Protokoll 177. Verhandlungstag – 22. Januar 2015

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Am heutigen 177. Verhandlungstag wird die Anhörung von Geschädigten der Anschlags aus der Kölner Keupstraße fortgesetzt. Die Zeug_innen schildern eindrücklich die Ereignisse vom 9. Juni 2004. Mit Bekanntwerden der Mordserie des NSU im November 2011 sei erneut ein schmerzlicher Prozess der Auseinandersetzung mit den Ereignissen aus dem Juni 2004 in Gang gesetzt worden. Zum Ende des Tages hin erläutert ein Sprengstoffexperte des BKA das von ihm erstellte Gutachten zur Sprengkraft der Bombe.

Zeug_innen:

  • [M] (Geschädigter des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße)
  • [N] (Geschädigte des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße)
  • Dr. Joachim He. (behandelnder Arzt von [N])
  • Dr. Ahmet Be. (behandelnder Arzt von [N])
  • [O] (Geschädigter des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße)
  • [P] (Geschädigte des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße)
  • [Q] (Geschädigter des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße)
  • [R] (Geschädigter des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße)
  • Dr. Ibisch (BKA Wiesbaden, Sprengstoffgutachten zur )

[Hinweis: Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verzichten wir auf die namentliche Nennung der Betroffenen des Anschlags in der Kölner Keupstraße. Die Angaben der Zeug_innen zu ihren körperlichen Verletzungen, psychischen Folgen und Behandlungen geben wir hier in einem zusammenfassenden Text wieder.]

Der Verhandlungstag beginnt um 09:57 Uhr. Der erste Zeuge [M], der sich zum Zeitpunkt des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße befand, nimmt gemeinsam mit seinem Rechtsbeistand NK-Vertreter RA Kuhn Platz. [M] berichtet, er habe sich frisieren lassen wollen. Zunächst sei er gebeten worden, für fünf Minuten Platz zu nehmen. Er habe dann auf dem Frisierstuhl gesessen, etwa sechs oder sieben Meter ins Geschäft rein, und sei nach etwa einer halben Stunde fertig gewesen. Eine Minute später habe es einen enormen Knall gegeben. Er habe enorme Schmerzen verspürt, vor allem in den Ohren. Der Friseur habe ihn komplett abgeschirmt. Somit sei er wie durch einen großen Zufall nicht direkt betroffen gewesen und habe erst später Glassplitter und Schnittwunden auf seinem Kopf entdeckt.

Im Moment der Explosion seien alle nach hinten in den Salon gegangen, in Richtung des Notausgangs zum Hof hin. Auch er habe Schutz gesucht und sich in Sicherheit bringen wollen, und sei dann auf die Straße gelaufen. Da hätten bereits Menschen gelegen, die bluteten. Er habe sich so schnell wie möglich von diesem Ort entfernen wollen, seine weiße Hose sei voller Blut gewesen. Er habe einen Bekannten auf der anderen Straßenseite entdeckt und sei mit diesem in ein Café gegangen. Dort habe er sich die Glassplitter ausgewaschen; es sei ihm soweit gut gegangen, er habe jedoch starke Ohrenschmerzen gehabt. Dann sei der Krankenwagen gekommen und man habe ihm gesagt, dass er mitkommen müsse, da die Gefahr bestünde, dass er später Schmerzen bekomme. Er sei medizinisch versorgt worden. Seine Frau habe sich Sorgen gemacht und sich bei der Polizei erkundigt, in welchem Krankenhaus er liege.

Götzl fragt den Zeugen nach weiteren Verletzungen und [M] erläutert seine Verletzungen sowie die medizinische Behandlung. [M] spricht von langanhaltenden Beschwerden im Ohr und einem Hörverlust bis zum heutigen Tage. Außerdem beschreibt [M] psychische Folgen des Anschlags, die teilweise bis heute anhielten, sowie die ökonomischen und sozialen Auswirkungen auf das Zusammen- und Geschäftsleben in der Keupstraße. Er schildert, wie er 1990 nach Deutschland gekommen und mittlerweile deutscher Staatsbürger sei. Er habe nie Probleme gehabt im Zusammenleben. Dieses Zusammenleben dürfe nicht durch solche Attentate erschwert werden, so [M].

NK-Vertreter Elberling fragt den Zeugen, wann er von der Polizei vernommen worden sei. „Drei Wochen später.“, so [M]. Elberling möchte wissen, ob er gegenüber der Polizei über ein mögliches Motiv für die Tat geredet habe. Vorhalt aus der Vernehmung: Man sagt das wären die Türsteher, aber das glaube ich nicht. Ich denke, das hat einen rechtsradikalen Hintergrund, man will das Zusammenleben mit den Türken dort stören. [M] bestätigt, das gesagt zu haben. Vorhalt: Ich habe meinen Laden 1998 aufgemacht, und zu diesem Zeitpunkt sind sieben Jahre vergangen, ich habe da solche Sachen nicht erlebt. Da gibt es unter den Geschäftsleuten Türken und Kurden, aber die lebten da friedlich, wir haben keinerlei Probleme gehabt. Ich sagte von vornherein, es kann keiner von unserer Straße gewesen sein, denn es kann ja jeden betreffen. [M] bestätigt das. Götzl fragt nach der genauen Position des Zeugen, sechs bis sieben Meter entfernt vom Eingang. [M] antwortet, er habe sich im rechten Bereich aus Sicht des Eingangs befunden. Der Zeuge wird entlassen.

Als nächste Zeugin erscheint [N] mit ihrem Rechtsbeistand NK-Vertreter RA Hoffmann. Dieser reicht ein psychologisches Attest vom 19.01.2015 an Götzl. Da die Vernehmung bereits auf türkisch geführt worden sei, fragt Götzl [N], ob es einen Dolmetscher brauchen würde, was [N] bejaht. [Wir geben hier die Angaben von [N] wieder, wie sie vom Dolmetscher aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt wurden.] [N] sagt, sie wohne in der Straße seit zehn oder elf Jahren, also auch schon zum Zeitpunkt des Nagelbombenanschlags. Sie könne sich klar an den Tag erinnern, es sei ein heißer Tag gewesen. Sie sei mit ihrem älteren Sohn im Wohnzimmer gewesen, sie sei im siebeneinhalbten oder achten Monat schwanger und sehr müde gewesen aufgrund des heißen Wetters. Sie habe sich somit auf die Couch gelegt. Das Wohnzimmer befinde sich im hinteren Bereich der Wohnung, nicht nach vorne hin, wo die Bombe detonierte. Dann gab es einen großen Knall. Sie hätten im ersten Moment nicht verstehen können, was es für eine Explosion sei; zunächst hätten sie unter Schock gestanden und an eine Gasexplosion gedacht. In der Küche habe es einen Boiler gegeben und sie sei davon ausgegangen, dass dieser explodiert wäre.

