Kölner Keupstraße im NSU-Prozess

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Zehn Jahre nach dem Bombenanschlag in der Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim wird die Beweisaufnahme zu dieser Tat des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) im Prozess gegen Beate Zschäpe und vier NSU-Unterstützer beim Oberlandesgericht (OLG) München beginnen.

 Von Alexander Hoffmann, Nebenklagevertreter, zuerst veröffentlicht in Der Rechte Rand Nr. 148, Mai/Juni 2014

Am 9. Juni 2004 kurz vor 16 Uhr explodiert eine auf einem Fahrrad mon tierte Nagelbombe vor einem Friseurgeschäft mitten in der Keupstraße. Offiziell werden 22 Menschen verletzt. Drei davon sind so schwer verletzt, dass sie intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Viele Verletz te melden sich nicht, weil die einsetzende Ermittlungsarbeit der Polizei deutlich macht, dass sie nicht als Opfer, sondern als TäterInnen behan delt werden: Die Behörden ermitteln fast ausschließlich gegen Anwohne rInnen der Keupstraße. Erst im November 2011 wird bekannt, dass der Anschlag auf das Konto des NSU geht. Der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Unterstützer in München läuft seit mehr als einem Jahr. Die zeitliche Planung des Vorsitzenden hatte ursprünglich vorgesehen, die einzelnen zehn Morde sowie den Anschlag in der Kölner Probsteigasse innerhalb von fünf Monaten abzuarbeiten. Zur Zeit hängt der Prozess aber in der Beweisaufnahme zum Entstehen der terroristischen Vereini gung »NSU« nach dem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschä pe sowie zu deren Struktur, UnterstützerInnen und Arbeitsweise fest. Das Schweigen, Lügen und Beschönigen der ehemaligen FreundInnen und KameradInnen des »Trios« ist enorm aufwändig. Immerhin ist inzwischen deutlich geworden, dass das Netzwerk der MittäterInnen und Unterstüt zerInnen keineswegs nur ein Netzwerk persönlicher FreundInnen, son dern politisch-ideologisch motiviert war.

Ein Neonaziattentat wird den Opfern angelastet

Der Anschlag in der Keupstraße ist auf drei Ebenen für die Bedeutung der Mordserie des NSU exemplarisch: Das Attentat mit einer Sprengladung von bis zu 5,5 kg Schwarzpulver, um das herum mehr als 700 Zimmermannsnägel mit 10 cm Länge platziert waren, war darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen in der überwiegend von EinwanderInnen familien aus der Türkei bewohnten und frequentierten Einkaufs- und Restaurantstraße zu töten oder schwer zu verletzen. Die zeitliche Planung – die Bombe wurde an dem heißen Sommertag kurz vor 16 Uhr gezündet – zielte darauf, neben Erwachsenen auch Kinder und Jugendliche zu töten. Die Bauart der Bombe ließ keinen Zweifel daran zu, dass hier wahllos AnwohnerInnen getroffen werden sollten. Dieser Anschlag richtete sich gegen »Nichtdeutsche«. Weil eine Differenzierung zwischen den verschiedenen, in der Keupstraße wohnenden Menschen nicht möglich war, hätten Verdächtige mit Wohnsitz und Familie in dieser Straße ausscheiden müssen, ein rassistisches Motiv deutscher Nazis drängte sich auf.

Gleichwohl schickten die beiden Polizeibeamten, die offiziell als erste am Tatort waren, noch am 9. Juni 2004 gegen 21 Uhr einen ersten Bericht an die Kriminalpolizei und die gerade gegründete Sonderermittlungsgruppe, der als mögliche Täter des Bombenanschlages ausschließlich BewohnerInnen der Keupstraße und organisierte türkische Kriminelle in Betracht zog. Bereits am 10. Juni 2004 trat der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) öffentlich auf und teilte mit, es lägen Hinweise vor, auf Grund derer eine politische, rassistische Tatmotivation ausgeschlossen werden könne.

