Kollateralschäden der Weltpolitik – Rezension

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Rezension „Die schützende Hand – Denglers achter Fall“ von Wolfgang Schorlau, Kiepenheuer & Witsch 2015, 384 Seiten, 14,99 €

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von NSU-Watch

Eine literarische oder künstlerische Verarbeitung des Stoffes des NSU-Komplexes ist legitim, sie ist auch wünschenswert und die vielen meist guten, mitunter misslungenen Theaterstücke zeigen, dass das möglich ist. Doch der Krimi „Die schützende Hand“ verkauft sich als „Dokufiktion“, er will mehr sein als nur Literatur – und das ist sein großer Fehler.

Viele Fragen sind offen und das Interesse der Öffentlichkeit am Thema NSU droht zu schwinden. Doch dann steigt ein Krimi innerhalb einer Woche nach Erscheinen auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste. Großspurig behauptet der Autor Wolfgang Schorlau: „Es ist nur eine Erzählung, aber ich halte sie nach allem, was ich heute weiß, für deutlich realtitätstüchtiger als die offiziellen Bekundungen.“ (Hervorhebung im Original, S. 363) Schorlau wird nicht müde, auf seine ausführliche Vorrecherche durch intensives Aktenstudium zu verweisen. Gleichzeitig kann er sich durch die Form des fiktionalen Krimis gegen Faktencheck und politische Kritik immunisieren. Ein Drittel seiner Figuren wird beim realen Namen genannt, ein Drittel hat ihre Identität und Funktion mehr schlecht als recht verschleiernde Alias-Namen, ein Drittel sind komplett frei erfunden. Ohne Vorkenntnisse ist es nicht möglich, das eine vom anderen zu unterscheiden. Anders als in dem Genre üblich, das reale Protagonist_innen und Fakten mit fiktionalen Figuren und Geschichten anreichert, dient diese Dokufiktion nicht der Erweiterung des Blickes. Schorlaus Herangehensweise ist eine Einengung auf den 4.11.2011 in Eisenach, seine zentrale Frage: Wer hat Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt umgebracht? In dem unabgeschlossenen Kriminalfall des Nationalsozialistischen Untergrundes und seiner Taten, der nicht nur die Familien von zehn ermordeten Menschen, sondern ganze Stadtviertel und Teile der Gesellschaft erschütterte, ist diese Fokussierung eine fatale Verengung der Perspektive und anti-aufklärerisch. Schorlaus Dokufiktion ist Leichenfledderei: Der Autor stochert ohne Rücksicht auf die Interessen der Opfer (und damit sind hier nicht Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gemeint) und die Erzählungen ihrer Angehörigen in dem Wust an Fakten, potenziellen Fakten und längst widerlegten Hypothesen herum und baut sich seine eine, alles erklärende effektheischende Theorie anhand der einen Frage zusammen.

Handlung und Personal des Krimi

Hauptfigur ist der Ex-BKAler und jetzige Privatermittler Georg Dengler, der durch eine anonyme Person den gutbezahlten Auftrag bekommt, herauszufinden, wer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen habe (S. 54). Um sich und seine Freundin Olga schart er ein Ermittlerteam aus alten Freunden und einigen weiteren Verbündeten. Über seine ehemalige BKA-Kollegin und seinen rechtschaffenen ehemaligen Chef bekommt er Akten und Kontakte zu Informanten. Einer davon ist Marius Brauer, ebenso rechtschaffener LKAler in Thüringen und früherer Zielfahnder. Dann ist da noch Tufan Basher, alter Freund von Dengler und Überlebender des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße, der schon 2004 Dengler und der Polizei sagte, dass die Täter Neonazis gewesen seien und er zwei mutmaßliche Zivilbeamte am Tatort gesehen habe – Dengler „beschloss, dieser Spur nicht weiter zu folgen. Die Polizei beschuldigte weiterhin die Opfer“ (S. 79).