Sie sei zum Fenster zur Straße hin gegangen, um nachzuschauen, was passiert war. Alle Jalousien waren kaputt und heruntergefallen und sie habe versucht, diese zu öffnen um herauszufinden, ob der Bereich draußen sicherer wäre als die Wohnung. Sie habe ein Fenster einen Spalt weit öffnen können. „Was ich sah, war fürchterlich. Ich kann das nicht vergessen, ich hab das immer noch vor meinen Augen. Die Menschen waren in Panik, aber niemand hatte in dem Moment an einen Bombe gedacht, wegen Gas. Verletzte, Blutüberströmte, und die Menschen liefen herum. Ich kann einen alten Mann nicht vergessen, er befindet sich immer vor meinen Augen, er war blutüberströmt.“ Sie habe sich dann entschieden, nach unten zu gehen und nicht zu Hause zu bleiben. Ihren Sohn habe sie mitgenommen, ihr Ehemann sei nicht zu Hause gewesen, sondern auf der Arbeit. Wie sie nach unten ging, sei der Vorfall schnell bekannt gewesen und alle hätten versucht einander zu helfen, da Polizei und Ambulanz waren noch nicht eingetroffen waren.

Die Menschen hätten zunächst an eine Gasexplosion gedacht und erfahren wollen, wo die Explosion statt gefunden habe. Als sie nach unten gekommen sei, seien im Laden unter ihrer Wohnung die Glasscheiben kaputt gewesen, jeder habe den anderen gefragt, was passiert sei. Eine Weile später sei auch ihr Ehemann gekommen. Erst später hätten sie in einer Küchentrasse die Nägel gesehen, dem jedoch keine Bedeutung zuordnen können. Sie schildert, wie alles noch viel schlimmer hätte ausgehen können, wenn sie oder ihreKind sich in der Nähe der Bombe befunden hätten oder die Bombe einen Tag zuvor detoniert wäre, als sie mit der ganzen Familie ihren Geburtstag gefeiert habe.

Später seien Ambulanzwagen gekommen und hätten die Verletzten behandelt; sie sei schließlich im achten Monat schwanger gewesen und zitterte am ganzen Körper. Sie habe dann in den Krankenwagen gesetzt und sei ins Krankenhaus gefahren, zwecks Kontrolle. Ihr Ehemann sei ihr gefolgt, sie sei untersucht worden und ihr Ehemann habe zurück zu seiner Arbeitsstelle gemusst, sei somit also nicht im Krankenhaus geblieben. In den Untersuchungen hätten sie zum Glück festgestellt, dass das Kind gesund war. Sie habe keine Geld dabei gehabt und sei dann zu Fuß nach Hause gegangen. Es sei eine entfernte Strecke gewesen und niemand habe sie begleitet. Niemand habe eine Vorstellung davon, was ihr und ihrem Baby angetan worden sei. Die Verantwortlichen, so [N], sollten in Rechenschaft gezogen werden.

Als sie nach Hause gekommen sei, wäre alles noch fürchterlicher gewesen, die Polizei sei noch da gewesen und habe Absicherungsmaßnahmen getroffen bis spät in die Nacht, so dass sie nicht hätten schlafen können. Sie hätten große Angst gehabt. Erst später hätten sie erfahren, dass es sich um eine Bombe gehandelt habe. Ein oder zwei Tage später sei die Polizei zu ihnen nach Hause gekommen und habe gefragt, ob sie etwas gesehen hätten. Obwohl heute zehn Jahre vergangen seien, würde man immer noch Risse am Haus sehen. Götzl fragt nach der Vernehmung der Zeugin am 18.01.2013 sowie der von ihrem Ehemann erstellten Skizze, die sich als Anlage zur Vernehmung finde. [N] sagt, ihr Mann sei nicht vernommen worden, sie seien jedoch gemeinsam dort gewesen. Später sei ihrem Mann eingefallen, dass er zwei Fahrräder gesehen habe. An dem Tag sei es ihm nicht aufgefallen, aber als sie zur Aussage gegangen sind, sei es ihm eingefallen. Er habe gedacht, dass es von Interesse sein könne, dass er zwei, drei Tage zuvor die angebundenen Fahrräder gesehen habe. Götzl bittet [N] um Erläuterung der Skizze und es folgt die Inaugenscheinnahme. [N] berichtet, wie sie die Aussage gemacht habe, hätten sich Polizisten danach die Stelle angeschaut, die ihr Mann in seiner Aussage 2013 erwähnte.

Götzl fragt weiter nach den Auswirkungen der Ereignisse für [N]. Sie schildert, wie zunächst niemand mit anderen über die Ereignisse geredet habe, da man schließlich nicht gewusst habe, worum es sich handele. Auch über die verbreiteten Ängste sei deswegen nicht viel geredet worden. Sie sei zunächst nicht davon ausgegangen, dass es sich um einen Angriff auf sie gehandelt habe. Sie spricht von ihrer Schwangerschaft und dass sie wenige Wochen später das Kind auf die Welt gebracht habe, mehrere Wochen vor dem berechneten Geburtstermin. Bis zu dem Tag des Anschlags sei ihr vom Arzt bestätigt worden, dass alles in Ordnung sei mit dem Kind, sie könne sich auch nicht erklären, warum das Kind dann so früh auf die Welt gekommen sei. Sie betont, Glück gehabt zu haben und dass viel schlimmere Sachen hätten passieren können. Wegen dem heißen Wetter seien die Menschen zu Hause geblieben, das sei ihr Schutz gewesen. Sie spricht von psychischen Folgen für sie bis zum heutigen Tage und betont wie wichtig es ihr sei, den Gerichtssaal betreten zu haben und die Aussage zu machen. Götzl stellt Fragen zur Schwangerschaft und der Geburt des Kindes, auf die [N] antwortet. Anschließend geht Götzl auf die psychischen Beschwerden von [N] in der Folge des Nagelbombenanschlags ein. [N] antwortet und beschreibt neben den direkt in Folge des Bombenanschlags auftretenden psychischen Beschwerden auch jene körperlichen und psychischen Folgen, die das Bekanntwerden der Mordserie des NSU im November 2011 gehabt habe sowie die ärztliche Behandlung in den Jahren darauf. Sie entbindet ihre Ärzte von der Schweigepflicht.

