Der Schrei

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von Özge Pınar Sarp, Artikel zuerst erschien in Newsletter von Migrationsrat Berlin&Brandenburg anlässlich drei Jahre nach der «Selbstenttarnung» des NSU. Leben nach Migration– Newsletter Nr. 4 | November 2014.

Die «Geschichte» zum NSU-Komplex beginnt meistens entweder mit dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 in Eisenach oder im Jahr 1998 mit dem Untertauchen des NSU [1]. Aber inzwischen gibt es eines, was von der Gesamtgesellschaft nicht gesehen und gehört wurde, eines das unterging: die Stimmen der Familien der Mordopfer, deren Umfeld und Betroffene. In Kassel und Dortmund fanden im April 2006, nach dem Mord an Halit Yozgat und Mehmet Kubaşık, zwei Demonstrationen organisiert von Familienangehörigen und Betroffenen statt, unter dem Motto: «Kein 10. Opfer!» In Kassel fand eine Demonstration statt, an der über 3000 Menschen teilnahmen, in Dortmund ein Trauermarsch mit ca. 300 Menschen, vor allem Migrant_innen aus der Türkei. Die Demonstrant_innen riefen in aller Öffentlichkeit zur Aufklärung der Morde an ihren Ehemännern, Lebensgefährten, Vätern, Söhnen, Brüdern, Verwandten und Freunden auf. Sie sagten ganz klar, welche Motive hinter diesen Verbrechen stecken. Sie baten, ja flehten um Aufklärung, damit es «Kein 10. Opfer!» gibt. In der deutschen Presse wurde hierüber kaum berichtet.


Was für eine Gesellschaft!

Was für eine Gesellschaft, die die Schreie der Angehörigen und Betroffenen in der Stille zu begraben versuchte. Zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den migrantischen Communities und innerhalb der dieser selbst besteht offensichtlich noch immer eine große Spaltung. Wenn mensch in so einer Gesellschaft lebt, ist es umso einfacher, sich gegenseitig zu beschuldigen und in der Krise sich noch weiter auseinander zugehen. Der NSU-Komplex zeigt uns genau das. Durch Politik und Medien reproduzieren sich Feindbilder, Stigmatisierungen und rassistische Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen immer weiter. Im NSU-Fall zeigten sich die Ausgrenzungen nicht nur zwischen «Deutschen und Türken», sondern u.a. auch zwischen Türken, Kurden, Schwarzen Menschen, Sinti und Roma, Menschen aus Russland und Polen und Vietnamesen. Ebenfalls zeigte sich, wie hinderlich diese Spaltung ist, um einen breiten, übergreifenden und starken Zusammenschluss gegen Rassismus zu ermöglichen. Dies wirkt sich in einem fehlenden Druck «von unten» aus, um eine Aufklärung der Morde und Anschläge, der Hintergründe und aller Verantwortlichen zu erzwingen. Auch verhindert es eine Debatte um Rassismus auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene und dessen Konsequenzen. Wenn dem nicht so wäre, gäbe es zu aller erst eine Empathie mit den Opfern, eine Solidarität mit den Opfer-Familien, den Betroffenen. Es gäbe öffentlichen Druck auf Politik, auf die Medien, auf Ermittlungsbehörden und die Justiz. Und das Problem würde nicht in die Ecke der Neonaziszene abgeschoben.


Was hat sich geändert – und ist das genug?

Trotz der «Selbstenttarnung» des NSU und dem seit anderthalb Jahren andauernden Prozess in München hat sich wenig geändert. Medien verwenden zwar nicht mehr den Begriff «Döner-Morde», eine lückenlose Aufklärung wurde von Bundeskanzlerin Merkel versprochen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse berichteten von einem «Versagen» und empfehlen Reformen. Aber das sind nur Tropfen auf den heißen Stein oder leere Worte. Wenn es einen Versuch für eine lückenlose Aufklärung gäbe, dann würde es Ermittlungen gegen Verantwortliche in den Behörden geben. Denn wie auch der Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses selbst schlussfolgert: Die Morde hätten frühzeitig «verhindert werden können.» Diese Erkenntnis ist sehr bitter. Sowohl für die Angehörigen der Mordopfer als auch für Menschen, die in Deutschland mit Rassismus zu kämpfen haben. Für diese Menschen besteht weiterhin die alltägliche Gefahr rassistischer und neonazistischer Gewalt. Denn Fakt ist: Der NSU bestand nicht nur aus einem «Trio», sondern einem großen Netzwerk mit einer Vielzahl an Unterstützer_innen und lebte nicht nur illegal und im «Untergrund».

