Rückschau Mai bis Anfang August 2015

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Dies ist eine Rückschau auf den Prozess am OLG und die Untersuchungsausschüsse in den Monaten Mai, Juni, Juli und den Anfang des Augustes – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Für detaillierte Informationen zu jedem Prozesstag empfehlen wir das Lesen der einzelnen Protokolle oder Kurzprotokolle und den Blog nsu-nebenklage.de sowie das Verfolgen der Untersuchungsausschüsse über twitter und die blogs der Landesprojekte in NRW, Hessen und BaWü.

Hier findet ihr die türkische Version.

Vier Todestage und die Jahrestage von zwei Bombenanschläge lagen im Monat Juni:

Die Keupstraße ist eine belebte Geschäftsstraße Köln-Mülheim. Eine Nagelbombe verletzt im Juni 2004 22 Menschen teilweise schwer. Mehrere Läden werden verwüstet. (Foto: apabiz)

Die Keupstraße ist eine belebte Geschäftsstraße in Köln-Mülheim. (Foto: apabiz)

Am 9. Juni 2004 explodierte die Nagelbombe in der Kölner Keupstraße und verletzte mindestens 22 Menschen zum Teil schwer.

Ebenfalls am 9. Juni, genau ein Jahr später, 2005, wurde İsmail Yaşar in Nürnberg vom NSU ermordet.

Am 13. Juni 2001 wurde in Nürnberg Abdurrahim Özüdoğru vom NSU ermordet.
Am 15. Juni 2005 erschoss der NSU in München Theodoros Boulgarides.

Der 31-jährige Süleyman Taşköprü wurde in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld ermordet, als er im Laden seines Vaters arbeitete.

Der 31-jährige Süleyman Taşköprü wurde in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld ermordet, als er im Laden seines Vaters arbeitete.

Am 23. Juni 1999 explodierte in Nürnberg die „Taschenlampen“-Bombe des NSU. Ein Mensch wurde verletzt.

Am 27. Juni 2001 wurde Süleyman Taşköprü in Hamburg vom NSU ermordet.

Wir gedenken aller Toten und Verletzten des NSU-Terrors.

 

 

Ein Rückblick auf die Geschehnisse im OLG München:

Insgesamt kann die Beweisaufnahme in den Monaten Mai, Juni, Juli und August als zunehmend langsam und zerfasert beurteilt werden. Die Zeug_innen-Ladungen handelten verschiedene bereits verhandelte Themen punktuell weiter ab und eine flüssige Beweisaufnahme wurde immer wieder durch Streit innerhalb der Zschäpe-Verteidigung und entsprechende Anträge auf Entbindung behindert – entgegen dem Beschleunigungsgebot, das Verteidigung und BAW gerne anführen, wenn die Nebenklage durch ausführliche Befragungen Aufklärung betreiben will.

Der Beginn des Mais war geprägt von der Rückschau auf die zurückliegenden zwei Jahre und die vergangenen rund 200 Prozesstage. -> siehe Bilanz NSU-Watch

