Gastbeitrag von Ünal aus der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı
Ramazan Avcı kam am 20. Dezember1959 in Gönen, Türkei, zur Welt. Er war Mechaniker und zog wenige Jahre vor seiner Ermordung nach Deutschland. Auf der Arbeit lernte er seine Verlobte Gülüstan kennen, die zu dieser Zeit hochschwanger war. Am 21. Dezember 1985 verabschiedete er sich von ihr, um mit Freunden seinen Geburtstag zu feiern und sein Auto in der Werkstatt überholen zu lassen. Er wollte das Auto verkaufen, um ein Kinderbett und Einrichtungsgegenstände für das Babyzimmer zu kaufen. Auf dem Heimweg rief er Gülüstan an und kündigte an, in etwa einer Stunde zuhause zu sein. Doch dazu kam es nicht.
Aus der Gaststätte „Landwehr“ heraus griffen etwa 30 Skinheads Ramazan Avcı, seinen Bruder Veli und einen Freund an, die in der Nähe auf einen Bus warteten. Die drei Angegriffenen versuchten, vor den Angreifern zu fliehen. Ramazan setzte Reizgas ein und ermöglichte Veli und seinem Freund in letzter Sekunde, in den Bus, dessen Scheiben eingeschlagen waren, zu fliehen und sich zu retten. Ramazan blieb zurück, floh panisch auf die Fahrbahn. Er wurde von einem Auto erfasst und meterweit durch die Luft geschleudert. Auf dem Boden liegend wurde er mit Baseballschlägern, Axtknüppeln und Fußtritten brutal malträtiert. Sie schlugen auf seine Beine, Becken, Rippen und den Schädel ein.
Ramazan Avcı wurde so schwer verletzt, dass er an Heiligabend, 24. Dezember1985, im Krankenhaus an den Folgen starb. Am 31. Dezember 1985 wurde sein Leichnam, begleitet von einem Autokonvoi, zum Hamburger Flughafen gebracht und von dort an seinen Geburtsort in der Türkei überführt.
Zehn Tage nach seiner Ermordung wurde sein Sohn geboren, der nach ihm benannt wurde.
Heute ist Ramazan Cem Avcı fast 40 Jahre alt.
Am 11. Januar 1986 fand in Reaktion auf den Mord an Ramazan Avcı die erste selbstorganisierte Großdemonstration gegen Rassismus mit 15.000 Teilnehmenden statt.
Die 80er Jahre
Die Stimmung in diesen Jahren war sehr aufgeheizt, fast täglich kam es zu Übergriffen auf sogenannte „Ausländer“. Helmut Kohl gab vor, die Zahl der Türken in Deutschland halbieren zu wollen. Die Mörder nahmen dies wörtlich. Bereits am 24. Juli 1985 war Mehmet Kaymakcı nach einer brutalen Attacke durch Skinheads in Hamburg ermordet worden. „Wir wollten den Türken fertig machen!“, sagten die Mörder. Sie zertrümmerten Mehmet Kaymakcı mit einer 94 Kilogramm schweren Betonplatte den Schädel. Ein rassistisches Motiv wurde negiert, die Tat wurde als Wirtshausschlägerei dargestellt.
In Stadtteilen wie Wilhelmsburg, Veddel, Bergedorf, St. Pauli und anderswo organisierten sich Jugendliche, um sich gegen diese Hetze und Gewalt zu wehren. Viele Jugendliche schlossen sich zu Selbstverteidigungsgruppen wie den „Bombers“ oder „Champs“ zusammen.
Unzählige Anzeigen gegen Rassisten wurden damals durch die Polizei nicht ernsthaft verfolgt oder gar nicht erst entgegengenommen. In den meisten Strafverfahren gegen die Täter wurden rassistische Motive nur am Rande anerkannt.
Die Verharmlosung und Verdrehung der Verbrechen durch Politik, Medien und Justiz stärkte den neonazistischen Gruppen den Rücken und ermunterte sie zu neuen Taten. Hamburger Neonazis wie Christian Worch, Thomas Wulff, Michael Kühnen, Jürgen Rieger und Carsten Wacker konnten ungestört ihre Strukturen ausbauen und blieben dominierende Figuren der deutschen Neonaziszene.
Einer der Mörder Ramazan Avcıs, Rene Wulff, orientierte sich an seinem Bruder, der Neonazi-Führungsperson Thomas Wulff.
