📨 NSU-Watch – Der Newsletter #21 – Dezember 25

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Wir melden uns einmal im Monat mit unserem Newsletter „Aufklären & Einmischen“ bei euch. Passend zum Titel des Newsletters findet ihr im ersten Teil – Aufklären – Berichte zu unserer Arbeit. Außerdem werfen wir einen Blick auf aktuelle Ereignisse im Themenfeld rechter Terror und seine Aufarbeitung. Im zweiten Teil des Newsletters wird es praktisch: Einmischen. Wir sammeln für euch aktuelle Termine beispielsweise für Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, an denen ihr euch beteiligen könnt. Hier könnt ihr euch für den Newsletter anmelden.

Wenn ihr genauer wissen wollt, was euch erwartet, könnt ihr hier die Dezember-Ausgabe des Newsletters in der Webversion nachlesen. (Aus technischen Gründen wird der Newsletter hier grafisch leicht abweichend von der Mail-Version dargestellt.)


Hallo zur Dezember-Ausgabe unseres monatlichen NSU-Watch-Newsletters „Aufklären und Einmischen“!

„Dann sag die Wahrheit!“ Diese Worte hallen nach. Am zweiten Tag der Zeuginnenvernehmung von Beate Zschäpe im 2. NSU-Prozess hielt es Gamze Kubaşık, Tochter des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık, im Publikumsbereich des Gerichtssaals in Dresden nicht mehr aus: Sie unterbrach lautstark die Mörderin ihres Vaters. Die Betroffenen des NSU-Terrors sind keine Nebenkläger*innen und haben daher auch kein Rederecht im Prozess gegen Susann Eminger – der engen Freundin von Zschäpe, der die Bundesanwaltschaft unter anderem Unterstützung des NSU vorwirft. Die Betroffenen dürfen hier eigentlich nur schweigend zuschauen. Nach ihren Worten wurde Gamze Kubaşık vorerst des Saales verwiesen, der Prozess wurde kurzzeitig unterbrochen.

 

Gamze Kubaşık schrieb danach in einem Statement: „Es kam einfach aus mir heraus. Ich konnte nicht mehr schweigend dort sitzen, während sie sich weiter herausredet. Ich dachte an meinen Vater, Mehmet Kubaşık. An sein Lächeln. An den Tag, an dem er uns durch rechte Gewalt genommen wurde. Und daran, dass wir seit 2006 um Antworten kämpfen müssen, die uns immer wieder verweigert werden.“

Dieser Moment brach die sterile Atmosphäre des Verhandlungssaals und die manchmal kaum erträgliche Prozesslogik auf, die sich in Einzelheiten verliert und deretwegen das große Ganze aus dem Blick geraten kann. Die Angehörigen und die Betroffenen erhoffen sich weiter Antworten aus der Beweiserhebung im 2. NSU-Prozess. Ob diese Hoffnung erfüllt wird, lässt sich nach acht Verhandlungstagen noch nicht sagen. Was genau angeklagt ist und was die geladenen Zeug*innen bislang aussagten, lest ihr weiter unten im Newsletter: „Der 2. NSU-Prozess hat begonnen“. Außerdem in dieser Ausgabe von „Aufklären und Einmischen“

Gut zu wissen:

+++ Platenstraße 1992 – Platenstraße 2025 +++
+++ Der rassistische Mord an Ramazan Avcı vor 40 Jahren +++

Wir gedenken im Dezember Amadeu Antonio, er verstarb am 6. Dezember 1990 nach einem Neonazi-Angriff in Eberswalde. Wir erinnern an Shlomo Lewin und Frida Poeschke, sie wurden am 19. Dezember 1980 von einem Neonazi in Erlangen ermordet. Beteiligt euch an den Gedenkveranstaltungen! Termine dafür und für andere wichtige Veranstaltungen findet ihr wie immer am Ende unseres Newsletters.

Kein Schlussstrich!
Eure Antifaschist*innen von NSU-Watch

Unser Newsletter ist kostenlos und wird es auch bleiben. Für unsere Arbeit sind wir aber auf eure Unterstützung angewiesen. Mehr dazu findet ihr auf unserer Spendenseite!