RA Hoffmann fragt, ob am Tag der Explosion in dem Zimmer zur Keupstraße hin, dem Kinderzimmer, die Fenster geöffnet gewesen seien. Das Fenster sei nicht ganz offen gewesen, so [N]. Hoffmann fragt, welche Reparaturarbeiten angesichts der runtergefallenen Jalousien notwendig gewesen seien. [N] sagt, dass sie nicht wiederherzustellen gewesen seien. Hoffmann fragt weiter nach den Rissen im Haus. [N] schildert, dass sie immer noch zu sehen seien, im Korridor, bei der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer. Hoffmann möchte wissen, ob nach der Explosion jemand auf sie zugekommen sei und ihr Ratschläge gegeben habe bezüglich einer medizinischen oder psychosozialen Beratung. [N] berichtet davon, dass die Polizei drei Tage später zu ihr gekommen sei und sie gefragt hätte, von wo aus sie den Vorfall beobachtet und was sie mitbekommen habe. Sie hätten sich die Rolläden angeschaut und sie gefragt, ob sie bezüglich der Vorfälle jemanden gesehen habe. Der Sachverständige Dr. Saß möchte wissen, ob es sich um das erste Obergeschoss handele und ob sie von Schäden im zweiten oder dritten Obergeschoss wisse. [N] sagt, dass sie nichts über die anderen Geschosse, lediglich von Schäden im Ergeschoss am dort befindlichen Laden wisse. Die Zeugin wird entlassen.

Anschließend wird Dr. Joachim He. als sachverständiger Zeuge zur Schwangerschaft der Zeugin [N] angehört. Er gibt Auskunft über den Verlauf der Schwangerschaft und von ihm vorgenommene Untersuchungen und Befunde. Er schildert weiterhin die Geburt des Kindes. [N] sei dann mehrere Jahre nicht mehr bei ihm gewesen, erst im Juni 2013 wegen einer nicht damit im Zusammenhang stehenden Untersuchung. Dort habe sie mit ihm auch über den Bombenanschlag gesprochen, der Staatsanwalt sei zu diesem Zeitpunkt bereits auf ihn zugekommen. Er bestätigt auf Nachfrage die Angaben von [N] zu ihren körperlichen und psychischen Belastungen in Folge des Anschlags. Der Zeuge wird anschließend entlassen.

Anschließend wird Dr. Ahmet Be. als sachverständiger Zeuge gehört. Auch er berichtet über die psychotherapeutische Behandlung der Zeugin [N]. Sie sei von einem Kollegen zu ihm überwiesen worden. Er habe sie drei Mal gesehen: es habe zwei kürzere Gespräche von zehn Minuten und ein längeres Gespräch von etwa 40 Minuten gegeben, jeweils im Mai, Juni und Juli 2012. Danach habe sie den behandelnden Arzt gewechselt, so dass es zum Erstellen eines Therapieplans nicht gekommen sei. Dr. Be. gibt den Inhalt der drei stattgefundenen Gespräche wieder und beschreibt die Beschwerden von [N]. Er geht dabei auf biografische Details aus dem Leben seiner Patientin und die Geschichte des Krankheitsverlaufs ein. Der Zeuge wird um 12:06 Uhr entlassen. RA Heer kündigt an, sich eine Erklärung nach §257 vorzubehalten. Es folgt die Mittagspause.

Nach der Mittagspause erscheint Zeuge [O] gemeinsam mit seinem Rechtsbeistand NK-Vertreter RA Alkan. [O] berichtet davon, dass er in einem Ladenlokal gegenüber des Friseursalons, vor dem die Bombe explodierte, als Angestellter gearbeitet habe. Am Tag sei er in seinem Laden gewesen und habe mit Blick in Richtung des Friseur gestanden. Er habe gerade einen Kunden da gehabt und mit diesem gesprochen. Die Explosion, die er dann gesehen habe, sei kreisrund gewesen, innen gelb und rot. Er habe eine enorme Druckwelle in seinem Geschäft gespürt und sie hätten sich alle auf den Boden geworfen, überall sei sehr viel Staub und Dreck gewesen, ein bestialischer Gestank wie Schiesspulver sei nach der Druckwelle aufgetaucht, habe sich dann aber wie ein Sog wieder zurück gezogen.

Die Schaufenster und Fensterscheiben auch im hinteren Teil des Ladengeschäfts seien zerstört gewesen. Er sei dann aufgestanden und habe gesehen, dass der Laden total zerstört gewesen sei, alle Vitrinen, alles an Glas war zerstört. Er sei zunächst erstmal raus gegangen, alles sei voller Dreck gewesen, er habe nur Staub gesehen. Wie er dann mit der Polizei gesprochen habe, habe diese zu ihm gemeint, dass alles in Ordnung sei und sie Bescheid wüssten. [O] sei dann zurück in den Laden und habe die Nägel gesehen. Im Laden gegenüber habe er gesehen, dass alles zerfetzt gewesen sei, alles total zerstört. Das Auto vor der Tür habe einen Totalschaden gehabt. Da sei er dann sofort in das Friseurgeschäft gerannt, weil dort seine Freunde gearbeitet hätten. Er habe dann zunächst einen Freund rausgeholt, in seinen eigenen Laden gebracht und ihm das Gesicht gewaschen. Dann sei er erneut rüber, habe eine andere Person aus dem Laden raus und in seinen Laden geholt. Dann habe da noch jemand gelegen, der habe gebrannt und sei bewusstlos gewesen. [O] habe versucht, die Person mit seiner Jacke zu sich zu holen.

Gefühlt seien bestimmt zwanzig Minuten vergangen, bis Feuerwehr, Einsatzfahrzeuge und Polizei dagewesen seien. Alle hätten sich untereinander geholfen. Die Feuerwehr sei, wenn man von der Keupstraße rüberfährt, vielleicht zwei Minuten entfernt, das habe sehr lang gedauert. Nachdem die Verletzten weg gebracht gewesen wären, habe die Polizei die Strasse abgesperrt und [O] habe dann vielleicht noch mal drei Stunden warten müssen, bis die Polizei einen Karton voller Nägel aus seinem Geschäft rausgeholt habe, er gehe davon aus, dass dies die Spurensicherung gewesen sei. Als er hinter sich an die Wand geblickt habe, seien überall wo er nicht gestanden habe, Nägel in der Wand gewesen. Selbst durch den Türgriff, durch einen Metallgriff, sei ein Nagel durchgeflogen. Sehr vieles habe das Auto vor der Tür aufgefangen. Erst da habe er das ganze Ausmaß begriffen.

