdings entwickelt sie keine eigene Persönlichkeit. Als Freundin des Protagonisten „Turner“ wird sie als sein Rettungsanker an eine – zugunsten des Kampfes – aufgegebene menschliche Normalität geschildert, wenngleich auch sie – meist um mit ihm zusammen zu sein – an gefährlichen Aktionen teilnimmt. Der Roman beschreibt die Momente der Zweisamkeit als Ausruhen und Krafttanken. Zugleich propagiert er, dass Frauen in der „Organisation“ weitaus besser gestellt würden, als in der restlichen Gesellschaft, wo sie „Rassenschande“, „Vergewaltigungen“ und systematischer Entwürdigung ausgesetzt seien, während in der „Organisation“ ein strenger Ehrenkodex herrsche. Die Neonazi-Szene wird als Ort der Ehre und Moral ausgemalt. Unter Männern ist die einzige Form des Kontakts die Kameradschaft. Sie funktioniere allerdings nur, wenn die Gemeinschaft „rein“ bleibe von „Verrätern“.

Zwar gehören die „Turner Diaries“ durch Rezeption und Urheberschaft in das Konzept des „leaderless resistance“, wirklich „führerlos“ sind die Zellen in den „Tagebüchern“ jedoch nicht: Beschrieben wird eine übergeordnete geheime Kommandozentrale bestehend aus Männern des „Ordens“, die den einzelnen Zellen Anschlagsziele vorgeben und gemeinsame Aktionen koordinieren und innerhalb der „Organisation“ Recht sprechen, das heißt „Abweichler“ hinrichten lassen. Dass die sich ergänzenden Rollen und Funktionen in Zellen traditionell geschlechtlich aufgeteilt werden, liegt nahe. Jedoch wäre es verkürzt, dies der sexistischen Ideologie der Neonazis allein zuzuschreiben. Zum einen ist der Untergrund-Kampf eine Ausnahmesituation, der zur pragmatischen Neuaufteilung von Rollen einlädt, zum anderen darf die Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Geschlechterbildern nicht unterschätzt werden: Wenn „Katherine“ für die Untergrundzelle überlebenswichtig ist, weil sie die Aktivisten durch Make-Up und Verkleidung zu anderen Menschen verwandelt, so ist das etwas, was sie gesellschaftlich ansozialisiert bekommen hat und was sie jetzt gegen die „verhasste Gesellschaft“ verwendet.

Titel "The Way Forward" von Max Hammer

Titel „The Way Forward“ von Max Hammer

Im Pamphlet der skandinavischen „Blood & Honour“ Sektion „The Way Forward“ [17] finden sich ähnliche Belege für die aktive Rolle, die Frauen im neonazistischen bewaffneten Kampf einnehmen können. Abgedruckt ist ein Foto auf dem neben sieben Männern auch zwei Frauen mit Sturmhaube und Maschinengewehr posieren. Auffällig sind die beiden sehr unterschiedlichen Gender-Performances: Eine mit kurzem Rock und Stiefeln, betont 'sexy‘, die andere in Hosen und mit einer sehr männlich kodierten Körperhaltung.

Ähnliche Stereotype wie in den neonazistischen Konzepten für einen bewaffneten Kampf finden sich in den Neonazi-Fanzines der 1990er Jahre. Darin wird die Dichotomie der Geschlechter beschrieben und bebildert. Frauen und Männer haben unterschiedliche Rollen, einige Frauen werden mit Waffen abgebildet, viele als „Sexobjekte“. Auf der Textebene sind Frauen aber meist in ihrer „natürlichen“ Rolle beschrieben: Frauen leisteten die Reproduktionsarbeit und seien die Stütze ihrer „Kameraden“. Ihnen wird einerseits eine hohe Emotionalität zugeschrieben, was mit dem als männlich kodierten Ideal des selbstbeherrschten Soldaten unvereinbar ist. Für Männer seien Frauen neben dem politischen Kampf ein „Hobby“. Für Frauen seien die Familie der Lebensinhalt und Freizeitbeschäftigung zugleich. Dabei solle die Freundin des Neonazi-Kaders auch weltanschauliche Kameradin sein. Weibliches Ideal stellte ein überhöhtes Bild der „Trümmerfrauen“ der Nachkriegsgeneration dar: Mütter und Großmütter, die die Familie durchbrachten und gleichzeitig das „Vaterland“ wieder aufbauten.