Der 2. NSU-Prozess hat begonnen

Eine antifaschistische Kundgebung machte an diesem Morgen bereits zwei Stunden vor Beginn des 2. NSU-Prozesses darauf aufmerksam: Der NSU war nicht zu dritt. Die Protestierenden vor dem Prozessgebäude des Oberlandesgerichtes Dresden forderten „Naziterror bekämpfen und Betroffene entschädigen“. Auch Serkan Yildirim, Überlebender des ersten bekannten Anschlags des NSU am 23. Juni 1999 in Nürnberg, kam am 6. November früh am Prozessgebäude an. 2013, nachdem der Anschlag auf ihn dem NSU zugeordnet werden konnte, hatte er auf Fotos die nun in diesem Prozess angeklagte Susann Eminger wiedererkannt. Die Bundesanwaltschaft geht in ihrer Anklage jedoch davon aus, dass Susann Eminger das NSU-Kerntrio erst 2007 kennengelernt habe. Wie tiefgehend die Behörden zu dem sogenannten Taschenlampenanschlag ermittelten, bevor sie die Ermittlungen einstellten, lässt sich nicht sagen. Der Fall ist in Dresden nicht angeklagt, Serkan Yildirim kann nicht als Nebenkläger am Verfahren teilnehmen. Sein Fall war auch nicht Teil der Anklage im ersten NSU-Prozess.

Die Bundesanwaltschaft wirft Susann Eminger Unterstützung der terroristischen Vereinigung NSU vor: durch die Überlassung einer Krankenkassenkarte sowie von Bahncards und Beihilfe zu schwerer räuberischer Erpressung mit Waffen – der Banküberfall in Eisenach am 4. November 2011. Nach Verlesung der Anklageschrift endete der erste Verhandlungstag bereits nach einer halben Stunde. Seitdem läuft die Beweisaufnahme. Recht detailliert ließ sich insbesondere die Vorsitzende Richterin von Ermittler*innen einzelne Themenkomplexe darlegen. Bundesanwaltschaft und Verteidigung dagegen hatten nicht viele Fragen.

Zu der Krankenkassenkarte zeigte die Beweiserhebung, dass Beate Zschäpe mit der Karte von Susann Eminger fünfmal einen Zahnarzt in Zwickau aufsuchte. Ab 2009 waren Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt mit Bahncards auf die Namen der Eheleute Eminger ausgestattet – die Bilder zeigten allerdings Zschäpe und Böhnhardt. Bestellt und bezahlt wurden die Bahncards von den Emingers, das zeigten die Ermittlungen. Auch die Abholung des Wohnmobils, das der NSU für seinen letzten Überfall nutzte, war bereits Thema. Die Ermittler*innen legten anhand von Verbindungsdaten und Zeug*innenaussagen dar, dass Zschäpe und Mundlos von Susann Eminger zu dem Autoverleih in Schreiersgrün gefahren wurden. Dies ist angeklagt als Beihilfe zu dem Überfall am 4. November 2011, da die Anklage davon ausgeht, dass Susann Eminger wusste, wofür das Wohnmobil genutzt werden würde.

Die Vorsitzende fragte auch nach größeren Zusammenhängen im NSU-Komplex und ließ die Bekenner-DVD des NSU in Augenschein nehmen. Das weckte Hoffnung, dass der Senat bereit ist, den Blick auf den gesamten NSU-Komplex zu öffnen und dass er an Aufklärung interessiert ist. Diese Hoffnung wurde jedoch bei der Vernehmung von Beate Zschäpe als Zeugin enttäuscht.

Am 3. und 4. Dezember war sie geladen. An beiden Tagen gab es wieder eine antifaschistische Kundgebung: „Kein Schlussstrich! Keine Show den Täter*innen!“. Die Protestierenden zeigten sich solidarisch mit den angereisten Betroffenen Gamze und Elif Kubaşık, Michalina Boulgarides und Serkan Yildirim. Nachdem die Vorsitzende Richterin die Zeugin Zschäpe eindringlich belehrt hatte, dass sie nun der Wahrheit verpflichtet sei, überließ sie ihr im Laufe des ersten Tags ihrer Aussage oft die Bühne. Zschäpe zeigte sich etwa empört, dass sie überhaupt zu den Taten des NSU insgesamt befragt werden und beim „Urschleim“ (Zschäpe), also dem Untertauchen des NSU und dem Leben im Untergrund, anfangen sollte.

Entsprechend fand sie kaum Worte zu den Mordtaten und Sprengstoffanschlägen des NSU. Auf explizite Nachfrage nach diesen Taten sprach sie von „Scham“, zog aber, wie der weitere Verlauf ihrer Aussage zeigte, nicht die Konsequenz endlich ernsthaft zur Aufklärung beizutragen. Zschäpe wiederholte viel Altbekanntes, sagte fast nichts aus, was nicht schon aus ihren schriftlichen Einlassungen in München, ihrer Aussage vor dem bayerischen Untersuchungsausschuss oder aus der Presseberichterstattung zu ihren polizeilichen Vernehmungen von 2023 bekannt war. Dabei blieb sie ihrer Linie treu: Ihr Umfeld schützen, nichts Wesentliches zur Aufklärung beitragen. In den Presseüberschriften zu diesem Verhandlungstag wurde jedoch meist nur die von Zschäpe behauptete „Scham“ thematisiert.