Erst ein paar Tage später habe die Polizei ihn vernommen, so [O]. Er sei wirklich enttäuscht gewesen davon. Es sei von Anfang an darauf hingewirkt worden, in Richtung türkischer Mafia oder Türsteherszene zu ermitteln. Man habe ihn gefragt, was für Leute in den Friseur gehen würden. Und er habe gesagt, da gehen dieselben Leute rein, die auch bei ihm in den Laden kämen oder ins Restaurant. Da seien auch Türsteher dabei, aber, so habe er es dem Polizisten gesagt. „Sie kennen uns doch seit 40 Jahren, sie wissen doch ganz genau, dass wenn wir ein Problem hätten, wir das unter uns regeln, Mann gegen Mann, wir würden keine Bombe deponieren lassen.“, so [O]. Er habe selbst keinen Laden gehabt. Die Inhaber hätten große Angst gehabt, verfolgt zu werden, wenn sie was sagten. Durch die Behandlungsmethoden der Polizei sei das geschürt worden, denn es habe so ausgesehen, als ob man ihnen was in die Schuhe schieben wollte.

Götzl fragt, ob [O] verletzt worden ist. Zum Glück nicht, so [O]. Er habe zunächst einen Druck auf den Ohren gehabt, wegen der Explosion. Das sei nach etwa 15 Minuten jedoch wieder ok gewesen. Götzl fragt, wie viele Personen sich im Geschäft befunden hätten, ob [O] Kunden gehabt habe. Zum Zeitpunkt der Explosion seien sie zu zweit im Geschäft gewesen, so [O]. Götzl fragt, ob [O] auf dem Weg zum Laden oder auch zuvor auf dem Weg zum anderen Laden etwas aufgefallen sei. Er habe sich sehr beeilt und auf nichts geachtet, so [O]. Normalerweise würden sie da häufiger stehen, mit den Freunden aus dem Friseur. Zu dem Zeitpunkt hätten sie alle zu tun gehabt, deswegen sei ihnen nichts aufgefallen. Vorhalt aus der Vernehmung vom 05.07.2004: „Welche Leute verkehren im Frisörsalon” – “Querbeet, Frauen Männer die hier überall verkehren, Türsteher auch, aber auch schmächtige Leute” – “haben Sie was von Problemen gehört, die der Frisör hatte” – “Nein, das ist ein guter Bekannter von mir, von einem Streit habe ich nichts gehört.“ [O] sagt, das stimme jetzt immer noch, das sei ein sehr guter Mensch. er habe noch nie gehört, dass die zwei Brüder mit irgendjemandem Streit gehabt hätten. Götzl fragt, ob bei [O] nach dem 09.06. noch Beschwerden aufgetreten sind. [O] verneint das, es seien keine Beschwerden aufgetreten. Natürlich denke er noch oft daran und habe sehr viel geredet zum Beispiel mit [L] (176. Verhandlungstag).

Nebenklagevertreter RA Schön fragt, ob [O] wisse, was aus dem Freund geworden sei, den er aus dem Laden getragen habe. [O] berichte von psychischen Problemen des Freundes, dieser sei Alkoholiker geworden und habe sich dann in seinem Laden erhangen. RA Schön fragt, ob das nach dem Anschlag gewesen sei. [O] bejaht das, man könne schon sagen, dass das auch ein bisschen mit dem Anschlag zu tun gehabt habe. Schön fragt, ob das im Mai 2012 gewesen sei, ob er mehr dazu wisse. [O] sagt das könne sein. Schön bestätigt das, es sei vor zwei, drei Jahren gewesen und er selbst, Schön, habe ihn vertreten. Der Sachverständige Saß beruft sich auf die Schilderungen von [O] bzgl. der Nägel in der Wand und fragt, ob es sich um eine Holzwand gehandelt habe. [O] bejaht das. Saß fragt nach der Anzahl der Nägel, möchte eine ungefähre Anzahl wissen. [O] spricht von fünf bis zehn Nägeln. Der Zeuge wird entlassen.

Als nächste erscheint die Zeugin [P] mit RA Reinecke. Sie arbeitet als Bürokauffrau in einem Laden an der Keupstraße. [P] sagt, es sei ein wunderschöner Tag gewesen, mit Sonnenschein, und es sei eigentlich ein Wunder, dass nicht noch mehr Menschen verletzt worden seien, weil bei dem Wetter ja viele draußen wären. Sie war in ihrem Büro in der Keupstraße, ihr Schreibtisch habe direkt am Fenster gestanden. Sie habe zwei Schüler dagehabt, die beschäftigt gewesen seien. Der Knall sei sehr laut gewesen, ihr Gedanke sei direkt eine Bombe gewesen, sie wisse auch nicht warum. Sie habe zur Scheibe geschaut, und habe nichts sehen können, wie Saharasand sei das gewesen, die Scheibe dicht davon. Ihr sei klar gewesen, dass die Scheibe sofort implodieren würde. Da habe sie sich auf ihrem Schreibtischdrehstuhl umgedreht. Auf dem linken Ohr sei sie noch einige Zeit relativ taub gewesen, die Bombe sei ja zwei Häuser neben ihr explodiert. Sie habe sich dann aus der Gefahrenzone wegbewegt zu den Schülern. Die Schüler, einer von ihnen hätte wohl Erfahrungen mit Bomben gehabt, habe sie aufgefordert dort wegzugehen. Sie seien dann in den hinteren Teil des Ladens. Sie sei dann noch mal nach vorne um einen Notruf abzusetzen.