Wenn in dieser höchst sexistischen und heteronormativen Szene klassische Geschlechterideale propagiert werden, bietet jedoch das Imaginieren des schon herrschenden „Rassenkrieges“ und die Forderung des bewaffneten illegalen Kampfes Raum für Abweichungen vom Prinzip: Der Idee des „gelebten Ausnahmezustandes“ kann auch unter das eigene konsequente Ausleben der völkischen Idealvorstellungen vollkommen untergeordnet werden. Bis zur Machtergreifung oder Revolution opfern sich Männer, vor allem aber auch Frauen, bis hin zur „Selbstaufgabe“ und dem „Märtyrertod“, in dem sie unter Umständen auch gegen die propagierten Rollenideale verstoßen.

Vorbilder des NSU

Offensichtlich ist: Der Einzelkämpfer, der „lone wolf terrorist“ verkörpert das Ideal des hypermaskulinen Kämpfers. Auf sich allein gestellt, agiert er unabhängig von größeren Gruppenstrukturen, aber im Sinne ihrer Ziele oder der übergeordneten Ideologie. Der bereits erwähnte David Copeland, der 1999 in London drei Bombenanschläge mit drei Toten und über hundert Verletzten durchführte, war einer dieser Einzelkämpfer, wenngleich er zuerst bei der „British National Party“ und dann beim „National Socialist Movement“, einer Abspaltung von „Combat 18“, organisiert war. Die Nagelbombe des NSU in Köln war womöglich baugleich mit Copelands, was sogar das Bundeskriminalamt kurz nach dem Anschlag feststellte. Auch der Neonazi , der 1997 einen linken Buchhändler in Berlin niederschoss und auf der Flucht einen Polizeibeamten tötete, war kein freischwebender Einzeltäter, sondern ein Einzelkämpfer im Sinne des „lone wolf“. Der 1994 zu lebenslanger Haft verurteilte John Ausonius passt gleichermaßen in dieses Schema: Er schoss in Schweden auf elf MigrantInnen mit einem abgesägten Gewehr, auf das er eine Laservorrichtung montiert hatte. Eines seiner Opfer starb, zehn überlebten schwer verletzt. Seinen Lebensunterhalt finanzierte er mit Banküberfällen. Vom jeweiligen Tatort flüchtete er mit dem Fahrrad. Im neonazistischen „Field Manual“ [18] wird Ausonius unter dem Stichwort „“ als Beispiel des „leaderless resistance“ erwähnt. Sogar das „Bundesamt für Verfassungsschutz“ bezeichnete ihn als „mögliche Blaupause für den NSU“ [19].

„Blaupausen“ einer rassistischen Mordserie

Bei Betrachtung der vorhandenen neonazistischen Konzepte und Handlungsanweisungen zum bewaffneten Kampf und der praktischen „Vorbilder“ seit den 1990er Jahren fallen vielfältige Bezüge zur sogenannten „Zwickauer Terrorzelle“ auf. Von der Finanzierung durch bewaffnete Raubüberfälle [20] bis hin zum Gebot, als „aufrechter Kämpfer“ der Polizei nicht in die Hände zu fallen [21], finden sich Parallelen. Diese reichen bis zur Tatbegehung mittels Schalldämpfer und Flucht auf einem Fahrrad. Darüber hinaus zeigen sich vielfältige Bezüge zwischen den Vorstellungen von Gender in neonazistischen Konzepten zum bewaffneten Kampf und dem was bislang über den NSU bekannt ist. So scheint es nach der Lektüre der „Turner-Tagebücher“ kein Zufall zu sein, dass der NSU Männer nichtdeutscher Herkunft tötete und nicht weibliche Migrantinnen. Diese werden im Sinne der dichotomen Vorstellung von Geschlecht innerhalb der neonazistischen Ideologie nicht als „relevante Gegner“ erachtet. Das in den neonazistischen Konzepten nach Innen propagierte traditionelle, aber angesichts des „Rassenkriegs“ flexible Geschlechterverhältnis scheint ebenfalls funktional gewesen zu sein. In Zeiten des „Ausnahmezustands“ können auch neonazistische Frauen eine klassische weibliche Rolle überschreiten. Aggressiv auftretende und körperlich gewalttätige Frauen wurden so bereits in den 1990er Jahren in der extrem rechten Szene akzeptiert. Zschäpe entsprach allen Facetten dieses Frauenbildes. Mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse im NSU dürfen aber auch die Männlichkeitsstereotypen, denen Böhnhardt und Mundlos zu entsprechen scheinen, nicht unter den Tisch fallen. Dazu gehört nicht nur die hypermaskuline Art der Tatbegehungen des NSU, die Hinrichtungen gleichen. Auch die Konstruktion einer Kameradschaft unter heterosexuellen Männern war eine notwendige Voraussetzung für den Zusammenhalt. Denn die innerhalb der Mehrheitsgesellschaft als außergewöhnlich wahrgenommene Dreieckskonstellation mit einer Frau war erklärungsbedürftig und konnte unter anderem nur durch diese „Kameradschaft“ aufrechterhalten werden. Nach Außen waren dem Trio auch in entscheidendem Maße die Klischees über Frauen dienlich: Die Frau ist friedfertig, sozial, gewaltablehnend, sie hält sich im Hintergrund. Zschäpe war diejenige, die mit ihrem freundlichen Kontakt mit den NachbarInnen, ihren beiden Katzen oder den Urlaubsbekanntschaften die fundamental notwendige bürgerliche Fassade des Trios erschuf. [22] Sie stellte, genauso wie „Katherine“ aus den „Turner-Diaries“, ihre als weiblich markierten Fähigkeiten in den Dienst der Sache.