Das Theater der Zschäpe-Verteidung

Bei tendenziell abnehmender Berichterstattung nahm Zschäpes angeblich schlechte Verfassung zunehmend Raum ein. Mit erstaunlicher Einfühlungsbereitschaft beschrieben einige Medien die ihr angeblich anzusehende Erschöpfung und hoffen (wohl vergeblich) darauf, dass Zschäpe endlich aussagen könnte. Empathie für die Betroffenen, die Familien und die durch rassistische Ermittlungen stigmatisierten migrantischen Communities dagegen ist weiterhin innerhalb des OLG kaum zu spüren. Am 19. Mai gab ein Antrag der AnwältInnen von Beate Zschäpe der Fokussierung auf Zschäpes Zustand erste Nahrung: Sie forderten, der psychiatrische Sachverständige Henning Saß solle seltener an den Verhandlungen teilnehmen und weiter entfernt von ihr sitzen, weil er angeblich Gespräche zwischen ihr und ihrer Verteidigung mithören könne und weil die Angeklagte unter seiner Dauerbeobachtung leide. Am 10. Juni gab der Vorsitzende Götzl bekannt, dass Zschäpe beantragt hatte, ihre Verteidigerin RAin Sturm zu entbinden. Bereits letzten Sommer, am 16.7.2014, hatte Zschäpe erklärt, kein Vertrauen mehr zu ihren Verteidigern zu haben. Ihr Antrag war aufgrund mangelnder Begründung abgelehnt worden. Am 30.6. beantragte Zschäpe die Beiordnung eines vierten Pflichtverteidigers, RA Mathias Grasel, dem Götzl stattgab, so dass Grasel am 7.7. zum ersten Mal dem Prozess beiwohnte und einige Prozesstage für seine Einarbeitung gestrichen wurden. Am 20.7. schließlich beantragten die ersten drei PflichverteidigerInnen Sturm, Stahl und Heer ihre Entpflichtung, ohne jedoch konkrete Gründe zu nennen, da diese der „Verschwiegenheitspflicht“ unterlägen. Dementsprechend wurde auch dieser Antrag abgelehnt und der Prozess wird – entgegen einiger Spekulation in der Presse – nicht platzen, jedoch hat dieses teilweise hoch unwürdige Theater der Zschäpe-Verteidigung dem Prozess viel Zeit gekostet.

Die Beweisaufnahme

Einzig am 24. Juni wurde ein Geschädigter als Zeuge gehört. Er war im Reisebüro seines Vaters in der Kölner Keupstraße, als dort die Bombe des NSU explodierte. Weil ein Lieferwagen zwischen ihm und der Bombe stand und die herumfliegenden Nägel abfing, hatte er das Glück, nicht verletzt zu werden. Zwei Gutachter hatten zudem erneut die auf die Tötung und Verletzung vieler Menschen ausgelegte Gefährlichkeit der Nagelbombe dargelegt.

Die Brutalität bei Banküberfällen

Das Schwerpunktthema der Zeugenvernehmungen waren wie schon im April die Banküberfälle. Die Beweisaufnahme zu den Haupttaten des NSU, also den Morden und Anschlägen, ist seit Februar zu großen Teilen bereits geschehen, die Beweisaufnahme zu dem Umfeld des NSU, teilweise durch Nazi-ZeugInnen, verläuft weiterhin eher unstrukturiert. Doch auch bei der Verhandlung über die auf den ersten Blick nebensächlich wirkenden Banküberfälle wurden einige wichtige Punkte deutlich: Eine Zuordnung der Täter als Mundlos und Böhnhardt scheint überwiegend sicher. Belege für die Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt sind u.a. Übereinstimmungen verwendeter Waffen und Kleidung mit solchen, die in der Frühlingsstraße bzw. im Wohnmobil in Eisenach gefunden wurden, und Teile der Beute, so z.B. Blankosparbücher, die ebenfalls in der Frühlingsstraße gefunden wurden. Auch wurde von Fahrrädern als Fluchtfahrzeugen berichtet, was eine offensichtliche Parallele zu der Vorgehensweise des NSU bei seinen Mordtaten ist. Bezeichnend ist von Anfang an (also ab 1998) die brutale Vorgehensweise, die Inkaufnahme von Toten und Verletzten auch im Zuge der Geldbeschaffung des NSU. Teilweise wurde in den Aussagen von Zeug_innen und Bankangestellten auch deren psychologischen Folgeschäden durch die Überfälle deutlich. Interessant ist, dass ein Zeuge aussagte, dass drei Personen am Überfall 1998 auf einen Edeka-Markt in Chemnitz beteiligt gewesen seien, bei der dritten Person könne er nicht sagen, ob sie männlich oder weiblich war. Ob es nun Zschäpe war oder ein/eine „Kamerad“/ „Kameradin“ aus den befreundeten Neonazistrukturen: „Die Bereitschaft des NSU schon 1998, auch Menschen zu töten, kann der Unterstützer_innen nicht verborgen geblieben sein“, so Nebenklage-Anwalt Hoffmann am 23. Juni.

