Ein Jahr NSU Prozess: Die Debatte um Rassismus bleibt aus

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Ein Jahr NSU Prozess: Die Bilanz fällt gemischt aus – je nach Erwartungshaltung. Was definitiv zu kurz kommt, ist eine Debatte über Rassismus. Diese blieb aber auch nach Mölln aus, sie blieb nach Solingen aus, sie kam nicht nach Rostock-Lichtenhagen und auch nicht nach Hoyerswerda. Warum hätte sie nach Zwickau kommen sollen?

von Mehmet Gürcan Daimagüler (Nebenklagevertreter im NSU-Verfahren), Zuerst veröffentlicht als Vorwort der Berliner Zustände des apabiz und der MBR Berlin.

Der Beginn des NSU-Verfahrens jährt sich zum ersten Mal. Mehr als Hundert Verhandlungstage sind vergangen und die Zwischenbilanz fällt ermutigend und ernüchternd zugleich aus. Wir haben heute ein sehr viel klareres Bild über die Rolle der Angeklagten, mal mehr, mal weniger, aber doch genug, dass es sehr wahrscheinlich am Ende für eine Verurteilung im Sinne der Anklage reichen wird. Das ist befriedigend für alle jene, für die eine Verurteilung der Angeklagten das primäre Ziel des Verfahrens ist.

Für die Menschen, die im Verfahren Antworten auf zentrale Fragen erwartet haben, ist der Verlauf des Prozesses jedoch frustrierend. Dies gilt vor allem für die Angehörigen der Mordopfer. Wir konnten aus ganz normalen Jugendlichen hasserfüllte Feinde der Menschlichkeit werden? Welchen Einfluss hatte die alltägliche Sprache von Akteuren der politischen Mitte, in der über Flüchtlinge, Arbeitsmigranten oder Sinti und Roma gesprochen wird? Wer gehört zum Netzwerk des NSU? Wer hat wo als Helfer und Unterstützer gedient? Welche Rolle haben V-Leute und Verfassungsschutzbehörden gespielt? Wieso wurden Akten geschreddert? Wie gehen wir mit institutionellem Rassismus in den Sicherheitsbehörden um, der konsequent Opfern verbot, Opfer zu sein und Neo-Nazis als potenzielle Täter ausblendete? Diese Fragen werden staatlicherseits nicht gestellt, geschweige denn beantwortet.

Niemand war so naiv zu glauben, dass dieses Verfahren die Antwort auf alle Fragen bringen würde oder dass am Ende die Wahrheit ans Licht kommen könnte, nach all den Jahren, nach all den verschwundenen Akten. In unserem Land wird seit Abschluss des Untersuchungsausschusses vor dem deutschen Bundestag mehr und mehr die Ansicht propagiert: Wir haben doch umfassend aufgeklärt, nun können wir die Sache endlich zu den Akten legen und weitermachen. Der Prozess in München bildet in diesem Kontext den letzten Ankerpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Gerade in einem solchen Fall kann und muss die Funktion über die bloße Feststellung der Schuld oder Unschuld der Angeklagten hinausgehen. Doch Wahrheit ist ein großes Wort, offenbar zu groß für ein Verfahren vor einem Gericht unter diesen Umständen.

Es musste darum gehen, sich der Wahrheit anzunähern, ihr so nahe wie möglich zu kommen und am Ende zumindest das Gefühl zu haben: Wir haben alles gegeben, wir haben es versucht. Es macht einen Unterschied, ob man es ehrlich versucht hat und gescheitert ist, oder ob man scheitert, ohne es auch nur versucht zu haben. Für viele Opferangehörige hängt von dieser Unterscheidung die Frage ab, ob sie Frieden finden oder nicht, ob sie diesem Land Vertrauen schenken können oder nicht, ob sie in der Nacht schlafen können oder nicht. Dieser Friede ist ihnen bislang verwehrt und ob er sich im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München finden lässt, darf bezweifelt werden. Vielleicht war es auch naiv zu glauben, dass die Mordtaten des NSU zu einer gesellschaftlichen Debatte über Rassismus und zu einem Kampf gegen Rassismus führen würden. Diese Debatte blieb nach Mölln aus, sie blieb nach Solingen aus, sie kam nicht nach Rostock-Lichtenhagen und auch nicht nach Hoyerswerda. Warum hätte sie nach Zwickau kommen sollen?