Als die Richterin erneut über den gesamten NSU-Komplex sprechen wollte, wurde Zschäpe wahrnehmbar wütend und sagte, sie komme sich vor wie eine Angeklagte, sie sei aber eine Zeugin, die ihr Bestes gebe. Anstatt nachzuhaken legte das Gericht eine Pause ein. Nach der Pause fragte die Richterin, ob man anhand des Münchener Urteils über die Taten sprechen könne. Zschäpe hatte zu Beginn ihrer Aussage davon gesprochen, dass sie dieses Urteil vollumfänglich anerkannt habe. Die Richterin benannte alle Mordopfer, wobei sie die Namen großteils völlig falsch aussprach. Zschäpe gab wie im ersten NSU-Prozess an, sie habe sich abgeschottet und sei abgeschottet worden. Von den Morden habe sie erst im Nachhinein erfahren. Sie habe Vorbereitungen mitbekommen, aber nicht gewusst, wo die Uwes konkret hingefahren seien.

Am 4. Dezember fragte die Richterin erneut nach dem Mord an Enver Şimşek am 9. September 2000. Zschäpe sagte, man habe die „Ausländerfeindlichkeit“ aus Jena „mitgebracht“, es gäbe keine plausible Erklärung für die Tat. Man habe sich über andere stellen wollen, „wir waren kleine Würstchen, ganz einfach“. Es gäbe keine Entschuldigung und kein Wiedergutmachen, so Zschäpe weiter. Die (ermordeten) Menschen hätten nichts getan. Wenn das jemand mit ihrer Oma gemacht hätte, dann würde sie das niemals verzeihen, fabulierte Zschäpe weiter. In diesem Moment unterbrach Gamze Kubaşık die verurteilte Mörderin ihres Vaters Mehmet und rief: „Dann sag die Wahrheit! Du bist verantwortlich, dass mein Vater nicht mehr lebt!“ Sie forderte, während sie von Wachleuten aus dem Raum gedrängt wurde, dass Zschäpe ihre Unterstützer preisgibt. Die Verhandlung wurde unterbrochen.

Nach der Pause übergab die Richterin dann bald das Fragerecht an die Bundesanwaltschaft. Diese fragte insbesondere nach dem Innenleben des NSU. Kein Wort war darüber zu hören, dass das Kerntrio lange Zeit nicht zusammengelebt habe, wie zuletzt mit Berufung auf Aussagen Zschäpes beim BKA in der Berichterstattung zu lesen gewesen war.

Die Verteidigung begann ihre Befragung Zschäpes, wurde jedoch nicht fertig. Susann Emingers Rechtsanwalt Uwe Schadt fragte unter anderem zur Gründung der terroristischen Vereinigung NSU und Zschäpes Beteiligung an und innerer Haltung zu einzelnen Taten. Vermutlich ging es hier darum zu unterstellen, dass Zschäpe gar nicht Teil des NSU gewesen sei. Für eine terroristische Vereinigung braucht es aber mindestens drei Personen und Bundesanwaltschaft und OLG München gehen beim NSU bekanntlich (lediglich) von einem Trio aus. Wenn die terroristische Vereinigung wegfiele, fiele auch der Vorwurf der Unterstützung dieser Vereinigung gegen Susann Eminger weg. Zschäpe antwortete, wie von Schadt vermutlich gewünscht. Dieses Aussageverhalten wiederum steht in scharfem Kontrast zum Urteil in München, das Zschäpe vollumfänglich angenommen haben will. Zschäpe war in München nämlich als Mörderin verurteilt worden, aber eben auch dafür, Mitglied der terroristischen Vereinigung gewesen zu sein.

Die Befragung Zschäpes ist noch nicht abgeschlossen, sie wird am 29. Januar fortgesetzt. Der 2. NSU-Prozess wird am 17. und 18. Dezember fortgesetzt.

Übersichtsseite zum 2. NSU-Prozess auf unserer Homepage

Interview mit Antonia von der Behrens, Anwältin der Familie Kubaşık, zum ersten Tag der Aussage von Zschäpe.