Das Mauern der Neonazis: Die UnterstützerInnen

Von der Brutalität der Nazi-Szene insgesamt und auch von Beate Zschäpe im Besonderen, konnte der Jugendfreund von Uwe Mundlos, , berichten, der schon im April als Zeuge vor Gericht war. (12.5. und 30.6.) Bei Mundlos habe er diverse Waffen gesehen und „die Drei“ seien anscheinend schon vor 1998 auf drohende Strafverfolgung vorbereitet gewesen: Zschäpe habe sich oft nach eventuell verfolgenden Zivilfahrzeugen umgeschaut und die Kennzeichen aufgeschrieben. Mundlos erzählte dem Zeugen, dass gegen sie schon wegen Terrorismus ermittelt würde und gab ihm Anweisungen, im Falle konkreter Ermittlungen Beweismittel wie einen Computer verschwinden zu lassen. Auch waren seine überaus guten Kontakte nach Chemnitz bekannt.

Der Zeuge , ehemals Mitglied der „Weißen Bruderschaft Erzgebirge“ und enger Freund von Mathias Dienelt sowie mindestens bekannt mit Mandy Struck, versuchte in seiner Befragung (14.7.) so krampfhaft, die neonazistischen Aktivitäten und Ideologien kleinzureden, dass ihm am Ende mit einem Strafverfahren wegen Falschaussage gedroht wurde. Schenke hatte dem Angeklagten seine Wohnadresse für den Empfang von Briefen in Zusammenhang mit der Anmietung von Wohnungen für das Kerntrio zur Verfügung gestellt. Zudem wurde offensichtlich, dass auch andere WBE-„Kameraden“ von Dienelt und „der WG in Zwickau“ berichtet hatten – mutmaßlich also größere Kreise von dem Aufenthaltsort des NSU wussten.

Am 12. Mai war mit (Jg. 1948) – tw. ehemaliges, oftmals auch führendes Mitglied in diversen Neonazi-Organisationen wie der Wiking-Jugend, der Artgemeinschaft, NPD, RNF –  eine  Zeugin aus der organisierten Nazi-Szene geladen, die sich alle Mühe gab, nicht zur Aufklärung beizutragen. Sie sei ja keine Verräterin. Sie behauptete die Drei nicht gekannt und auch nicht über eine mögliche Unterstützung der Untergetauchten diskutiert zu haben. Was die Vernehmung aber veranschaulichte, war, wie in der Szene die Rekrutierung und Politisierung junger Menschen funktioniert. Edda Schmidt berichtete von Vorträgen zu „Brauchtum“ und heidnischer Religion, von „germanischer Kultur“ – im Wesentlichen beruhte diese „Bildung“ auf der Einimpfung von Rassismus, Antisemitismus und der Überzeugung, die „Germanen“ und damit die Deutschen seien das überlegene „Volk“.

Mit trat am 19. Mai ein weiterer Neonazi auf, er war bereits im Februar und April gehört worden und wurde dieses Mal direkt aus der Untersuchungshaft vorgeführt, wo er wegen des Verdachts auf schwere Gewaltdelikte einsitzt. Überraschend aber nicht erstaunlich, eröffnete er seine Vernehmung mit der Aussage, dass seine damalige Aussage bei der Polizei und seine Bestätigung der Aussagen hier vor Gericht samt und sonders erlogen und frei erfunden seien. Weder habe er die Angeklagten und Mundlos und Böhnhardt gesehen, noch habe er über Insiderwissen über ihren Aufenthalt in Kassel verfügt. Mit seinen Lügen, die angeblich auf in der Haft angelesenem Wissen basierten, habe er sich Hafterleichterung erschleichen wollen: „Ich hab mir gedacht, ich spring mal auf den fahrenden Zug auf und guck, was dabei rauskommt.“