Was wir hingegen hätten erwarten dürfen, ist, dass Spitzenpolitiker ihre Lehren nach dem Staatsversagen ziehen. Man kann den NSU nicht isolieren und vom Rest des Landes trennen. Man kann das Geschehene nicht in Untersuchungsausschüsse und Gerichtsgebäude einmauern und so tun, als hätten die Vorgänge nichts mit dem Rest des Landes zu tun. Genauso wenig kann man das Geschehene von den Politikern, ihrer Politik und ihren Worten isolieren. Politik hat Konsequenzen und Worte haben Konsequenzen. Seit vielen Jahren wird eine Politik propagiert und umgesetzt, die auf Abschottung setzt und Migranten fein säuberlich nach ökonomisch „wertvollen“ und „wertlosen“ unterscheidet. Die Ersteren sollen – und auch dies oft nur in der Theorie – willkommen sein. Die Letzteren sollen sehen, wo sie bleiben, solange es nicht Deutschland ist. Entsprechende Worte sind schnell gefunden. „Sozialschmarotzer“ und „Betrüger“ sind an dieser Stelle noch harmlose Umschreibungen. Es passt in diese Tonlage, wenn Horst Seehofer verspricht, „bis zur letzten Patrone gegen die Einwanderung in die Sozialkassen“ zu kämpfen.

Damit schafft die Politik der gesellschaftlichen Mitte eine Atmosphäre, in der ein Teil unseres Landes zu „Parasiten“ stilisiert wird. Wen kann es dann wundern, dass eine extreme Rechte entsteht, welche den Worten der Mitte Taten folgen lässt. Der von der Politik vielbeschworene und selten geführte „Kampf gegen Rechts“ muss in der Politik anfangen, in seinen Gesetzen wie in seiner Sprache. Sich zu empören über die Mordtaten des NSU ist einfach und billig zu haben. Sich selbst zu hinterfragen und Konsequenzen zu ziehen, ist ungleich schwerer. Solange keine ernsthafte Debatte und ein Umdenken in der Politik einsetzt, sollten wir uns über die Fortsetzung dieser Defizite in unserer Gesellschaft nicht wundern.

Im Sommer letzten Jahres fand eine bemerkenswerte Plenarsitzung im Deutschen Bundestag statt. Der Untersuchungsausschussbericht zum NSU wurde vorgestellt. Bemerkenswert war diese Sitzung nicht so sehr wegen des Gesagten, sondern wegen des Unausgesprochenen. Eine Abgeordnete wagte es schüchtern, von institutionellem Rassismus zu sprechen. Alle anderen Redner schwiegen zu diesem Thema. Ein Abgeordneter forderte eine Debatte zum Rassismus anstatt die Gelegenheit zu nutzen, genau dies zu tun. Welcher Anlass hätte besser gepasst? Ein FDP-Abgeordneter entblödete sich nicht, von einer „Sternstunde des Parlaments“ zu schwadronieren. Wenn „Sternstunde“ bedeutet, auf schmerzende Themen zu verzichten und den Blick in den Abgrund zu vermeiden, dann war es dies bestimmt. Wollte man den NSU und seine Taten als Katharsis verstehen, nämlich als die Läuterung der Seele durch eine Katastrophe, dann war diese Debatte wie auch der Bericht selbst in weiten Teilen eine verpasste Chance.

Manchmal werde ich gefragt, ob nach allem, was wir heute wissen, in Zukunft die Taten des NSU noch einmal möglich wären. Natürlich wären sie möglich, muss die ehrliche Antwort lauten. Was hat sich denn bislang geändert? Was soll sich denn in Zukunft ändern? Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wer kann garantieren, dass nicht hier und jetzt die Gesinnungsfreunde des NSU weitermorden?

Mord und Totschlag werden immer wieder verübt, Menschen sterben und oft erfahren wir nie, wer oder was hinter den Taten steckt. Vor einem Monat jährte sich die Ermordung des jungen Burak Bektaş zum zweiten Mal. Auf offener Straße in Neukölln wurden er und seine Freunde angeschossen, er starb noch am Tatort. Wie beim NSU gab es kein Bekennerschreiben. Wurde die Möglichkeit eines rechtsradikalen Hintergrundes wirklich umfassend und gründlich geprüft? Wurden alle offenen Altfälle aus dem Bundesgebiet mit dem Tod Buraks verglichen?

Dass Nazi-Mörder Bekennerschreiben hinterlassen, ist ein Mythos, den die Sicherheitsbehörden auch beim NSU immer wieder fälschlich unterstellt haben. Der Tod Burak Bektaş sei nur exemplarisch genannt. Nicht hinter jedem Busch sitzt ein Nazi-Terrorist. Womit wir spätestens seit dem NSU jedoch aufhören müssen, ist so zu tun, als gäbe es keine Nazi-Terroristen.

Das NSU-Verfahren ist noch lange nicht am Ende und mit ihm auch nicht die Hoffnung, dass wir ein größeres Bild über das Geschehene bekommen. Entscheidend ist aber nicht, was im Gerichtssaal geschieht, sondern außerhalb des Gerichtssaals. Nicht Juristen sind gefragt, sondern Bürger.