Sie habe mit all dem nichts zu tun haben wollen. Erst als die Einladung der Kanzlerin nach Berlin gekommen sei und jetzt die Vorladung sei das alles hoch gekommen. Sie möchte sich nicht als Opfer betiteln, auch wenn sie zu einem wurde. Sie habe das jetzt erst gemerkt, wo sie die Vorladung bekommen hab. Dass sie das Ganze nicht verarbeitet, sondern nur verdrängt habe. Im Krankenhaus habe man ihr Tabletten gegeben und sie gebeten, sich erneut zu melden, sollte die Taubheit länger anhalten. Sie sei dann bei den Schülern gewesen und nicht zum Geschäft, sondern zur Haustür raus. Draußen wäre sie dann betreut worden, man hätte sie sich hinlegen und die Beine hochlegen lassen; ihre Schwester und andere seien da gewesen. Am Abend habe sie noch mal in die Straße reingewollt, sie habe verhindern wollen, dort nicht mehr arbeiten zu können. Zwei Monate später habe sie dann wieder zum Arbeiten in die Keupstraße gekonnt.

Götzl fragt, ob die Schüler Verletzungen davon getragen hätten. [P] verneint das, die Schüler hätten weit hinten gesessen. Götzl fragt nach der Sitzposition von [P]. Links vor ihr sei die Scheibe gewesen, so [P]. Ihre Blickrichtung sei dann die Richtung Schanzenstraße gewesen, von wo die Täter ja wohl auch gekommen seien. Götzl fragt nach psychischen Beschwerden und medikamentöser Behandlung im Vorfeld der Aussage vor Gericht und [P] schildert den Verlauf. Götzl fragt weiter nach der Behandlung von [P] bezüglich der Verletzungen am Ohr und [P] beschreibt die medizinische Versorgung im Krankenhaus und danach. Der Sachverständige Dr. Peschel fragt, ob ein Audiogramm gemacht worden wäre, was [P] verneint. Die Zeugin wird entlassen.

Anschließend erscheint der Zeuge [Q] mit seinem Rechtsbeistand NK-Vertreter RA Erdal und einem Dolmetscher. [Wir geben hier die Angaben von [Q] wieder, wie sie vom Dolmetscher aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt wurden.] Der Zeuge ist nach eigener Aussage sehr aufgeregt und beginnt mit seiner Aussage noch vor Ablauf der Rechtsbelehrung. Götzl beruhigt ihn und bitte ihn zunächst von sich aus von den Ereignissen in der Keupstraße am 09.06.2004 zu erzählen, auch was seinen Bruder betrifft. Er könne sich hierfür Zeit lassen. Er sei als Tourist in Deutschland gewesen, so [Q], und komme aus der Türkei, wo der Terrorismus am meisten herrsche. Das sei sein Schicksal, es habe ihn getroffen, er sei jedoch nicht verärgert über den deutschen Staat. [Q] liebe auch Deutschland, wie er sagt, Deutschland sei sein zweites Land, obwohl er in London an der Universität sei. RA Heer wendet sich an Götzl: „Herr Vorsitzender, die haben das Beweisthema genannt.“ Götzl sagt, dass er [Q] die Gelegenheit geben wolle, sich auszuführen. [Q] sagt, er versuche seine Aufregung zu bändigen. Heer sagt, er beantrage, dass Götzl den Zeugen anhalte, zum Gegenstand zu bekunden. Er, der Zeuge, werde noch dazu kommen, so Götzl.

[Q] sagt, er komme von Zeit zu Zeit nach Deutschland und besuche seinen Bruder. Wenn es die Gelegenheit gebe, würden sie gemeinsam Reisen unternehmen. Er habe mit seinem Bruder viele Ortschaften in Deutschland bereist. Zum Zeitpunkt des Anschlags in der Keupstraße habe er sich mit seinem Bruder aus Berlin auf Reisen begeben. Sie seien in Köln gewesen, wo sie die Kathedrale besichtigten. Es sei zur Mittagszeit gewesen und sie hätten großen Hunger gehabt, so sei er mit seinem Bruder in die Keupstraße gekommen. Sein Bruder habe sich mit einem Türken unterhalten, danach seien sie zum Auto des Bruders. In der Zwischenzeit habe die Polizei seinem Bruder einen Strafzettel verpasst, da habe dieser geschimpft. Sein Bruder habe dann versucht, den Kofferraum zu öffnen, so [Q].

[Q] habe einen halben Meter entfernt von ihm an der Straße gestanden, mit dem Rücken zu dem Laden, wo der Vorfall passiert sei. Als sein Bruder in seine Richtung geschaut habe, sei die Bombe explodiert. Aufgrund seiner Offiziersausbildung habe [Q] seinem Bruder den Befehl erteilt, sich hinzuwerfen – und sie hätten sich auf den Boden geworfen. Nägel seien über sie geflogen, in die Scheibe des Autos eingeschlagen, auch in den Kofferraum. Sein Bruder solle sich verletzt haben, sie hätten das aber nicht gemerkt. Es sei so zwischen weiß und gelb gewesen, später sei es schwarz geworden. [Q] habe sofort gewusst, dass es sich um eine Bombe handele, und habe die anderen dazu aufgefordert, zu laufen, zu rennen. Drinnen hätten sie viele Verletzte gesehen, er habe gemerkt, dass sie in diesem Zustand keine erste Hilfe leisten könnten und so seien sie rausgegangen. Ein paar Meter weiter habe es eine Stelle gegeben, wo er in Sicherheit habe telefonieren können, und er habe seine Frau angerufen.

Dann seien sie wieder zurück. Aufgrund seiner Verletzungen sei sein Bruder mit dem Hubschrauber mitgenommen worden. [Q] sei von der Polizei befragt worden, während er gewartet habe. Die Polizei hätte gefragt, ob ihm etwas, ob ihm Türken aufgefallen seien. Es wären Fragen gewesen, die dahin gedeutet hätten, dass so etwas nur von Türken gemacht worden sein könne. Er habe überhaupt nicht damit gerechnet, mit so einer Frage konfrontiert zu werden. Später sei auch sein Bruder vernommen worden. Am Abend seien sie zu einer anderen Polizeiwache gegangen, dort seien sie noch einmal vernommen worden. Man habe ihnen dann erlaubt, nach Berlin zu fahren. Mit der Hilfe der Polizei wurde die Heckscheibe gedeckt und so seien sie dann gefahren. In Berlin hätten zwei Polizeibeamte zuhause auf sie gewartet, einer von ihnen habe Englisch gesprochen, [Q] habe seine Aussage dann in englischer Sprache gemacht. Sie hätten gefragt, ob er eine Weile in Deutschland sei. Er habe dem zugestimmt. Danach hätten sie ihm gesagt, sie würden ihn zur Gerichtsverhandlung laden können, und er habe versprochen zu kommen.