In diesem Zusammenhang ist auch die mediale Darstellung, wonach in der „Zwickauer Zelle“ eine Aufgabenteilung zwischen Mundlos als „dem Gehirn“ und Böhnhardt als „ausführender Hand“ vorherrschte, kritisch zu betrachten. Innerhalb der Zellenstruktur des „leaderless resistance“ braucht es auch AktivistInnen, die Geld und Waffen besorgen, Personaldokumente zur Verfügung stellen, den Fluchtweg absichern und die Propaganda produzieren. Stützt man sich auf das in den „Turner-Tagebüchern“ skizzierte organizistische Weltbild – die Zelle als lebender „Körper“ analog zur „Volksgemeinschaft“ als lebendem Organismus – haben alle Zellenmitglieder eine festgeschriebene Rolle, die nur im Extremfall verlassen wird. Alle haben verschiedene Funktionen inne und wirken dennoch als Ganzes zusammen. Der zentrale Punkt ist daher nicht, wer innerhalb der Zwickauer Zelle „Kopf“ und wer „Hand“ war, sondern dass sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie eine mutmaßlich größere Gruppe von Neonazis Ende der 1990er Jahre entschieden haben, Teil dieses „Körpers“ zu werden. Die Auseinandersetzung mit neonazistischen Konzepten und Handlungsanleitungen zum bewaffneten Kampf verdeutlicht, dass sich der NSU dabei nicht nur als Teil einer neonazistischen Bewegung imaginiert hat. Ohne sein weitreichendes Netzwerk an UnterstützerInnen, die die politische Sozialisation in der militanten Neonaziszene der 1990er Jahre teilen, wäre die Terrorzelle nicht in der Lage gewesen, die bis dato beispiellose rassistische Mordserie zu verüben.

Stand des Artikels: Frühjahr 2013.

Fußnoten:

[1] Der Artikel beruht auf Diskussionsergebnissen eines Seminars der „Naturfreundejugend Berlin“, das sich im Dezember 2012 mit neonazistischen Konzepten und Geschlechterverhältnissen beim NSU beschäftigte. Andere Teile entstammen einem bisher unveröffentlichten Skript von Eike Sanders und Ulli Jentsch zum Thema „Geschlechterverhältnisse im NSU und seinem (ideologischen) Umfeld“.

[2] Vgl. Westmar, Hans (1991): Eine Bewegung in Waffen, in: Bd. 2: Strategie und revolutionärer Kleinkrieg, o. O, S. 22. Hinter dem Pseudonym verbergen sich die Hamburger Neonazis Henry Fiebig und Christian Scholz. Bei dem Pamphlet handelt es sich um eine von den USA aus vertriebene vierbändige Broschüre. Scholz ist ehemaliger Funktionär der „Freiheitlichen Deutschen Arbeitspartei“ (FAP).