„Combat 18 ist eine international agierende elitäre und paramilitärische rechtsextreme Organisation.“

Die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses NSU II/Rechter Terror im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist abgeschlossen. Am 1. Dezember fand die vorerst letzte öffentliche Sitzung des Ausschusses statt. Teile der Sitzungen im November drehten sich erneut um das Thema Combat 18 (C18).

Am 17. November wurde ein Ermittler des BKA gehört, dessen Aufgabe eine Erkenntniszusammenstellung im Prüfvorgang des GBA, ob C18 eine terroristische Vereinigung ist, war. Seinen Bericht finalisierte er 2015. Der Zeuge sagte, diese Erhebung habe nicht zu Erkenntnissen geführt, dass C18 im Jahr 2014 eine „gefestigte Gruppierung“ gewesen sei, die durch das Begehen von Straftaten in Erscheinung getreten ist. Es hätten lediglich „Personenzusammenschlüsse“ festgestellt werden können. Einzelne Personen seien durch Waffenkriminalität und Gewalt auffällig geworden. Auch danach habe er sich weiter mit C18 befasst, so der Zeuge. 2017 sei der Stand gewesen, dass zwar einzelne Personen durch politische Straftaten in Erscheinung getreten sind, es aber keine gemeinsamen Straftaten mit Bezug zur Gruppe gegeben habe. Der Zeuge befasste sich bis 2018 mit dem Thema.

Der Zeuge erwähnte wiederholt die von Exif Recherche veröffentlichte Recherche „Combat 18 Reunion“ von 2018: „Das waren Erkenntnisse, um die wir nicht drumrum kamen“. Diese Informationen zu ignorieren, wäre laut dem Zeugen fahrlässiger gewesen, als sie zu nutzen: „deswegen haben wir es gemacht“.

Die Sachverständige Martina Renner – früher Bundestagsabgeordnete für die Linkspartei, heute freie Journalistin – fand deutlichere Worte zu C18: „Combat 18 ist eine international agierende elitäre und paramilitärische rechtsextreme Organisation.“ Die Organisation verfolge eine zutiefst rassistische und antisemitische Ideologie und bekenne sich offen zur NSDAP. „Combat 18 Deutschland“ habe diverse Publikationen mit Feindeslisten herausgegeben. Es sei zu gewalttätigen Angriffen unter anderem auf Politiker*innen, Migrant*innen, Juden und Jüdinnen sowie linke Zentren aufgerufen worden. C18 sei für extreme Gewaltbereitschaft und Vorbereitungshandlungen für Anschläge bekannt. Renner nannte außerdem Funde von Waffenhortungen und Anleitungen zur Herstellung von Sprengsätzen, beispielsweise bei der Zelle „Combat 18 Pinneberg“ im Jahr 2003. C18 sei auch mit Drohschreiben an Flüchtlingsunterkünfte, Moscheen und Parteizentralen in Erscheinung getreten.

Die Sachverständige stellte dar, dass es im rechtsterroristischen Bereich häufig die Arbeitsteilung einer größeren, wahrnehmbaren Gruppe und einer klandestinen Untergruppe gebe. Dies sei bei Blood & Honor und bei C18 der Fall. Sie nannte aber auch die Kameradschaft Süd und ihre „Schutztruppe“.

Zum Schluss ihrer Aussage stellte sie zusammenfassende Thesen vor: Militante waffenaffine Strukturen würden oft erst im Zusammenhang mit vollendeten Terroranschlägen thematisiert. Die Zersplitterung von Verboten und Strafverfahren werde dem Netzwerkcharakter der Gruppierungen nicht gerecht. Es gebe kaum Kenntnisse zur internationalen Zusammenarbeit insbesondere zu Waffenbeschaffung, Wehrsport, Schießübungen. Kriminelle Aktivitäten müssten als Vereinigungsdelikt betrachtet werden.

Sollte das Bundesamt für Verfassungsschutz ähnliche Erkenntnisse haben, so erfuhr der Untersuchungsausschuss diese sicher nicht vom Zeugen am 24. November. Der unter dem Kürzel „BfV-004“ auftretende Zeuge mit dem Schwerpunkt Bekämpfung Rechtsextremismus speiste den Ausschuss trotz beharrlicher Nachfragen der Abgeordneten mit ziemlich allgemein gehaltenen Angaben ab. In den kommenden Newslettern werden wir auf weitere Aspekte der Anhörungen von Sachverständigen, die in den letzten Wochen im Ausschuss stattfanden, eingehen.

Auf unserer Homepage findet ihr unsere Berichte und Hintergründe zum 2. NSU/Rechter Terror Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern.