Am Folgetag überraschte ebenfalls ein Nazi mit seiner  Aussage, nämlich der erneuten Leugnung seiner V-Mann-Tätigkeit: war einst Chef der Thüringischen Blood and Honour-Sektion und laut Aktenlage und Aussage eines Beamten langjähriger V-Mann. Das hatte Degner bereits am 11. März 2015 am OLG geleugnet und tat es trotz der Vorlage weiterer Beweise weiterhin. Zwar ist ein großer Teil der Akte zu ihm in der Zwischenzeit in Thüringen vernichtet worden, aber zum Teil in Kopie beim Bundes-Verfassungsschutz „wiedergefunden“ worden. So wurde von einer Fortsetzung seiner Vernehmung am OLG abgesehen, bis ein weiterer V-Mann-Führer Degners zu dessen Tätigkeit für den VS berichtet habe. Auf Antrag der Nebenklage wurde Degner daher nicht entlassen und der Staatsanwaltschaft wurde ein Strafverfahren gegen Degner wegen Falschaussage nahegelegt.

Die indirekte Aussageverweigerungstaktik trieb , Burschenschafter der Thessalia Prag zu Bayreuth, am 15.7. auf die Spitze. Er war mit dem Szeneanwalt Stefan Böhmer erschienen. Brehme, ehemaliges THS-Führungsmitglied, leugnete dreist jegliches Wissen von den Angeklagten und den beiden Uwes. Schon zu Beginn wollte er weder Beruf noch Wohnadresse angeben. Brehme hatte zusammen mit dem V-Mann Tino Brandt den THS geleitet und behauptete, sich an keinen einzigen weiteren Namen aus der bis zu 170 Personen umfassenden Nazi-Organisation erinnern zu können – außer an den weiteren V-Mann Kai Dalek. Seine Einvernahme wurde abgebrochen und wird im September fortgesetzt.

Das Mauern der Behörden

Der Fall Temme
Im Juni und Juli ging es in der Beweisaufnahme an einigen Tagen um das Verhalten des ehemaligen Verfassungsschutz-Mitarbeiters , der zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internet-Café anwesend war. Mehrere ehemalige Kollegen von Temme wurden zu Telefonaten mit Temme im Nachgang des Mordes und der Ermittlungen der Polizei gegen Temme befragt (17.6. und 24.6.). Offensichtlich waren sie sich bewusst darüber, von der Polizei abgehört zu werden und es wurden kryptische Sätze ausgetauscht, die eine Beratung des Verdächtigen und ggf. eine Mitwisserschaft des Verfassungsschutzes nahelegen: „Ich sage ja jedem, äh, wenn der weiß, dass irgendwo sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren“, so der Geheimschutzbeauftragte Hess zu Temme. Hess gab Temme auch den Rat gab „möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben“. Auch die Telefonate mit den anderen Kollegen zeugen von einer aktiven Behinderung der polizeilichen Ermittlungsarbeit gegen Temme. So wurden Temme verschiedene Aussage-Empfehlungen gegeben und ihm versichert, man habe Sorge getragen, dass die Polizei keinen Zugriff auf seine Quellen erlangen würde und dass auch die Berichte Temmes der Polizei nicht bekannt würden. Auch sagte der VSler Fe. zu einer von der Polizei zunächst geplanten Tatortbegehung mit Temme wörtlich: „Habe ich schon gedacht: Wenn sie ihn da mitnehmen, ist er tot. Aber sie haben dich – Gott sei Dank – da nicht mitgenommen, ne?“ Im zweiten Gespräch konnte Fehling dann bereits berichten: „Und, äh, es ist alles ruhig, es ist alles, äh, es läuft alles nach Plan und wie es weitergeht, müssen wir mal sehen.“ Wichtig war damals offenbar, „dass ja niemand außerhalb darüber auch nur irgendwas erfahren darf“ (Temme zu VSler Ha. am 28.4.2006) und heute versuchen sie bei der Befragung die Äußerungen als belangloses, teilweise ironisch zu verstehendes Gequatsche abzutun. Ein interessantes Detail kam raus, als der Zeuge Fe. angab, dass Temme neben dem schon bekannten Neonazi Benjamin Gärtner möglicherweise einen zweiten V-Mann aus der „rechten Szene“ führte, was bisher unbekannt war. Es stellt sich damit erneut die Frage, ob Temme von diesem einen Tipp zu dem bevorstehenden Mord erhalten haben könnte und eben nicht zufällig vor Ort war.