Die Gegenspieler und Verhinderer der wahren „Aufklärung“ sind mächtige Menschen mit Dreck am Stecken. Sie bewegen sich in einem hierarchischen Faden von Erfurt über Wiesbaden nach Berlin und schließlich bis nach Washington DC: Harry Nopper, stellvertretender Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, war schon früher der Gegenspieler von Dengler und seinem Chef (S. 182 u.a.) und ist ein ekliger Typ. Klaus-Dieter Welker, stellvertretender Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, ist ein noch ekligerer Typ, karrieregeil, aber eigentlich ein zutiefst bayrischer Bauernbub (S. 34 ff). Doch selbst der skrupellos und allmächtig erscheinende Welker bekommt seine „eigentlichen Dienstanweisungen aus der amerikanischen Botschaft“ (S. 175). Und dort sitzt das Klischeebild eines superekligen, machthungrigen und homophoben „Statthalter[s]eines Imperiums“ (S. 148): James D. Spencer, amerikanischer Botschafter in Berlin. Er hat schon mitgeholfen, die deutsche Wiedervereinigung nur unter den US-amerikanischen Bedingungen ablaufen zu lassen. (S. 176/177) Er trifft sich im Januar 2011 mit der Kanzlerin und dem Finanzminister und setzt sie unter Druck: Wenn sie nicht die Besteuerungspläne für US-amerikanische Firmen zurück nähme, würde die Öffentlichkeit davon erfahren, was die deutschen Geheimdienste tun. (S. 232, S. 273) Dengler selbst schickt am Ende geradezu gutmütig seinen abgeschlossenen Ermittlungsbericht – der zu dem Schluss kommt, dass die Toten am frühen Morgen des 4.11.2011, wenn nicht gar am Tag vorher im Wohnmobil in Eisenach platziert wurden und das Gefährt angezündet wurde – unter anderem an Untersuchungsausschüsse und die Presse ab und geht auf das Birlikte-Fest in der Kölner Keupstraße.

Rassismus als Nebenwiderspruch

So sympathisch die Figur Tufan Basher aus der Keupstraße gezeichnet ist und so empathisch Schorlau die rassistisch motivierten Ermittlungen gegen ihn und seine Familie erzählt: Die Morde und Anschläge sind in dieser Erzählung ein lediglich emotionalisierender Nebenstrang. Weder ihre Aufklärung, ihre Nicht-Nachvollziehbarkeit für die Angehörigen, noch die Thematisierung des Versagens von Staat und Gesellschaft sind Ziel des Krimis. Die zehn Morde sind nur der Kollateralschaden einer größeren Erzählung, deren wichtigste Frage ist: Wer hat die beiden Nazis umgebracht?
Im Krimi werden die beiden toten NSU-Mörder tatsächlich zu Opfern einer Strategie der Erpressung durch die USA. Ihnen wird ihre nationalsozialistische Ideologie und ihren dadurch begründeten Taten der absolute Willen der Vernichtung abgesprochen, indem sie zu Marionetten eines anderen Planes verniedlicht werden. Schorlau bezieht diese Theorie sogar auf die heutige Zeit: „Wer steckt hinter Pegida und all diesen Bewegungen und Bürgerinitiativen wirklich?“ (S. 119) Am Ende des Buches taucht dann auch der lächelnde VS-Beamte Nopper am Rande der rassistischen Ausschreitungen in Heidenau auf, so ist der Kreis geschlossen. (S. 361)

Dass Schorlau keine herrschaftskritische Gesellschaftsanalyse kennt und sein Buch voller latent sexistischer, rassistischer und klassistischer Klischees ist, wird auch in seinen Figuren deutlich: Olga bezeichnet sich als „Zigeunerin“ (S. 69) und ist „eine perfekte Taschendiebin“ (S. 126), das Klauen wurde ihr „schon als Kind beigebracht“ (S. 255). Den berechtigten Einwurf der Täter-Opfer-Umkehr lässt Schorlau durch Olga ausräumen: Sie wirft ihrem Freund zunächst vor, dass er dabei helfe, „die beiden Mörder reinzuwaschen“ (S. 69). Doch angesichts der zusammengeklaubten Beweislast folgt sie schnell Denglers Mordthese und ermittelt engagiert mit. Olga wie auch Denglers ehemalige Kollegin Marlies – die die Akten besorgt, weil sie immer noch in Dengler verliebt ist – haben im Gegensatz zu den meisten männlichen Figuren übrigens keine Nachnamen. Auch die Beschreibung des Äußeren (über Denglers Vermieterin: „Eine gute Figur. Eindeutig.“, S. 29) der wenigen weiblichen Figuren ist überproportional hoch.