Ramazans Mörder wurden schnell gefasst und kamen in Gewahrsam, Haftbefehle wurden zunächst nicht erlassen. Der Sohn des ermittelnden Polizeibeamten war selbst in der Skinhead-Szene aktiv und mit den Mördern befreundet. Wohlwollende Vernehmungen und eine höchstens oberflächliche Beweissicherung waren die Folge. Erst nach dem Tod Ramazans wurden fünf Haftbefehle erlassen. Es gab lediglich eine Hausdurchsuchung.
Die Politik reagierte mit scheinheiliger Empörung, aber als Marschroute wurden ausgegeben, dass der Tod Ramazans nicht „fremdenfeindlich“ sein dürfe, um eine angebliche politische Aufwertung der Täter zu verhindern. Die Verwendung der Wörter „Rassismus“ oder „rassistisch“ war seinerzeit unüblich, dies hätte wohl zu sehr an die Nationalsozialisten erinnert.
Das Urteil – nicht der erste Skandal einer weißen Justiz
Die Ermittlungen des LKA wurden vom Rockerdezernat und der Abteilung Jugendgewalt geführt, nicht vom Staatsschutzdezernat. Die juristische Aufarbeitung folgte der politischen Rahmung. Das Urteil vom 1. Juli 1986 war, wie befürchtet, ein Justizskandal: Totschlag, keine Mordmerkmale feststellbar.
Das juristische Drehbuch: Ramazan hatte womöglich die Mörder durch den Reizgas-Angriff provoziert. Notwehrsituation für die Mörder und nicht für Ramazan? Wer ist Täter, wer Opfer? Blame the victim! Als er nach dem Aufprall auf dem Boden lag, konnte Ramazan vermutlich nichts mehr spüren, so dass Grausamkeit als Mordmerkmal nicht eindeutig feststellbar sei, wie vom Gericht bestellte Gutachter attestierten. Grausamkeit ausgeschlossen, wenn das Opfer bei den Schlägen ohnmächtig wird: Eine Anleitung für Mörder.
Auf die Frage von Richter Peters antworteten die Mörder, brav vorbereitet, dass sie nichts gegen Ausländer hätten. Damit war dann für das Gericht auch kein niedriger Beweggrund („Fremdenhass“) feststellbar, obwohl sich die Täter in Neoazi-Strukturen bewegten.
Juristisch wurde fein herausgearbeitet, was politisch gewünscht war: kein rassistisches Motiv.
Die Verurteilung der fünf Mörder lautete im Wesentlichen: einmal 10 Jahre Freiheitsstrafe und einmal 6 Jahre Jugendstrafe wegen gemeinschaftlichen Totschlags, zweimal 3,5 Jahre Jugendstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge und einmal
1 Jahr Freiheitsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung.
Weitere Ermittlungen: Fehlanzeige. Entschädigung an die Angehörigen: Null.
Einzelfälle und Einzeltäter in Serie. Die rassistische Endlosschleife.
Die Gewalttaten wiederholen sich nach dem gleichen Muster seit den 1980ern. Menschen werden ermordet. Die Angehörigen werden mit den Folgen der Morde alleine gelassen. In vielen Fällen werden die Opfer zu Tätern gemacht. In wenigen Fällen werden Täter präsentiert. Die Tat wird als solche entpolitisiert, verharmlost und individualisiert. Gesellschaftliche und staatliche Verantwortung wird geleugnet.
Bei der Bekämpfung von Rassismus und Faschismus kann man sich nicht auf staatliche Institutionen verlassen, wie Esther Bejarano mahnte. Bei rassistischen Gewalttaten muss eine vom Staat unabhängige Kommission von Anfang an ermitteln und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft ihre Ergebnisse öffentlich diskutieren. Rassistische Ermittlungen, Vertuschungen und institutionelle Fehlentscheidungen müssen disziplinarisch und strafrechtlich verfolgt werden, unter Einbeziehung unabhängiger Kontrollgremien. Die Stephen-Lawrence-Kommission in England kann hier als Vorbild dienen.