Am 30.6. wurde dann zum sechsten Mal Temme selbst befragt sowie seine Ehefrau erstmalig. Diese Befragungen brachten keine neuen beweisrelevanten Erkenntnisse, waren aber insofern aufschlussreich, als dass die Befragung der Ehefrau die Prozessbeteiligten in die Abgründe der Gedankenwelt der Familie Temmes blicken ließ. Der Zeugin wurde ein Telefonat mit ihrer Schwester vorgespielt, in dem sie ein Gespräch mit ihrem Mann wiedergab und zu ihm sagte „Du hast unsere Zeit verplempert (…) in Kassel bei so 'nem Dreckstürken?“. Auch machte sie sich über den Mord an Halit Yozgat lustig.  Daneben wurde klar, dass Temme oft auch von zu Hause von seinem Laptop aus im Internet gewesen sei, wenn sie bereits schlafen gegangen wäre, so dass seine Begründung, das Internet-Café der Familie Yozgat aufzusuchen, um heimlich surfen zu können, umso mehr fadenscheinig erscheint.

Aishe und İsmail Yozgat (2013)

Aishe und İsmail Yozgat (2013)

Die Befragungen der Temmes wurden mit einer Stellungnahme des Nebenklägers İsmail Yozgat ergänzt. Yozgat resümierte: „Dieser Mann, Herr Temme, lügt. Wir wissen alle, dass er lügt. Wieso wollen wir die Wahrheit nicht sehen?“ Er forderte eine Tatortbegehung mit Temme durchzuführen, denn eine Ortsbesichtigung in Kassel würde deutlich machen, dass die Aussage Temmes, er habe den toten Halit Yozgat nicht gesehen, als er das Café verließ, gelogen ist: „Entweder hat Herr Temme meinen Sohn Halit Yozgat getötet oder er hat gesehen, wer ihn getötet hat.“  In Richtung des Senates sagte er: „Bis jetzt habe ich von ganzem Herzen geglaubt, dass Sie die Entscheidungen hier richtig treffen.“

Der Fall Szczepanski

Mit saß am 1.7. und am 29.7. ein weiterer dubioser Verfassungsschützer als Zeuge im OLG. Er führte von 1994 bis mindestens 1999 zeitweise zusammen mit dem heutigen Chef des VS Sachsen Gordion Meyer-Plath den Neonazi als V-Mann des Amtes Brandenburg. Szczepanski hatte mehrfach Informationen zu den Untergetauchten weitergegeben. Sein Auftritt war skurril: Mit Perücke und dem Versuch, sein Gesicht durch eine tief herunter gezogene Kapuze zu verbergen mauerte der Beamte die gesamten Befragungen durch und gab an, sich an nichts erinnern zu können – trotz der Vorbereitung auf die Aussage und den Zugriff auf mehrere Aktenordner voll Material. Einen hatte Görlitz auch vor sich liegen, wollte jedoch seinen Inhalt nicht preisgeben. Letztendlich wurde dieser Ordner bei Gericht einbehalten, bis das Innenministerium Brandenburg eine Sperrerklärung verfügt habe oder es eben lasse.

Da die Zeugen aus den Ämtern also wie gewohnt mauern ohne Ende, bleibt die Forderung nach der Freigabe aller Akten z.B. zum Fall Temme fundamental wichtig für eine vollständige Aufklärung. Das gilt auch für die im BfV am 11.11.2011 vernichteten Akten (die sogenannte „Konfetti“-Operation). Die Beiziehung der rekonstruierten Teile forderten am 3.8. 29 Anwält_innen der Nebenklage in einem gemeinsamen Beweisantrag, um so unter anderem mehr zum V-Mann „Tarif“ (Michael See / von Dolsperg) zu erfahren. Es lohnt sich, den ganzen Antrag  → hier nachzulesen.