Gut zu wissen: Aktuelles aus dem Themenbereich Rechter Terror und Antifaschismus

+++ Platenstraße 1992 – Platenstraße 2025 +++

Seit gut einem Jahr erinnert an der Platenstraße in Köln-Ehrenfeld eine Gedenktafel an den rassistischen Brandanschlag vom 22. Dezember 1992. Sie ist Ausdruck selbstbestimmten Gedenkens und sie zeigt die Kraft politischer Arbeit zur Erinnerung an rechte Gewalt, die nicht länger auf offizielle Schritte für sichtbare Auseinandersetzung und solidarisches Erinnern wartet.

Dort wo diese selbstermächtigt installierte Tafel an einem Baum vor dem Wohnhaus angebracht ist, ging vor 33 Jahren eine als Weihnachtspaket getarnte Brandbombe in Flammen auf. Sie war an eine Familie adressiert, die in dem Haus lebte.

Fatma Ceylan, ihr Mann Ali Rıza, ihre beiden Kinder, die Großeltern und Geschwister waren an diesem Dienstag mit Renovierungsarbeiten beschäftigt. Auch ein Schwager war zur Unterstützung zu Besuch. Vor ihrer Wohnungstür, im dunklen Treppenhaus in der dritten Etage, lag urplötzlich dieses Paket. Es war weihnachtlich geschmückt, eine Weihnachtskarte in deutscher Sprache lag dabei. Doch sie enthielt keine freundlichen Grüße, vielmehr eine Drohung: „Heute Sie, morgen das ganze Haus!“ Das Paket war schwer. Selbst ohne die Botschaft auf der Karte, die die Empfänger*innen nicht recht einordnen konnten, irritierte und beängstigte es. Verwundert nahm Fatma Ceylan das Päckchen hoch und schüttelt es. Offenkundig war eine Flüssigkeit darin.

Dieses Schütteln, dieses Prüfen rettete Famta Ceylan und ihrer Familie, den Hausbewohner*innen und Anwohner*innen der umstehenden Häuser das Leben. Denn durch die Bewegung war offenbar der Abreißzünder beschädigt worden. Als sie das Paket wenig später zu öffnen versuchte, drang eine Stichflamme aus dem Paket. Sie verletzte Fatma Ceylan und ihren Schwager, der wie sie in unmittelbarer Nähe zu dem Päckchen stand. Die Polizeiermittlungen bestätigten unmittelbar nach der Tat: Wäre der Zündmechanismus intakt gewesen, hätte eine immense Explosion das gesamte Haus und sogar die umstehenden Gebäude in Schutt und Asche legen können.

Obwohl der Paketbombenanschlag in der Kölner Stadtgesellschaft und darüber hinaus rasch die Runde machte und die lokale, regionale und sogar internationale Presse berichtete, bekam es nahezu niemand mit, dass die Ermittlungsbehörden kaum sechs Wochen später die Suche nach dem*der Täter*in oder den Täter*innen einstellten. Der Anschlag ist bis heute ungeklärt. Er verschwand aus dem Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft. Während Fatma Ceylan und ihre Familie versuchten, einen Umgang mit den Folgen der Tat zu finden, war der Brandanschlag in der Öffentlichkeit über knapp drei Jahrzehnte hinweg nahezu vollständig vergessen.

Seit Dezember 2024 steht die Tafel in der Platenstraße für die Kraft und den Mut der Familie, die eigene Geschichte mit der Öffentlichkeit zu teilen – verknüpft mit dem Wunsch und der Forderung, dass ein sichtbares Erinnerungszeichen am Tatort auch offiziell eingeweiht und langfristig gesichert werden möge. Bis es soweit ist, laden die Überlebenden, laden Fatma Ceylan und die Initiative Herkesin Meydanı zur Erinnerung an den Anschlag nach Köln-Mülheim ein. Zusammen mit Fatma Ceylan werden Ayfer Şentürk, Akteurin im Theaterstück „Die Lücke 2.0“ und Überlebende des Anschlags auf der Keupstraße, und Gamze Kubaşık, politische Bildnerin, aktiv im Bündnis Tag der Solidaritität Kein Schlussstrich Dortmund auf dem Podium platznehmen. Ihr Blick gilt vor allem der Frage, wie starke Frauen und weibliche Perspektiven auf die Zeit des Anschlages schauen – und was sie in ihrer politischen Arbeit für ein selbstbestimtes Erinnern verbindet. Berivan Kaya wird an diesem Abend mit Gitarre und Gesang eine musikalische Stimme sein..