Eine rassistische Kontinuität besteht seit den 1990er Jahren und schon vorher ohne Zweifel. Der institutionelle und strukturelle Rassismus liegt offen, und verlangt nach Antworten auf die Frage nach der Rolle eines staatlichen Rassismus. Auch der «Nazi-Faschismus war ein staatlicher Rassismus», so Liz Fekete. Hier muss z.B. die Migrations- und Flüchtlingspolitik oder die Einschätzung der rechten Gefahr in Deutschland sowie in Europa grundlegend in einen Diskurs um Rassismus und kolonialen Kontinuitäten gesetzt werden. Dann erst können wir von «Konsequenzen» und Veränderungen reden.


Eine unveränderte Migrationspolitik

Einen mitleidslosen Umgang sowohl mit dem Andenken der Opfer als auch mit den Angehörigen der Opfer zeigte beispielsweise der SPD-Politiker Heinz Buschkowsky ausgerechnet anlässlich der Trauerfeier für die NSU-Opfer, als er dort sagte, dass es in Deutschland Probleme mit der «Integration» gebe. «Gute Ausländer – schlechte Ausländer. Integrationswillige Migranten – integrationsunwillige Migranten, erwünschte hochqualifizierte Arbeitskräfte – unerwünschte Flüchtlinge. […] Die NSU-Opfer wurden aber nicht erschossen, weil sie besonders schlecht oder ausgesprochen gut integriert waren – was immer das auch bedeuten soll, darüber ließe sich noch seitenweise schreiben – nein, sie wurden mit Kopfschüssen exekutiert, weil sie Migranten waren. Und weil sie Migranten waren, wurde sogar an dem Tag der Trauerfeier über ihre vermeintlichen Versäumnisse gesprochen […].» (Gensing 2012: 17) Wir wissen, dass es bei dem NSU nicht um «schlecht integrierte» Mordopfer, sondern um Migrant_innen ging, um Menschen die nicht in ein rassistisches Bild vom «Deutschsein» passten.

Mit deutlichen Worten besingt der Rockmusiker Cem Karaca in seinem Lied «Es kamen Menschen» die Situation der so genannten «Gastarbeiter» in Deutschland: «Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen». Aus den einstigen «Gastarbeiter_innen» sind heute «Menschen mit Migrationshintergrund», die genauso Teil der Gesellschaft sind oder es zumindest sein sollten, geworden. Trotz kleinerer Fortschritte bleiben die Probleme der Migrant_innen und die Migrationspolitik die gleichen wie damals, als Gastarbeiter_innen aus der Türkei ihre Heimat verließen, weil sie sich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen erhofften. Diese gleiche, vielleicht naive Hoffnung hat heute Mustafa Turgut, der jüngere Bruder der am 25. Februar 2004 von NSU Ermordeten Mehmet Turgut: «Für meinen Bruder Mehmet war Deutschland das Land der Hoffnung. Heute kann ich ihn verstehen. Jetzt würde ich gern den Traum, den Mehmet hatte, erfüllen und meine Eltern unterstützen. Das ist wie ein Vermächtnis. Nach vielen Anstrengungen habe ich nun endlich auch für die Zeit meines Aufenthaltes hier in Deutschland eine Arbeitserlaubnis bekommen und bin nicht mehr auf die Unterstützung von anderen angewiesen. Ich arbeite in einem Imbiss – ganz so wie Memo. (…) Jeden Abend, wenn ich den Kopf auf mein Kissen lege, bete ich für Memo. Aber wenn ich heute in die Zukunft schaue, glaube ich, dass ich meine Wünsche erfüllen kann, vielleicht in zwei oder drei Jahren. Ja, ich sehe eine sonnige Zukunft vor mir.»

Diese Hoffnung und diese Realität gehören beide für Migrant_innen zum Leben in Deutschland. Obwohl «Ausländer raus» gerufen wird, ist Deutschland ein Land, wo nicht nur «Deutsche» leben. Menschen haben immer einen Grund zu flüchten, aus sozialen, ökonomischen, politischen, kriegerischen oder ökologischen Gründen. Sie kommen mit der Hoffnung, ein besseres Leben führen zu können, oder sogar manchmal ihr Leben zu retten. Solange es die Gründe für Flucht und Migration gibt, gibt es auch Hoffnungen sowie Herausforderung und Kampf!

 

[1] Im Januar 1998 wurde in einer Garage in Jena, die Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt nutzten, eine Razzia durchgeführt. Die Polizei fand hier neben fast fertigen Rohrbomben mit 1,4 kg Sprengstoff und neonazistischem Propagandamaterial auch eine Telefonliste von Uwe Mundlos. Es kam jedoch nicht zu einer Festnahme, die drei konnten so in den Untergrund flüchten bis zur «Selbstenttarnung» des NSU am 4.11.2011. Erst damit wurde bekannt, wer hinter der über Jahre andauernden Mordserie an neun Migranten und einer Polizistin und mindestens drei Anschläge steckte.