Die Beweisaufnahme zur Beteiligung von Wohlleben und Schultze: Der Weg der Ceska

Auf Antrag der Verteidigung Wohlleben sagten am 19. Mai und am 4. August Schweizer Beamte zur Lieferkette der Ceska aus und bestätigten im Großen und Ganzen die vorhandenen Erkenntnisse. Die Verteidigung Wohlleben hatte versucht, den Waffenlieferer Schläfli & Zbinden als unsauber in ihrer Buchführung oder in kriminelle Geschäfte verwickelt darzustellen, um damit auch die Beweise zu dieser Ceska als der Mordwaffe zu erschüttern, was ihr nicht gelungen sein dürfte. Bezeichnenderweise erschienen an den letzten zwei Prozesstagen vor der Sommerpause zwei neue, doch Antifaschist_innen bekannte, Verteidiger von Ralf Wohlleben: Andreas Junge und Jochen Lober, beide einschlägig als Szene-Anwälte bekannt, vertraten RA Klemke und RA Nahrath. Dies ist ein weiterer Beweis für Wohllebens anhaltende Verwurzelung in der extremen Rechten. Seine Verteidigung setzt eindeutig nicht auf eine Distanzierung ihres Mandanten von der Neonazi-Szene.

Die Beweisaufnahme zu der Beteiligung von Zschäpe, Eminger und Gerlach

Weitere Belege für Zschäpes Beteiligung an den terroristischen Aktivitäten innerhalb des NSU wurden im Juni und Juli im Prozess eingeführt, wo BKA-Beamt_innen von Asservatenauswertungen und Ermittlungen berichteten. So ging es am 16.6. um eine Datei, in der Zschäpes Wetteinsatz festgehalten war: „200x Videoclips schneiden“, was sich angesichts des Fehlens anderer komplexer Videodateien mit hoher Sicherheit auf die Produktion des Bekennervideos bezieht, von dem außerdem ein 49seitiges „Drehbuch“ im Brandschutt der Frühlingsstraße gefunden wurde (VT 16.6.). Auch wurde festgestellt, dass es Zschäpe war, die den Reispass, den Holger Gerlach noch 2011 für Uwe Böhnhardt fertigen ließ, vom Amt abholte. (VT 14.7. und 21.7.)
Unwahrscheinlich ist hingegen, dass Zschäpe zusammen mit Böhnhardt das Wohnmobil vom Autoverleih abholte, das schließlich am 4.11.2011 brannte und den NSU enttarnte: Eine Zeugin berichtete von einer Frau mit einem Kind in Begleitung von Böhnhardt. Das Kind nannte die Frau „Mama“, die Zeugin konnte jedoch niemanden identifizieren. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Personen aus dem Umfeld des Kerntrios tief und bis zuletzt in die Handlungen des NSU eingebunden waren. Zudem berichtete eine BKA-Beamtin davon, wie akribisch das Kern-Trio  seine Alias-Identitäten pflegte- und diverse Hintergrundinformationen über diese abgefragt hat, um die Scheinidentität aufrecht zu erhalten. (15.7. und 29.7.)
Beweise für die mutmaßlich überaus enge Verbindung des Kerntrios zu dem Angeklagten und bis heute aktivem Neonazi André Eminger wurden am 21.7. in den Prozess eingeführt: In der Frühlingsstraße wurde eine DVD gefunden, die diverse (neonazistische und persönliche) Dateien enthielt, die Eminger zugeordnet werden.
Bereits in einem Beweisantrag der RAe Langer und Reinecke vom 17.6. wird das „besonders enge Verhältnis zum Angeklagten Eminger“ von Seiten des Trios bis kurz vor dem Auffliegen des NSU thematisiert. Ein bisher unbeachtetes Asservat aus dem Wohnmobil, das bei dem Banküberfall in Eisenach verwendet wurde, solle laut Antrag Aufschluß darüber geben, dass Mitglieder des Trios Eminger am 25.10.2011 in Leipzig im Krankenhaus besucht hätten. Ein Parkschein, der im Handschuhfach aufgefunden wurde, sei in Leipzig am Krankenhaus in der dortigen Liebigstraße ausgegeben worden. Das Asservat war vom BKA als nicht verfahrensrelevant eingestuft worden.