Götzl fragt, wo die Verletzung seines Bruders gewesen sei. [Q] antwortet: „Am Arm.“ Götzl fragt, ob [Q] wisse, wie die Verletzung versorgt worden sei und [Q] beschreibt die Behandlung im Krankenhaus. Götzl fragt, ob [Q] selbst verletzt worden sei. [Q] verneint das. Götzl fragt nach der Position von [Q] und der genauen Position des Fahrzeugs. Es seien zehn, maximum fünfzehn Meter von der Detonationsstelle gewesen, so [Q]. Götzl fragt, ob eher links oder rechts. [Q] sagt, sein Blick sei in Richtung des Autos gerichtet gewesen. Und in Richtung seines Bruders, wie er auf Nachfrage Götzls bejaht. Der Zeuge wird entlassen.

Als nächster Zeuge erscheint [R] in Begleitung seines Rechtsbeistands NK-Vertreter RA Kaplan sowie eines Dolmetschers. Noch bevor die Belehrung stattfindet, beantragt RA Heer eine Pause. Götzl regt an, noch den nächsten Zeugen zu vernehmen. Dies dauere sicher nicht lang und man könne danach eine Pause einlegen – schließlich verhandele man ja gerade erst eine Stunde. Heer verweist darauf, schon mehrfach aktenkundig darauf hingewiesen zu haben, dass die Verhandlungsfähigkeit seiner Mandantin aufrecht zu erhalten sei. Götzl wendet sich an Zschäpe, ob diese eine Pause benötige – sie könne auch einfach nicken. RA Heer antwortet im Namen seiner Mandantin mit Ja und es wird eine zehnminütige Pause eingelegt.

Danach bitte Götzl [R], zunächst von sich aus über die Ereignisse in der Keupstraße am 09.06.2004 zu berichten, was er erlebt habe. [Wir geben hier die Angaben von [R] wieder, wie sie vom Dolmetscher aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt wurden.] Am Tag des Anschlags, so [R], habe er in seinem Laden gearbeitet. Kurz zuvor habe er einen Kunden gehabt. Nachdem dieser den Laden verlassen habe, sei auch er, [R] aus dem Laden raus auf die Straße gegangen. Auf der gegenüberliegenden Seite seien [F] (176. Verhandlungstag) und ein anderer Gewerbetreibender aus der Keupstraße gewesen. Sie hätten ihn zu sich gerufen, auf die andere Straßenseite. Er habe ihnen geantwortet, sie sollten doch auf seine Seite kommen. Später sei er auf ihre Straßenseite gewechselt und die beiden auf seine. In dem Moment sei die Bombe explodiert. Er habe sich gleich auf den Boden geworfen, Nägel seien über seinen Körper geflogen, Fensterscheiben seien zu Bruch gegangen. Die Scheiben von dem Wagen vor ihm seien zu Bruch gegangen. Als er aufgestanden sei, habe er sich umgeschaut und sei schnell zum Friseurladen gelaufen, um dort zu helfen. Fünf Minuten später sei die Polizei zusammen mit Ambulanzwagen gekommen und hätte die Straße versperrt. Er habe seinen Laden geschlossen und seine Familie mitgenommen – seine Mutter habe über dem Laden gewohnt. Sie seien dann – aus Angst, dass eine zweite Bombe detonieren könnte – zu ihm nach Hause gefahren.

Auf Nachfrage Götzls nennt [R] die Hausnummern des Geschäfts sowie der Konditorei, in welche sich [R] begeben hatte. Götzl fragt nach, ob [R] in dem Moment, wo die Explosion statt gefunden habe, sich bei der Konditorei befunden habe. [R] bejaht das, die Konditorei befinde sich in direkter Nähe zu seinem eigenen Laden. Götzl fragt, ob er es richtig verstanden habe, dass [R] keine Verletzungen davon getragen habe. [R] bejaht das. Götzl fragt nach Beschwerden nach dem 09. Juni 2004. [R] sagt, er selbst habe keine Beschwerden gehabt. Bundesanwältin Greger fragt nach Schäden am Laden von [R]. Dieser verneint das, nur am Eingang des Hauses an der Decke habe es etwas gegeben, dies hätte die Versicherung übernommen. Der Sachverständige fragt, welches Auto hinter ihm gestanden habe und um welche Scheibe es sich bei der zerborsteten Scheibe gehandelt habe. Das Auto habe nicht hinter ihm, sondern vor ihm gestanden, so [R]. Und es sei die Heckscheibe gewesen. Der Zeuge wird entlassen.

Als letzter Zeuge an diesem Tag sagt der Sachverständige Dr. Ibisch (BKA Wiesbaden) aus. Götzl bittet ihn, von den am 27. und 28.03.2013 durchgeführten Sprengversuchen zu berichten und die Ergebnisse vorzustellen. Ibisch sagt, das kriminaltechnische Institut des LKA Bayern sei an sie rangetreten, weil der Sachverständige Dr. Mölle schriftlich beauftragt worden sei, gutachterlich Stellung zu nehmen. Und zu diesem Zweck, so Ibisch, habe Dr. Mölle sie beauftragt, Sprengversuche durchzuführen, die für seine Gutachtenerstellung notwenig seien. Da sei es um die Splitterwirkung der Sprengvorrichtung und um die Druckwirkung gegangen. Das seien die beiden für Menschen gefährlichen Wirkungen.

Aus den Unterlagen der bisherigen Untersuchung gingen sie davon aus, dass eine entleerte Campinggasflasche 907 verwendet worden sei. Sie hätten eine Öffnung eingebracht um den Explosivstoff einzufüllen, jeweils 5,4-5,5 Jagdschwarzpulver Nummer 1, das sei mit einer Brennbrücke und Schwarzpulverladung elektrisch gezündet worden. Um diese Gasflasche seien Nägel angeordnet gewesen, etwa 800, rund um die Sprengvorrichtung. Ibisch bietet an, dies anhand von Bildmaterial zu demonstrieren und Götzl willigt ein. Anhand des ersten Fotos erläutert Ibisch den Aufbau der Sprengvorrichtung: Insgesamt hätten sie drei Splitterversuche und drei Druckversuche durchgeführt, immer mit einer Menge von 5,5kg Schwarzpulver und 800 Nägeln. Die Vorrichtung platze auf, die Splitter würden beschleunigt und hätten dann eine bestimmte kinetische Energie. Im militärischen Sprachgebrauch, so Ibisch, kenne man sog. „wirksamen Splitter“. Ab einer kinetischen Energie von 79 Joule sei ein Splitter in der Lage, einen Menschen zu töten, wenn dieser im Kopfbereich oder im Bereich des Oberkörpers auftreffe. Sie hätten sich eines sog. Splittergartens bedient. Man nehme 1,5mm starkes Stahlblech um die Sprengstelle. Wenn ein Splitter von etwa 1cm Kantenlänge da durchschlage, dann habe er eine kinetische Energie größer als 79 Joule.