Die Gründung der Initiative
Als Thilo Sarrazin durch die Medien zog und seine rassistischen Bestseller-Thesen über den Untergang des intelligenten deutschen Volkes durch den Geburtenüberschuss der Muslime verbreiten durfte, gründeten wir als Reaktion, zum 25. Jahrestag der Ermordung die „Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı“. Die Familie Avcı, die wir über eine Zeitungsmeldung wiederfanden, wurde Teil der Initiative. Wir folgten der Kernaussage des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi:
„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Unsere Forderungen, die wir bereits Anfang der 1990er Jahre nach Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen in Hamburg zum Teil gestellt hatten, griffen wir erneut auf: Die Umbenennung der Straße Landwehr, die Anbringung einer Gedenktafel.
Mit einer performativen Inszenierung erinnerten wir bei der ersten Kundgebung 2010 an Opfer rassistischer Gewalt, indem wir deren Bilder zeigten und ihre Geschichten erzählten.
Wir beziehen in unsere Gedenkkundgebungen bewusst Mehmet Kaymakcı, Nguyễn Ngọc Châu, Đỗ Anh Lân, Semra Ertan, Adrian Maleika, Burak Bektaş, Oury Jalloh, Süleyman Taşköprü, Amadeu Antonio, den Lübecker Brandanschlag, Halle, Hanau, das OEZ-Attentat in München und viele andere rassistische, antisemitische und misogyne Taten ein. Für uns symbolisieren sie die rassistische und mörderische Endlosschleife in diesem Land.
Gedenken und Erinnern
Die Vergangenheit wirkt in die Gegenwart hinein und bestimmt die Zukunft mit. Das Erinnern ist nicht nur Trauerbewältigung, sondern auch Forderung nach gesellschaftlicher und individueller Verantwortungsübernahme jenseits von Schuldzuweisungen. In einer rassifizierten Gesellschaft ist es unmöglich, sich nicht rassistisch zu verhalten, da wir gewollt oder ungewollt durch unsere Privilegien Profiteure dieser Herrschaftsverhältnisse sind. Wir benennen Rassismus als systemimmanent und weisen nicht nur auf inländische Morde, Alltagsrassismus, institutionellen Rassismus und polizeiliche Morde hin. Rassismus im Inland kann nicht ohne den Rassismus an den Außengrenzen Deutschlands und Europas bei der Migrationsabwehr gedacht werden.
Durch die antirassistischen Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte wurde erreicht, dass sich Migrierte und Flüchtlinge nicht mehr an den Rand drängen lassen. Sie nehmen es nicht hin, dass andere in ihrem Namen sprechen und ihre Forderungen formulieren. Sie wollen sichtbar und wahrnehmbar sein und fordern ihren Platz in der Gesellschaft ein. Damit agieren sie als Subjekte und bestimmen ihre Geschichte und Erlebnisse selbst.
Die Frage, was erinnert wird, hing bis dahin davon ab wie staatliche Akteure eine Erinnerungskultur wirkmächtig vorgaben. Der staatlichen Erzählung der Morde wird nun eine andere Realität entgegengesetzt. Die staatliche Hegemonie wird durchbrochen.
Das Erinnern ist dabei kein Selbstzweck, sondern unsere Botschaft. Es ist zugleich Mahnung und Selbstschutz. Der Botschaft der Täter, dass die Opfer aus der Gesellschaft gelöscht werden sollen, können wir entgegentreten, indem wir gemeinsam mit den Opferangehörigen erklären: Wir sind hier und wir sind Teil dieser Gesellschaft!
Gedenk- und Erinnerungsort
Gedenken und Erinnern brauchen einen sichtbaren Ort der Trauer und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. 2012 wurde dieser sichtbare Ort geschaffen: Es gibt den Ramazan-Avcı-Platz, einen Gedenkstein, eine Bushaltestelle und eine Fahrradmietstation mit seinem Namen.
Zum 40. Jahrestag der Ermordung setzten sich solidarische Studierende der Hochschule für bildende Künste, die sich in der Nähe des Tatortes befindet, in Absprache mit Gülüstan und der Initiative unermüdlich für die würdige Umgestaltung des Platzes ein. Alle erforderlichen bürokratischen Genehmigungen für die Umgestaltung des Platzes wurden von den zuständigen Behörden erteilt.
Eine Kurzversion dieses Gastbeitrags erschien zuerst in unserem monatlichen Newsletter „Aufklären und Einmischen“. Ihr wollt auf dem Laufenden bleiben? Hier den Newsletter abonnieren!