Neues außerhalb des OLG:

In den Untersuchungsausschüssen

In Hessen war im Mai auch der Fall Andreas Temme Thema, wie dann im Juni am OLG in München. Thema war auch hier das Telefonat des Geheimschutzbeauftragten Hess  Thema, der 2006 gut einen Monat nach dem Mord am Telefon zu Temme gesagt hatte: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Auch die Protokollantin hatte im UA als Zeugin ausgesagt, sie habe den Satz als Scherz und als nicht relevant empfunden und deshalb nicht protokolliert. Ob der Satz ironisch gemeint gewesen sei, wie das alle BeamtInnen behaupteten, darüber konnten sich die Parlamentarier_innen laut Presse nicht einigen. Das 34-minütige Telefonat wurde erstmals in ganzer Länge öffentlich abgespielt.
Am 15. Juni wurde noch einmal 9 Stunden lang getagt und vier Zeugen gehört: Neben dem ehemaligen Obmann der FDP im UA des Bundestages, Hartfried Wolff, drei führende Ermittler der Ceska-Mordserie. Am 6. Juli waren vier Staatsanwälte als Zeugen geladen, die zwischenzeitlich mit Ermittlungen der Mordserie des NSU betreut gewesen waren. Die Zeugen berichteten von ihrer Arbeit in den jeweiligen Staatsanwaltschaften (StA) und Ministerien und Bezügen zum NSU, die ihnen dabei bekannt geworden waren. Am 20.Juli fand die elfte Sitzung des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses statt mit den Zeugen Peter S., ehemaliger Abteilungsdirektor beim hessischen Verfassungsschutz (LfV) und Dr. Herbert Diemer, Bundesanwalt am Bundesgerichtshof (BGH) und zuständig für die Ermittlungen zum Münchener NSU-Prozess. Wie am OLG vertrat Diemer auch im UA die Thesen, wie sie sich in der Anklageschrift und in dem Prozessgeschehen widerspiegeln, die jedoch nicht bewiesen sind: Es gebe viele Hinweise darauf, dass Mundlos und Böhnhardt (potenzielle) Tatorte selbst ausgekundschaftet hätten, dass der NSU sich streng abgeschottet habe. Nur bis zum Jahr 2000 ließe sich ein Unterstützer-Netzwerk feststellen, das durch das Bereitstellen von Ausweisen und Geld das untergetauchte Kerntrio unterstützt habe. Mit Beginn der Raubüberfälle würden die Hinweise auf ein UnterstützerInnen-Netzwerk allerdings versiegen. Es gebe keine strafrechtlich relevanten Hinweise auf Verbindungen des NSU zur Nazi-Szene in Hessen. Genauso gebe es keine eindeutigen Beweise für eine Beteiligung ortskundiger Dritter beim Mord an Halit Yozgat 2006. Auch für Andreas Temme lasse sich eine Beteiligung oder Wissen über die Tat nicht zweifelsfrei nachweisen.
http://hessen.nsu-watch.info

Im Untersuchungsausschuss Baden-Württembergs begann der Mai mit einer gemeinsamen, öffentlichkeitswirksamen Begehung des Tatortes des Mordes an Michèle Kiesewetter, der Theresienwiese in Heilbronn. Am 22. Mai wurden zwei ehemalige Leiter der SOKO „Parkplatz“ und der damals die Ermittlungen führende Staatsanwalt vernommen. Thema waren die schlechten Ermittlungen und am Rande immer wieder auch der Fall des 2013 verbrannten Zeugen Florian H.. In dem ausgebrannten Auto waren angeblich erst von der Familie Gegenstände des Toten gefunden worden, die diese dem Prof. Hajo Funke übergab. Der UA hat inzwischen beschlossen, Prof. Funke als Zeugen zu laden.
Im Juni und Juli war das Hauptthema der EWK-KKK (Ku-Klux-Klar) in Baden-Württemberg, der sich durch einen hohen Mitgliederanteil von Polizisten auszeichnete, was viele Fragen in Bezug auf den Mord an der Polizistin bzw. Dem Mordversuch an ihrem Kollegen aufwirft, der der UA auch im Juli weiter nachgehen wird. Verschiedene Polizisten und KKK-Mitglieder sagten als Zeugen aus und gaben ein Bild der Ahnungslosigkeit und Relativierung ab. Allein Katrin F. schilderte, dass sie mal die Schicht gewechselt habe, weil sie mit einem rassistischen Kollgegen wegen rechter Äußerungen aneinander geraten war. Ansonsten scheint es innerhalb der Polizei kein Problembewusstsein über Rassismus und Kontakte zu dem lokalen Klansführer Achim Schmid gegeben zu haben.