Die Veranstaltung wird am Montag, den 22.12.2025, dem Jahrestag des Anschlags, im Raum für alle in der Genovevastraße 94 / Ecke Keupstraße stattfinden. Sie beginnt um 18 Uhr. Für Ankündigung und Aktuelles folgt der Initiative Herkesin Meydanı auf ihrer Homepage und auf Social Media.


+++ Der rassistische Mord an Ramazan Avcı vor 40 Jahren +++

Gastbeitrag Ünal aus der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı

Ramazan Avcı kam am 20. Dezember 1959 in Gönen, Türkei, zur Welt. Er war Mechaniker und zog wenige Jahre vor seiner Ermordung nach Deutschland. Auf der Arbeit lernte er seine spätere Verlobte Gülüstan kennen. Sie war zum Zeitpunkt des Mordes an Ramazan hochschwanger. Am 21. Dezember 1985 verabschiedete Ramazan sich von ihr, um mit Freunden seinen Geburtstag zu feiern und sein Auto in der Werkstatt überholen zu lassen. Auf dem Heimweg rief er Gülüstan an und kündigte an, in etwa einer Stunde zu Hause zu sein. Doch dazu kam es nicht.

Aus der Gaststätte „Landwehr“ heraus griffen etwa 30 Skinheads Ramazan Avcı, seinen Bruder Veli und einen Freund an, die in der Nähe auf einen Bus warteten. Die drei Angegriffenen versuchten, vor den Angreifern zu fliehen. Ramazan setzte Reizgas ein und ermöglichte Veli und seinem Freund in letzter Sekunde, sich in den Bus zu retten. Ramazan blieb zurück, floh panisch auf die Fahrbahn. Er wurde von einem Auto erfasst und meterweit durch die Luft geschleudert. Auf dem Boden liegend malträtierten die Täter ihn mit Baseballschlägern, Axtknüppeln und Fußtritten. Sie schlugen auf seine Beine, Becken, Rippen und den Schädel ein. Ramazan Avcı wurde so schwer verletzt, dass er am 24. Dezember 1985 im Krankenhaus starb. Am 31. Dezember 1985 wurde sein Leichnam, begleitet von einem Autokonvoi, zum Hamburger Flughafen gebracht und von dort an seinen Geburtsort in der Türkei überführt. Zehn Tage nach seiner Ermordung wurde sein Sohn geboren, der nach ihm benannt wurde. Heute ist Ramazan Cem Avcı fast 40 Jahre alt.

Am 11. Januar 1986 fand in Reaktion auf den Mord an Ramazan Avcı die erste selbstorganisierte Großdemonstration gegen Rassismus mit 15.000 Teilnehmenden statt.

Die 80er-Jahre

Die Stimmung in diesen Jahren war sehr aufgeheizt, fast täglich kam es zu Übergriffen auf sogenannte „Ausländer“. Bundeskanzler Kohl gab vor, die Zahl der Türken in Deutschland halbieren zu wollen. Die Mörder nahmen dies wörtlich. Bereits am 24. Juli 1985 war Mehmet Kaymakcı von Skinheads in Hamburg ermordet worden. Ein rassistisches Motiv wurde negiert, die Tat wurde als Wirtshausschlägerei dargestellt.

In Stadtteilen wie Wilhelmsburg, Veddel, Bergedorf, St. Pauli und anderswo organisierten sich Jugendliche, um sich gegen diese Hetze und Gewalt zu wehren. Unzählige Anzeigen gegen Rassisten wurden damals durch die Polizei nicht ernsthaft verfolgt oder gar nicht erst entgegengenommen. In den meisten Strafverfahren gegen die Täter wurden rassistische Motive, wenn überhaupt, nur am Rande anerkannt.

Ramazans Mörder wurden schnell gefasst, aber erst nach dem Tod Ramazans wurden fünf Haftbefehle erlassen. Es gab lediglich eine Hausdurchsuchung. Die Politik gab als Marschroute aus, dass der Tod Ramazans nicht „fremdenfeindlich“ sein dürfe, um eine angebliche politische Aufwertung der Täter zu verhindern.

Das Urteil – nicht der erste Skandal einer weißen Justiz

Die Ermittlungen des LKA wurden vom Rockerdezernat und der Abteilung Jugendgewalt geführt, nicht vom Staatsschutz. Die juristische Aufarbeitung folgte der politischen Rahmung. Das Urteil vom 1. Juli 1986 war, wie befürchtet, ein Justizskandal: Totschlag, keine Mordmerkmale feststellbar.