Dabei wäre der Bombenanschlag in der Keupstraße auf den ersten Blick als Neonazianschlag erkennbar gewesen. Durch die sehr schnell gefundenen Videoaufnahmen des in Tatortnähe liegenden Senders »VIVA«, der mit zwei Videokameras kontinuierlich die Straße aufzeichnet, konnten auch zeitnah zwei Fahrradfahrer als mögliche Täter festgestellt werden; die Parallelität zu den anderen NSU-Morden hätte offensichtlich sein müssen. Allerdings zeigten sowohl die öffentlichkeitswirksame Intervention des Bundesinnenministeriums als auch die ständigen Hinweise der Polizei auf neue »Spuren« Wirkung. Viele Menschen gingen davon aus, dass die Ermittlungsbehörden tatsächlich konkreten Hinweisen nachgehen würden. Dass diese systematisch und mit unglaublichem Aufwand ihre rassistischen Vorurteile auslebten und konkrete Hinweise auf eine Begehung durch Nazis aktiv ignorierten, konnten sich die wenigsten vorstellen.

In der Keupstraße jedenfalls ging die Angst um:

  • vor der Polizei, die jeden Stein umdrehte, jedes Geschäft durchleuchtete, jedeN VerwandteN, politische Hintergründe und Steuererklärungen, Einreisen und Ehen überprüfte.
  • vor den NachbarInnen und MitbewohnerInnen, weil irgendwann die Behauptungen der Polizei, die »Kurden«, die »Grauen Wölfe« oder türkische Kriminelle hätten hier eine Abrechnung durchgeführt, Misstrauen und Ängste schürten.
  • vor Neonazis, die scheinbar selbst nach einem solchen Anschlag nicht verfolgt wurden.

Keine glaubhafte Entschuldigung

Durch dieses gegenseitige Misstrauen wurde die Möglichkeit der Betroffenen zerstört, als Kollektiv »Keupstraße« aufzutreten und sich gegen die Kriminalisierung zu wehren, eigene, gemeinsame Forderungen zu stellen sowie gemeinsam die Erfahrungen aufzuarbeiten. Einzelne versuchten ihre Rechte als Verletzte des Anschlages durchzusetzen. Andere wur- den in der von Gewerbetreibenden gegründeten IG Keupstraße e.V. aktiv, die versuchte von der Stadt Hilfe beim wirtschaftlichen Wiederaufbau der Straße zu erhalten. Durch die Furcht vor weiteren Anschlägen waren die Geschäfte – Gaststätten, Läden und Dienstleister – in ihrer Existenz bedroht, und damit die wirtschaftliche Grundlage vieler

Insoweit entsprach die Situation in der Keupstraße dem, was viele MigrantInnen in den Jahren der NSU-Morde erlebten: Angst, das Gefühl von den deutschen Behörden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt zu werden, als Verdächtige, nicht als Opfer, und Misstrauen gegenüber ihrer Umgebung. An dieser Stelle waren die mörderischen Aktivitäten des NSU erfolgreich, denn es gelang hierdurch, die Spaltung zwischen »Deutschen« und »EinwanderInnen« zu verstärken, das Vertrauen von EinwandererInnen, egal ob mit oder ohne deutschen Pass, in die deutschen Behörden zu zerstören. Die Aufdeckung der Täterschaft durch das Bekennervideo des NSU änderte an dieser Situation zunächst wenig. Natürlich war die Tatsache befreiend, endlich die Bestätigung zu haben, dass niemand aus der Keupstraße den Anschlag begangen hatte. Aber die sieben Jahre hatten ihre Wirkung entfaltet. Immerhin konnten sich einige noch entscheiden, ihr bisheriges Schweigen zu durchbrechen und sich als Opfer des Anschlages zu erkennen zu geben. Andererseits folgte auf das allgemeine staatliche Betroffensein bis heute weder eine glaubhafte Entschuldigung für die Ausgrenzung, noch eine tatsächliche Wiedergutmachung. Die wenigen tausend Euro, die als Entschädigung für Verletzungen und Leid angeboten und ausgezahlt wurden, erschienen als billiges Schweigegeld. Die Erklärungen führender PolitikerInnen, es würde alles getan, um die Mordserie vollständig aufzuklären, waren bloße Ankündigungen.

Mögliche Abtrennung vom Hauptprozess

Das Misstrauen gegen die Ermittlungsbehörden wurde noch einmal bestärkt, als kurz nach Prozessstart in München die Drohung erhoben wurde, den »Tatvorwurf Keupstraße« vom Prozess abzutrennen. Dies hätte bedeutet, dass der Vorwurf der Zündung der Bombe in der Keupstraße gegen Beate Zschäpe, irgendwann nach Beendigung des Strafprozesses in München in einem eigenständigen Prozess verhandelt hätte werden müssen.