Dies sehe im Schema dann so aus, dass man in Halbkreisen die Tafel aufbaue und dann die Vorrichtung zur Explosion bringe, erläutert Ibisch Ibisch legt ein Foto der Explosion auf und erläutert, dass man dort sehe, wie sich die Splittertafeln entsprechend verformen würden. Als Ergebnis könne man dann entsprechende Durchschläge auf den Tafeln erkennen und habe also Nachweise für wirksame Splitter mit einer Energie größer 79 Joule. Ibisch fässt die Ergebnisse zusammen: In einem Abstand von mindestens 5m habe man mit tödlichen Verletzungen aufgrund der Splitterenergie rechnen müssen.

Es habe auch Durchschläge gegeben, nicht nur von den Nägeln sondern teilweise auch größerer Art von Teilen der Vorrichtung. Es seien in den Splitteruntersuchungen also wirksame Splitter in fünf und drei Metern Entfernung nachgewiesen worden. Das Gros der Gasfflaschenteile sei im Bereich bis zu 5m im Splittergarten zu finden gewesen. Der Bereich sei noch weiträumig abgesucht worden und es hätten sich noch Splitter gefunden in 17m bzw. Nägel in 55m Entfernung. Diese Splitter, da sei abgeschätzt worden, wie groß die Minimalenergie gewesen sein müsse, um soweit dahin fliegen zu können. Das heißt aber nicht dass es keine Splitter darüber hinaus gegeben habe. Auf dem Gelände eines Truppenübungsplatz könne man auch nicht alles suchen und finden.

Dann geht Ibisch auf die Versuche zur Druckmessung ein. Bei diesen stelle sich die Frage, welche Gefährdungen aufgrund des Explosionsluftdruckes bestehen würden. Der Mensch könne nur einen gewissen Druckanstieg in einer bestimmten Zeit aushalten. Bei 3,5bar liege der Schwellenwert für Trommelfellverletzungen, bei Lungenverletzungen liege der Wert bei 2,5bar. Bei 3,5bar habe man es mit 50% Lungenverletzungen zu tun. Wenn diese nicht rechtzeitig erkannt würde, seien sie tödlich. Um eine unbekannte Vorrichtung zu charakterisieren, so Ibisch, könne man sie als eine Möglichkeit mit der Wirkung eines bekannten Sprengstoffs, in diesem Fall TNT, vergleichen. Ibisch zeigt auf einem weiteren Foto den Aufbau der Vorrichtung. Sie hätten diese aufgebaut und in unterschiedlichen Abständen vom Sprengzentrum, 3m und 5m, Drucksonden angebracht, welche die Druckwelle registrierten. Zum Ergebnis sagt Ibisch, es seien Druckwerte bis zu 2,3 Bar gemessen. Wo in 3m Entfernung 2,3bar gemessen worden seien, wäre bei 2,8m der Schwellenwert für Lungenverletzungen überschritten. Im Ergebnis bestehe im Abstand bis zu 5m die Wahrscheinlichkeit tödlicher Verletzungen durch wirksame Splitter und der Schwellenwert für Lungenverletzungen sei bei einem Abstand von weniger als 2,8m erreicht. Es komme allerdings bei den Splittern auch auf die Masse an. Schwere Splitter mit einer Masse von 100g könnten beispielsweise tödliche Verletzungen schon bei einer kinetischen Energie von weniger als 79 Joule verursachen. Götzl sagt, man schaue sich die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen noch gemeinsam an. Ibisch erläutert die Filme.

Bundesanwältin Greger fragt den Zeugen, ob es einen Unterschied mache in Bezug auf die wirksamen Splitter, wenn die Vorrichtung neben einer Glasscheibe aufbewahrt werde. Ibisch verneint das; die Splitter würden nicht wesentlich abgebremst. Es komme allerdings die Verletzungsmöglichkeit durch die Glasscherben hinzu. Greger fragt, ob Glas hier eine andere Wirkung habe als Metall, auch in Bezug auf die 79 Joule. Dies bejaht Ibisch, Glassplitter würden nicht so groß werden, die hätten eine weniger große Wirkung. NK-Vertreter RA Kaiser fragt den Zeugen, wer ihm die Vorgaben für die Versuchsordnung gegeben habe. Diese sei in Absprache mit Dr. Mölle gemacht worden, so Ibisch Kaiser stellt fest, auf dem Bild seien die Nägel wohl mit Klebeband befestigt gewesen. Dies bestätigt Ibisch, sie hätten die Nägel um die Glasflasche anordnen müssen, mit Klebeband. Kaiser fragt, ob es etwas am Ergebnis geändert hätte, wenn die Nägel um die Glasflasche mit Watte gewickelt gewesen wären und der Sprengkörper mit Watte im Koffer gelegen hätte. Es käme auf den Abstand der Nägel zum Sprengkörper an, so Ibisch Das Schwarzpulver bringe die Vorrichtung zum Platzen und die Splitter würden beschleunigt durch die Schwaden. Wenn die Nägel einen größeren Abstand hätten, wäre die Energie geringer. Kaiser fragt, ob das Material Watte eine dämpfende Wirkung habe. Ibisch antwortet, das habe keine große Bedeutung. Wenn die Nägel nah am Sprengkörper liegen würden, sollte dies keinen Unterschied machen.

NK-Vertreter RA Kuhn fragt, er habe den Zeugen so verstanden, dass einige Splitter eine Geschwindigkeit von 188-215 Joule aufgewiesen hätten und eine Energie von 194-215 Joule. Ibisch bejaht das. Kuhn fragt, ob diese Splitter in einer größeren Entfernung als der getesteten sog. wirksame Splitter gewesen wären. Dies bejaht Ibisch Die Energie nehme durch die Luftreibung ab, aber die Splitter wären ja weiter als 5m geflogen und hätten auch in einer weiteren Entfernung noch genug Energie gehabt. Dr. Mölle habe dazu weiterführende Untersuchungen gemacht. Ibisch bestätigt auf Nachfrage Kuhns, dass sich die Angabe von 55m nur auf die Nägel beziehe.