Womöglich, so das Urteil, habe Ramazan die Mörder durch den Reizgas-Angriff provoziert. Als er nach dem Aufprall auf dem Boden lag, konnte Ramazan vermutlich nichts mehr spüren, so dass Grausamkeit als Mordmerkmal nicht eindeutig feststellbar sei, attestierten vom Gericht bestellte Gutachter. Auf die Frage von Richter Peters antworteten die Mörder brav, dass sie nichts gegen Ausländer hätten. Damit war dann für das Gericht auch kein niedriger Beweggrund („Fremdenhass“) feststellbar, obwohl sich die Täter in Neonazi-Strukturen bewegten.

Die Verurteilung der fünf Mörder: einmal 10 Jahre Freiheitsstrafe und einmal 6 Jahre Jugendstrafe wegen gemeinschaftlichen Totschlags, zweimal 3,5 Jahre Jugendstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge und einmal 1 Jahr Freiheitsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung. Weitere Ermittlungen: FehlanzeigeEntschädigung an die Angehörigen: Null.

Die Gründung der Initiative

Als Thilo Sarrazin in seinen Bestsellern Thesen über den Untergang des intelligenten deutschen Volkes durch den Geburtenüberschuss der Muslime verbreitete, gründeten wir als Reaktion zum 25. Jahrestag der Ermordung die Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı. Die Familie Avcı, die wir über eine Zeitungsmeldung wiederfanden, wurde Teil der Initiative. Unsere Forderungen: Die Umbenennung der Straße Landwehr, die Anbringung einer Gedenktafel.

Mit einer performativen Inszenierung erinnerten wir 2010 bei der ersten Kundgebung an Opfer rassistischer Gewalt, indem wir deren Bilder zeigten und ihre Geschichten erzählten. Wir beziehen in unsere Gedenkkundgebungen bewusst Mehmet Kaymakcı, Nguyễn Ngọc Châu, Đỗ Anh Lân, Semra Ertan, Adrian Maleika, Burak Bektaş, Oury Jalloh, Süleyman Taşköprü, Amadeu Antonio, den Lübecker Brandanschlag, Halle, Hanau, das OEZ-Attentat in München und viele andere rassistische, antisemitische und misogyne Taten ein. Für uns symbolisieren sie die rassistische und mörderische Endlosschleife in diesem Land.

Gedenk- und Erinnerungsort

Gedenken und Erinnern brauchen einen sichtbaren Ort. 2012 wurde dieser sichtbare Ort geschaffen: Es gibt den Ramazan-Avcı-Platz, einen Gedenkstein, eine Bushaltestelle und eine Fahrradmietstation mit seinem Namen. Zum 40. Jahrestag der Ermordung setzten sich Studierende der Hochschule für bildende Künste in Absprache mit Gülüstan und der Initiative für die würdige Umgestaltung des Platzes ein. Wir sind optimistisch, dass die Studierenden uns am 21. Dezember 2025 um 14:00 Uhr auf dem neu gestalteten Ramazan-Avcı-Platz bei der Gedenkkundgebung empfangen werden.

Wir gedenken Amadeu Antonio

Amadeu Antonio starb vor 35 Jahren, am 6. Dezember 1990, an den Folgen eines brutalen Angriffs durch Neonazis in Eberswalde. Er kam 1987 als sogenannter Vertragsarbeiter aus Angola in die DDR. In unserem Podcast erinnert sich Augusto Jone Munjunga, Freund und Arbeitskollege von Amadeu Antonio und Mitbegründer des afrikanischen Kulturvereins Palanca e.V. an den Rassismus in der DDR, die mangelnde Strafve

rfolgung der Täter der Hetzjagd auf Amadeu Antonio in der Nacht des 24. November 1990 und die Polizeibeamten, die dabei zusahen.

 

Bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung am 35. Todestag von Amadeu Antonio verlas Augusto Jone Munjunga das Gedicht  „Buder Amadeu“: „Wir sind hier, Bruder Amadeu, um dir zu sagen, dass wir dich nicht vergessen werden“. Marianne vom Verein PAWLO-Masoso e.V. sagte in ihrem Redebeitrag: „Ein Bruder, ein Freund, ein Vater, ein Cousin ist von uns gegangen. Auch 35 Jahre später ist der Schmerz immer noch da.“

 


Shlomo Lewin und Frida Poeschke

Shlomo Lewin und Frida Poeschke wurden vor 45 Jahren, am 19. Dezember 1980, in Erlangen von einem Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann erschossen. Viele Fragen zu dem antisemitischen Doppelmord sind ungeklärt, da zunächst nur gegen das Umfeld der Ermordeten ermittelt wurde.