Aus NRW lassen sich vom UA keine Neuigkeiten vermelden: Im Mai waren keine Sitzungstermine angesetzt, die Termine für den Juni waren gestrichen worden. Der nächste Termin ist erst der 19. August.

In Thüringen hat der zweite Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufgenommen und am 4. Juni war die erste öffentliche Sitzung mit Zeugenanhörung, die sich dem Feuerwehreinsatz beim brennenden Wohnmobil in Eisenach am 4.11.2011 widmete. → haskala.de

In Sachsen wurde auch ein zweiter Unterschungsausschuss eingesetzt, der sich am 13. Mai zur konstituierenden Sitzung traf, öffentliche Sitzungen mit Zeug_innen-Anhörungen wird es erst ab September geben.

In der Presse machte höchstens – wenn überhaupt der Blick mal von Zschäpe lässt – vor allem der verstorbene V-Mann Thomas Richter alias „Corelli“ weiter Schlagzeilen. Weil der Verfassungsschutz bei der Aufklärung der Rolle Corellis immer wieder mauerte, setzte das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) Jerzy Montag als Sonderermittler ein, um die Umstände von Richters V-Mann-Tätigkeit und insbesondere die sogenannten „Corelli“-CDs zu untersuchen. Der Bericht ist abgeschlossen und wurde am 21.5. dem Parlament vorgelegt worden, ist bisher jedoch unveröffentlicht. Allerdings konnten einige Zeitungen bereits zum erstaunlichen Gehalt des V-Mannes berichten: Richter kassierte in seiner 18-jährigen Karriere knapp 300.000 Euro, darunter eine sehr erquickliche  „Abschaltprämie“. Jerzy Montag geht ansonsten davon aus, dass es im Todesfall Thomas Richter „mit allergrößter Wahrscheinlichkeit“ kein Fremdverschulden gebe und dieser tatsächlich an einer unerkannten Diabetis gestorben sei.

In der Gesellschaft beobachten wir seit Anfang des Jahres erfreulicherweise eine Zunahme an zivilgesellschaftlichem Engagement und antirassistischer und linker Intervention. NSU-Watch organisierte zusammen mit dem RAV (Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein) und der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Prozessbesuch von drei türkischen Journalisten und WissenschaftlerInnen mit anschließender Veranstaltungstour im Juni mit dem Titel NSU-Terror, Staat und Aufklärung, um den NSU in den Kontext ihrer Erfahrungen mit rechtsterroristischen Verbrechen in der Türkei, deren staatlicher Deckung und dem gesellschaftlichen Umgang zu bringen. Außerdem bearbeitet z.B. seit Mai 2015 eine Kampagne der NaturFreunde Berlin mit dem Namen „Blackbox VS“ mit satirischen Aktionen den Skandal um den Verfassungsschutz. Das bundesweite Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ bzw. die „Initiative Keupstraße ist überall“ mobilisiert für den 19. August zu einer Kundgebung vor dem Untersuchungsausschuss NRW und hatte weitere Aktivitäten für die nächsten Monate angekündigt. An den Tatorten haben zu den Jahrestagen im Juni verschiedene lokale Intitiativen Gedenkfeiern oder -aktionen gemacht, damit die Opfer des NSU nicht in Vergessenheit geraten und der gesellschaftliche Druck für eine konsequente Aufklärung wächst.

Desweiteren sind diverse Bücher erschienen und Theaterstücke wurden uraufgeführt.