Vorangegangen waren Beschwerden von Verletzten des Anschlages, dass die Polizei niemals flächendeckend alle möglichen Opfer des Anschlags über ihre Rechte als NebenklägerInnen informiert hatte. Im Januar 2013 hatten immerhin erste Tatopfer erreicht, dass sie als NebenklägerInnen zugelassen wurden, weil das OLG die Tat als versuchten Mord gegen alle in der direkten Umgebung aufhältigen Personen wertete. Alle diese Personen waren nebenklageberechtigt. Das Münchner OLG befürchtete nun, es könnte eine Vielzahl weiterer NebenklägerInnen hinzukommen und dadurch die Hauptverhandlung in den ohnehin begrenzten Räumen des Münchener Landgerichts unmöglich machen.

Mit einem Minimum an strafprozessualem Sachverstand musste klar sein, dass eine solche Abtrennung bedeuten würde, dass der Anschlag Keupstraße nie verhandelt werden würde: zum einen, weil ein weiterer Prozess parallel zu dem in München nicht durchführbar wäre; zum anderen, weil nach erfolgreicher Verurteilung von Zschäpe in München kein strafrechtliches Bedürfnis mehr für eine weitere Strafe bleiben würde. Das Verfahren würde in einigen Jahren still und leise im Hinblick auf die Verurteilung der Angeklagten Zschäpe durch das OLG München eingestellt werden. Doch der politische Preis für die relative Beruhigung der Hauptverhandlung war dem OLG München zu hoch, es blieb bei der Drohung mit Abtrennung. Die Abtrennung hätte den Prozess gegen die NebenklägerInnen gewendet und ihm jegliche gesellschaftliche Ausgleichsfunktion genommen.

Beweisaufnahme kurz nach dem 10. Jahrestag

Die Beweisaufnahme zum Nagelbombenanschlag in der Keupstraße wird nun kurz nach dem 10. Jahrestag erfolgen. Neben dem BekennerInnenvideo liegen einige Beweise dafür vor, dass die Keupstraße ausgespäht, ein Mietauto für die Tat verwendet wurde und dass »das Trio« die Pressereaktion auf den Anschlag dokumentiert hat. Die Frage der Verurteilung von Beate Zschäpe stellt sich hier genau wie in den Mordfällen: War sie gleichberechtigtes, mitbestimmendes Mitglied und hatte damit auch zumindest eine geringe Tatherrschaft? Es ist anzunehmen, dass das Gericht diese Frage mit ja beantworten wird, nicht nur aufgrund der Beweislage, sondern auch aus Staatsräson.

Für viele BewohnerInnen der Keupstraße ist dies aber nicht die Haupt- frage. Sie versuchen nun, mit einer großen Mobilisierung nicht nur zum Prozess, sondern auch zum Jahrestag, unter dem Motto »Keupstraße ist überall« (www.keupstrasse-ist-ueberall.de) ihre Position sichtbar zu machen. Wer den Opfern der NSU-Verbrechen gerecht werden will, muss zweierlei liefern: rückhaltlose Aufklärung über jede staatliche Schmerzgrenze hinweg und zwar nicht nur bezüglich des Neonazi-Netzwerkes, der beteiligten V-Leute und staatlichen Stellen, sondern auch bezüglich einer Polizei, die aus Opfern TäterInnen macht, die rassistische Vorstellungen als Leitbild ihrer Ermittlungen benutzt und bis heute keine Konsequenzen ihrer bewussten und systematischen Aufklärungsvereitelung erleiden musste.

Aus diesem Grunde wird der Jahrestag des Anschlages in der Keupstraße auch nicht nur mit großen Konzerten der »AG Arsch Huh« am Pfingstwochenende, sondern auch mit zahlreichen Veranstaltungen in der Keupstraße selbst begangen. Es bleibt zu hoffen, dass die AktivistInnen aus der Keupstraße durch alle Veranstaltungen zum Jahrestag in ihrem Kampf um die Überwindung ihrer Opferrolle tatsächlich unterstützt werden, und der Gedenktag nicht nur dazu führt, dass sich die deutsche »Zivilgesellschaft« selbst feiert.