Antiamerikanismus als Entschuldung

In der Figur von Klaus-Dieter Welker erklärt uns Schorlau, wie die große Politik funktioniert: Welker, unschwer als Klaus-Dieter Fritsche (ehem. Vize-BfV-Präsident, inzwischen Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes) zu erkennen, sorgt dafür, dass „Herr Omani“ Vorsitzender des Untersuchungsausschusses des Bundestages wird, da er über ihn ein „kleines Geheimnis“ als Druckmittel hat und am Ende die parlamentarische Aufklärung demontieren kann. (S. 45) Der BfV-Vize mit Panzerschränken voller Geld und geheimer Akten zu Hause ist doch nur den USA ergeben. Zwischen den Zeilen oder über Umwege exerziert Schorlau alle Theorien der geheimen Weltpolitik durch und mag sich nicht festlegen: Oktoberfestattentat, stay behind, Organisation Gehlen und der BND – wer ist es, der mit den „kämpfende[n]Diensten, de[m]Mossad und [der]CIA“ (S. 183) zusammenarbeitet? „Er [der BND]ist ein Instrument, jedoch nicht ein Instrument unserer, sondern im Kern einer anderen Regierung.“ (S. 187) Oder war es doch der Verfassungsschutz, wie die Figuren Welker und Spencer suggerieren? Egal. Jedenfalls waren es nicht „wir Deutschen“ in Eigenregie, denn im Nachwort schreibt Schorlau: „Ein Ergebnis dieser Recherchen ist auch die für mich überraschende Erkenntnis, wie wenig souverän und wie sehr fremdbestimmt das Land ist, in dem ich lebe.“ (S. 364) Doch in der deutschen Geschichte haben weder die historischen Nationalsozialisten noch die Neonazis die US-Amerikaner gebraucht, um ihren Vernichtungswillen zu exerzieren. Und Pegida schon gar nicht.

Wie aufklären?

Schorlau unterläuft mit seiner Dokufiktion die Anklagen gegen mörderische Neonazis, rassistische Ermittler_innen und Politiker_innen, die das System des institutionellen Rassismus nicht bekämpfen wollen, sondern schon immer mitgetragen haben. Es ist richtig und notwendig im NSU-Komplex zu spekulieren anhand der eklatanten Ungereimtheiten. Und es ist richtig und notwendig zu stochern und zu kritisieren und Aktenfreigaben zu fordern angesichts der offensichtlichen Vertuschungen durch Behörden. Doch Schorlau konterkariert letztendlich auch die Aufklärung des fatalen V-Leute-Systems und des Systems der deutschen Geheimdienste und deren tatsächlichen Vertuschungen und Verschwörungen in Deutschland, indem er das System als übermächtig und fremdgesteuert darstellt.

Und um weiter zu kommen in der Aufklärung muss man widerlegte Hypothesen beiseite legen: Während Schorlau seine „literarischen Ermittlungen in einem realen Kriminalfall“ schon 200.000 Mal verkauft hat, kämpfen die Angehörigen, ihre Anwält_innen und ja, auch einige linke und antifaschistische Gruppen und migrantische Selbstorganisationen, sowie einige wenige Parlamentarier_innen seit mehr als vier Jahren mühsam um Aufklärung. Diese laufenden Aufklärungsbemühungen wischt Schorlau durch seine eigene halb-fiktive Theorie vom Tisch, auch wenn er mit 73 Fußnoten im Krimi seine Theorie mit „belegten“ Fakten untermauern will. Ein Teil der „Fakten“, auf denen Schorlaus Mord-These beruht, sind in jüngster Zeit vor allem durch die akribische Arbeit des Thüringer Untersuchungsausschuss widerlegt oder zumindest in Zweifel gezogen. Zwei „Fakten“ seien hier exemplarisch dekonstruiert:

  • Die weggepustete Gehirnmasse der Toten wurde von mindestens drei Beamten am 4.11.2011 im Wohnmobil in Eisenach gesehen, „deutlich und viel“, „es war kein sehr leckeres Bild“ – die Fotos, die Schorlau nachdruckt, sind nach dessen Entsorgung im Müll (was tatsächlich skandalös ist) entstanden. [1]
  • Die fehlenden Rußpartikel in der Lunge von Uwe Mundlos könnten laut dem im Thüringer UA befragten Brandspezialisten plausibel sein, da das Feuer zuerst eine Heißgasschicht an der Decke bildete, während tiefere Zonen noch rußfrei gewesen sein könnten. Andere Experten hatten Ähnliches schon vorher gesagt. [2]

Rezeption und Fazit

Schorlau ist Künstler, er ist kein Wissenschaftler, kein Ermittler und kein NSU-Experte und würde er dies öffentlich zugeben und sein Buch zur Fiktion erklären, wäre der Krimi unproblematisch. Doch Schorlau bekundet: „Die Figuren sind erfunden. Die Fakten aber – und da bemühe ich mich sehr – müssen stimmen!“ [3] Entsprechend ist seine öffentliche Rezeption: Der baden-württembergische Untersuchungsausschuss lud Schorlau als Experten ein, auf einem Thementag einer linken Gruppe in Berlin bekommt der Krimi-Autor für seine Lesung zwei Stunden Primetime. Es wird sehr sehr viele Leute geben, die auf der Suche nach einfachen Antworten zu dieser „detektivischen Wahrheitsfindung“ (S. 364) greifen und denken, jetzt wüssten sie, wo der Hase im Pfeffer liegt. Da „die Mächte“ (vgl. S. 124) ja doch stärker sind, als wir uns vorstellen können, kann die Leser*in getrost alles Fragen, alle Empörung, alle Geselllschaftskritik einstellen, sich zurücklehnen und sagen: Schlimm ist das, aber da kann man ja eh nichts machen!

Frontal_zuschnitt_kleiner

Lieber demonstrieren als nichts tun. Foto: Demo von „Das Schweigen durchbrechen“ am 19.9.2015 in Nürnberg

Warum ist diese Vermischung von Fakten und Fiktion zu einem unauflösbaren Kleister selbst für die kritische Linke attraktiv? Als Entschuldung? Ist eine solche Theorie wie Schorlau sie uns nahelegt nicht das Ende jeder gesellschafts- und staatskritischen Intervention? Die Wirkung und Nachwirkungen der Taten des NSU haben das Land verändert und es gibt enorm viel aufzuarbeiten in dieser Gesellschaft. Gerade eine sich antirassistisch verstehende Linke muss sich fragen, warum sie die Mordserie nicht erkannt, den Bombenanschlag in der Keupstraße nicht ernstgenommen, die Opfer alleine gelassen hat. Warum sie der Presse, die von „undurchdringbaren Parrallelgesellschaften“ schrieb, gefolgt ist und dem staatlichen Narrativ, der Rechtsterrorismus sei unter Kontrolle, geglaubt hat. Der Erfolg von Schorlaus Krimi zeigt die beunruhigende Tendenz, gesellschaftlichen Rassismus nicht nur weiter zu ignorieren, sondern den NSU trotz aller Komplexität als Beweis zu nehmen, dass man mit seiner verkürzten Systemopposition schon immer Recht hatte.

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Fußnoten:

[1]    https://haskala.de/2016/01/18/ua-61-protokoll-14-01-2016-2-thueringer-nsu-untersuchungsausschuss-lka-bawue-und-lka-thueringen-brandexperte-entschluesselungsexperte-journalist/
[2]    ebd. und www.nsu-watch.info/2014/06/protokoll-114-verhandlungstag-21-mai-2014/
[3]    Interview in der Stuttgarter Zeitung, 21.10.2014. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-wolfgang-schorlau-warum-starb-mich-le-kiesewetter-page1.7964aca5-3bcb-499c-8526-982d4e6114fa.html
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Eine weitere lesenswerte Kritik ist in der konkret erschienen:
http://www.konkret-magazin.de/hefte/id-2016/heft-22016/articles/der-neue-schorlau.html