In Gedenken an Shlomo Lewin und Frida Poeschke hat sich die „Initiative Kritisches Gedenken“ gegründet. Sie fordert Aufklärung und ein offizielles Gedenken. Anlässlich des 45. Jahrestages gestaltete die Initiative gemeinsam mit der Zentrale für Bürger*innenanliegen einen Erinnerungsraum und Ausstellung: „Was bleibt, wenn es gewesen ist?“ Martina Renner und Sebastian Wehrhahn zeigten in einem Artikel für die Zeit, dass Geheimdienste früh Hinweise auf einen rechten Hintergrund hatten – und sie verschwiegen.

 



+++ Termine +++

11. Dezember, Hamburg: Veranstaltung: 40 Jahre nach dem Mord an Ramazan Avcı. 19 Uhr, Rathaus. Mehr Infos hier.

11. Dezember, Bad Freienwalde: „Keine Räume für die AfD. Schulen gegen Hass und Hetze!“ 18:30 UhrErna und Kurt Kretschmann Oberschule. Mehr Infos hier.

12. Dezember, Hannover„Unser Schmerz ist unsere Kraft.“ Lesung & Gespräch mit Gamze Kubaşık und Christine Werner. 16 Uhr, Kulturtreff Vahrenheide. Mehr Infos hier.

12. Dezember, Kiel: Das Deutsche Volk. Rassismus und Gedenken nach Hanau. Dokumentarfilm. 19 Uhr, FKK (Alte Mu). Mehr Infos hier.

13. Dezember, Dortmund„Ein Jahr nach dem Urteil gegen fünf Polizist*innen, die Mouhamed Dramés Tod zu verantworten haben – Reflexionen, Vergleiche, Perspektiven“. Buchpremiere mit Gesprächsrunde & Tresen. 18 Uhr, Nordpol. Mehr Infos hier.

13. Dezember, Berlin: Demo: „Gerechtigkeit für Nelson! Nelson nicht vergessen – Kein Knast für Kids“. 14 Uhr, Oranienplatz. Mehr Infos hier.

17. und 18. Dezember, Dresden: Prozesstage im 2. NSU-Prozess. 17. Dezember, 9:30 Uhr, Landgericht Dresden, 18. Dezember, 9 Uhr, OLG-Außenstelle Hammerweg 26. Mehr Infos hier.

17. Dezember, LübeckHafen­straße. Theaterstück zum Brandanschlag in der Hafenstraße 1996. Schulvorstellung. 11:30 Uhr, Theater Lübeck. Mehr Infos hier.

18. Dezember, Berlin: Veranstaltung: „Das Oktoberfestattentat und der Doppelmord von Erlangen“ mit Ulrich Chaussy und Sebastian Wehrhahn. 19 Uhr, Haus der EKD. Charlottenstraße 53/54. Mehr Infos hier.

Bis 20. Dezember, Erlangen„Was bleibt, wenn es gewesen ist?“ Erinnerungsraum und Ausstellung der Initiative kritisches Gedenken & der Zentrale für Bürger*innenanliegen in Sachen Frida Poeschke und Shlomo Lewin. Goethestraße 29. Mehr Infos hier.

21. Dezember, Hamburg: Kundgebung: „Ramazan Avcı. Ermordet von Neonazis. Kein Vergeben, kein Vergessen!“ 14 Uhr, Ramazan-Avcı-Platz. Mehr Infos hier.

22. Dezember, KölnAnerkennung! Aufklärung! Konsequenzen! Erinnern an den rassistischen Brandanschlag in der Platenstraße 1992. Podiumsdiskussion mit Fatma CeylanAyfer Şentürk und Gamze Kubaşık. 18 Uhr, Raum für Alle. Mehr Infos hier.

Bis 29. Januar, Hemau: Ausstellung „Rechtsterrorismus: Verschwörung und Selbstermächtigung 1945 bis heute“. Zehentstadel Hemau. Mehr Infos hier.

Bis 8. FebruarGraz: Ausstellung „’Man will uns ans Leben‘ Bomben gegen Minderheiten 1993-1996.“ Volkskundemuseum am Paulustor, Gartensaal. Mehr Infos hier.

Bis 7. Juli, Hamburg: Ausstellung „Die Tatorte des NSU. Altonaer Museum. Mehr Infos hier.

Bis auf Weiteres, Mittwoch-Sonntag, Chemnitz„Offener Prozess. Ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex“. Johannisplatz 8. Mehr Infos hier.

Jetzt buchen! Stadtführung: Critical Walk „NSU-Morde in Nürnberg“ der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland e.V. Nürnberg. Preis nach Absprache. Infos und Buchung: isd.nuernberg.buero@isdonline.de. Mehr Infos hier.