[3] Bis heute ist es ein Manko in der sozialwissenschaftlichen und antifaschistischen Analyse, dass die Rolle von Frauen in rechtsterroristischen Gruppen in Deutschland auf den Status als Familienangehörige reduziert wird. Zuletzt bei Eilenstein, Marcel (2012): Für den BRD-Staat war rechter Terror nie ein Problem, S. 9, in: Burschel, Fritz / Güttinger, Kira (Hrsg.): Vergessener Terror von rechts. Verharmlosung und Leugnung von (Neo-)Nazi-Umtrieben in Deutschland. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.

[4] Vgl. Westmar (1991): a.o.O., Band II, S. 23 und 28 f.

[5] Siehe zum Beispiel „White Youth“, Nr. 1 (1999), S. 31 oder „Stormer“ (Combat 18 Magazin), deutsche Fassung Nr. 1 (2003), S. 5 und S. 14.

[6] Beispielsweise wurde in verschiedenen neonazistischen Fanzines diskutiert, ob man in der Bundeswehr dienen solle.

[7] Vgl. Westmar (1991): a.o.O, S. 38-39.

[8] In einer früheren Version wurde hier die Autorenschaft des WRM fälschlich dem US-amerikanischen Nazi Louis Beam zugeordnet. Dies haben wir hier korrigiert.

[9] Das „White Resistance Manual“ wurde Ende der 1990er Jahre anonym im Internet veröffentlicht und vor allem von „Combat 18“, dem bewaffneten Arm des neonazistischen Netwerks „Blood & Honour“, verbreitet. Es enthält neben theoretischen Überlegungen zum bewaffneten Kampf vor allem Tipps zum Schutz vor Strafverfolgung und Anleitungen zum Schusswaffengebrauch, Bombenbau und für gezielte Mordanschläge.

[10] Vgl. „White Resistance Manual“. Übersetzung durch die AutorInnen.

[11] Vgl. ebd.

[12] Als Dystopie wird in der Literaturwissenschaft eine fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung bezeichnet, die von einer Gesellschaft handelt, die sich zum Negativen entwickelt (hat). Sie ist sozusagen der Gegenentwurf einer Utopie – die „Turner Diaries“ sind dementsprechend für Neonazis eine Utopie, für uns eine Dystopie.

[13] United Skins, Nr. 13 (1999). Herausgeber war Carsten Szczepanski („V-Mann Piato“). Bei der Durchsuchung der von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt genutzten Garage 1998 wurden diverse derartige Nazi-Fanzines sichergestellt.

[14] Macdonald, Andrew (1996): Die Turner-Tagebücher, New York, S. 255 (Kapitel 23).

[15] Ebd., S. 116 (Kapitel 11). Weiterführend siehe Overdieck, Ulrich (2010): Der Komplex der ‚Rassenschande und seine Komplexität für Männlichkeitskonstruktionen in rechtsextremen Diskursen. In: Claus, Robert / Lehnert, Esther / Müller, Yves (Hrsg.): „Was ein rechter Mann ist …“ Männlichkeiten im Rechtsextremismus. Berlin: Karl Dietz Verlag.

[16] Ebd., S. 244 ff. (Kapitel 23).

[17] Verfasst wurde der Text vom norwegischen Neonazi Erik Blücher, veröffentlicht wurde er unter dem Pseudonym „Max Hammer“. Die deutsche Übersetzung kursierte ab 1998.

[18] Vgl. Field Manual, S. 21. Das „Field Manual“ geht ebenfalls auf den norwegischen Neonazi Erik Blücher zurück. Es erschien nach seinem Pamphlet „The Way Forward“ im Jahr 2000.

[19] Schmidt, Wolf (2012): Blaupause Lasermann in: die tageszeitung, 05.09.2012, www.taz.de/Vorbild-des-Terrornazi-Trios/!101023/ (07.03.2013).

[20] Macdonald (1996): a.o.O., S. 79 ff. (Kapitel 8).

[21] Ebd., S. 146 ff. (Kapitel 14).

[22] Sanders, Eike (2012): Frauen und Männer im Untergrund. Geschlechterverhältnisse im NSU und seinem Umfeld, in: Monitor. Rundbrief des Apabiz, Nr. 55, https://www.apabiz.de/2012/frauen-und-maenner-im-untergrund-geschlechterverhaeltnisse-im-nsu-und-in-seinem-umfeld/ (25.03.2013).

schreddern-spitzeln-staatsversagenDer Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in:

Bodo Ramelow (Hrsg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen. VSA Verlag. 240 Seiten | 2013 | EUR 12.80