Nebenklagevertreter RA Matt fragt den Zeugen, welche Auswirkungen Luftdruck und äußere Einflüsse hätten. Ibisch antwortet, dass es keine wesentlichen, messbaren Einwirkungen gebe. Matt fragt, ob sich die Tödlichkeit der 79 Joule auf die Trefferfläche, z.B. Schädel oder Weichteile, beziehe. Ibisch sagt, die Energie müsse er haben, um tödliche Verletzungen hervorzurufen. Er frage da noch einen Mediziner, so Matt. Matt fragt weiter, ob man für jeden Splitter, den man fände eine Abschätzung machen könne, mit welcher Mindestenergie er ausgestattet sein müsse. Ibisch erklärt, man könne Abschätzungen machen. Ein Splitter sei ja unregelmäßig geformt und rotiere unregelmäßig. Das könne man vergleichen mit der Querschnittsfläche einer Kugel und darüber Simulationsrechnungen machen um zu sagen, welche Mindestgeschwindigkeit und -Energie der Splitter gehabt haben muss, um so weit zu fliegen. Und ausrechnen, wo etwa die kritische Energie von 79 Joule unterschritten werde.

Nebenklagevertreter RA Elberling fragt, wie sich die Tatsache auswirke, dass man Nägel habe, die zum Teil auch quer treffen. Ein Nagel, der nicht durchschlage, so Ibisch, habe die Energie nicht. Egal ob Seite oder Spitze auftreffe, fragt Elberling. Ibisch bejaht. Ra Elberling: „und ist das so zu verstehen, dass ein Splitter, der weniger Energie hat, auf keinen Fall tödiche Wirkung hat?“ Ibisch erklärt, man gehe ab 79 Joule von einer tödlichen Wirkung aus, es seien jedoch auch darunter tödliche Wirkungen möglich, das sei ein Thema der Rechtsmediziner. RA Elberling fragt, ob man, wenn man wisse, dass ein Splitter im Abstand von fünf Meter eine bekannte Energie habe, berechnen könne, welche Energie der habe wenn er weiterfliege, zum Beispiel acht Meter. Das könne man machen, so Ibisch, er habe es jedoch selbst nicht gemacht.

RA Kaiser fragt, ob er es richtig verstanden habe, dass die Ergebnisse ob der Sprengkörper steht oder liegt signifikant anders gewesen seien. Ibisch bestätigt dies für die Druckmessungen nicht, wohl aber für die Splitterversuche. Da sei die Wirkung liegend deutlich geringer als bei stehender Anordnung, so Ibisch Der Mantel sei ja mit den Nägeln umhüllt und wenn die Vorrichtung liege, gingen viele nach oben – wenn die Vorrichtung stehe, gingen die seitlich. Nebenklagevertreter RA Reinicke fragt, ob Ibisch allgemein zugängliche Veröffentlichungen bekannt seien, bis zu welchem Bereich solche Bomben tödlich wirkten. Diese seien ihm nicht bekannt, so Ibisch Reinicke fragt, ob auch Ibisch die Versuche erst durchführen musste und er in keine Tabellenwerke habe schauen können. Bei nicht-bekannten Sprengstoffen, so Ibisch, habe man keine Tabellen, jede Vorrichtung sei im Grunde einzigartig. Es komme auf die Umhüllung an, die Stärkung. Also könne der Täter das nicht abschätzen, fragt Reinecke. Götzl interveniert, dies sei eine Sachverständigenfrage.

Der Sachverständige Dr. Peschel fragt den Zeugen, ob, wenn man sehr nahe an einer Glascheibe sei, diese durch die Splitter- oder die Druckwirkung breche. Im Nahbereich, bei 1-2m, seien die Splitter schneller als die Druckwelle, würden die Scheibe zerstören und die Druckwelle würde danach kommen. Bei größeren Entfernungen werde die Druckwelle die Splitter einholen. Im Nachbereich komme es zu einem gewissen Wettrennen. Der Sachverständige fragt, ob man das genauer eingrenzen könne. Ibisch antwortet, das seien Erfahrungswerte und gehe mit diesen Selbstlaboraten nicht bzw. sei sehr sehr schwer.

Nebenklagevertreter RA Hoffmann fragt, ob der Grundsatz, dass ein Splitter eine Energie von mehr als 79 Joule hat, um als tödlicher Treffer zu gelten, für alle Menschen, Erwachsene und Kinder gleichsam gelte. Ibisch sagt, dieses Kriterium sei aus den Erfahrungen im militärischen Bereich entstanden. Hoffmann fragt den Zeugen, ob er wisse, wie man zu der Aussage komme und ob er sagen würde, das gelte für einen erwachsenen Mann genauso wie für ein Baby. Das sei ein Durchschnittswert, den man sich erarbeitet habe, so Ibisch Es werde sicherlich so sein, dass ein Baby bei weniger Energie tödliche Verletzungen erhalten könne als ein Zweizentnermann. Es komme sicher auf die individuellen Verhältnisse an. Auf Nachfrag Hoffmanns sagt Ibisch, der hier zugrunde gelegte Satz beziehe sich auf Erfahrungen mit Soldaten. RA Matt fragt, ob die Nägel durch die Explosion verbogen worden sind. Sie hätten verbogene Nägel ebenso wie gerade gefunden, sagt Ibisch Götzl bittet darum, die Bilder zu behalten, und der Zeuge wird entlassen. RA Matt kündigt an, sich eine Erklärung zum letzten Zeugen vorzubehalten. Damit wird der Verhandlungstag um 15:15 Uhr.

Der Blog der Nebenklage kommentiert:
„Die Verteidigung Zschäpe zeigte sich wieder von ihrer menschlich äußerst unangenehmen Seite: einen Zeugen, der sichtlich sehr nervös war und der daher zunächst ein paar einleitende Sätze sagte, um in das Thema reinzukommen, unterbrach Rechtsanwalt Heer nach kurzer Zeit und forderte, der Zeuge solle sofort zum eigentlichen Beweisthema kommen. Der Vorsitzende ließ sich auf dieses unwürdige Spielchen nicht ein und ließ den Zeugen in Ruhe berichten – wie zu erwarten war, kam der dann auch nach wenigen weiteren Sätzen auf den 9.6.2004 zu sprechen.“
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2015/01/22/22-01-2015/

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