Zurück schauen: Konsequenzen aus zwei Jahren Wissen über den NSU

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Die sogenannte Selbstenttarnung des NSU ist nun mehr als zwei Jahre her. Zwei Jahre, in denen einerseits viele Menschen an der Aufklärung über die Taten des NSU, über sein Umfeld und seine Strukturen gearbeitet haben. Zwei Jahre, in denen andererseits Refugees und nicht-weiße Deutsche neue Kämpfe und Diskussionen führen, aber Analysen und Kämpfe gegen Neonazis und behördlichen und gesellschaftlichen Rassismus nicht zusammengefunden haben.

Erschienen im monitor – rundbrief des apabiz e.v. ausgabe nr. 62, dezember 2013

Gedenken an den ermordeten Burak B. in Berlin-Neukölln (2013) (c) Christian Ditsch/version-foto

Gedenken an den ermordeten Burak B. in Berlin-Neukölln (2013) (c) Christian Ditsch/version-foto

Der NSU war und ist eine Zäsur in der Geschichte des Rassismus nach 1945 in Deutschland. Bei den schockierenden Erkenntnissen, die wir aus seiner bloßen Existenz, der dahinter stehenden Ideologie und seiner vermuteten Arbeitsweise, aber auch aus dem Umgang damit in Behörden, Presse und Gesellschaft ziehen müssen, verbietet sich ein einfaches »weiter wie bisher«. Für unser Projekt stellen sich »zwei Jahre später« im wesentlichen zwei Fragen: müssen wir aufgrund der neuen Fakten die Geschichte der bundesdeutschen Nazi-Szene der letzten 30 Jahre in wesentlichen Teilen revidieren? Und: wie müssen wir angesichts der offenbaren Tatsachen über gesellschaftlichen und behördlichen Rassismus unsere eigene Arbeit verändern?

In unserer eigenen Arbeit und der befreundeter Recherche-Strukturen hat der NSU einen prominenten Platz eingenommen. Seither liegt viel neues aber auch altbekanntes Wissen über die Nazi-Szene auf dem Tisch. Unsere Archive und bundesweit verfügbare alte Fotobestände wurden wieder und wieder nach diversen Neonazis durchsucht, über die in den 1990er- oder 2000er-Jahren vielleicht mal Wissen in den Köpfen lokaler Antifaschist_innen präsent war, deren Aufspüren und Kontextualisierung heute eine oft sehr mühsame – aber durchaus spannende – Rückwärtsrecherche bedeuteten. Es ist erstaunlich, was dort alles wieder zum Vorschein kommt, wie viele Spuren auch klandestin organisierte Neonazis hinterlassen haben und wie groß und kompetent das Netzwerk engagierter antifaschistischer Rechercheur_innen und Journalist_innen war und ist.

»Aufbewahren für alle Zeit«

Die den NSU begleitende Arbeit von antifaschistischen Gruppen hat bewiesen, wie wichtig und unverzichtbar kontinuierliche, akribische und unabhängige Recherche ist. Ihr darf es nicht alleine darum gehen, einen sensationellen Artikel zu schreiben, den die Presse oder auch die Politik aufgreift, damit dann die Zivilgesellschaft und die Behörden unter Druck gesetzt werden, etwas gegen die betreffenden Nazis zu tun. Antifaschistische Recherche braucht einen langen Atem. Ein vielfältiges Netzwerk ist in der Lage, auch die Details, die Hinweise aufzubewahren, die weniger für eine aktuelle heiße Story taugen aber zukünftig ein Puzzlestück zur Beschreibung der neonazistischen Aktivitäten sein können. Die Erfolge der antifaschistischen Projekte heute zeigen, dass es eine in den Regionen und in der Breite vernetzte Dokumentation und Recherche benötigt und keine zentralisierten Strukturen, und schon gar nicht von staatlichen Geldern abhängige.

Daher ist in unseren Augen das Projekt NSU-Watch als überregionales Netzwerk mehr als nur der Versuch, den besonderen Anforderungen während des NSU-Prozesses in München gerecht zu werden. Wir wollen damit auch versuchen, die Kompetenz und die Vielseitigkeit der Analysen aus den Regionen deutlich zu machen und ihnen eine unübersehbare Plattform zu geben. Das gleiche gilt für unser Internet-Projekt Rechtes Land, das allmählich Gestalt annimmt.

Drahtzieher im braunen Netz

Ein zentraler Punkt für eine Neubewertung unserer Arbeit ist unser Wissen aus den Untersuchungsausschüssen zum NSU über das V-Leute-System innerhalb der Naziszene, dessen Ausmaß eine Größe erreicht hat, die – trotz seit Jahren bekannter Fälle wie Tino Brandt, Carsten Szczepanski und Marcel Degner – einer revidierten Analyse bedarf.
Mittlerweile muss davon ausgegangen werden, dass es kaum eine überregional aktive bzw. relevante Neonazistruktur ohne V-Leute von Inlandsnachrichtendiensten gegeben hat. Ohne das V-Leute-System wäre den sowohl im Hinblick auf die Anzahl der AktivistInnen als auch Organisationen überschaubaren und hierarchischen Neonazistrukturen der 1990er Jahre der Sprung zur Neonazibewegung in den 2000er Jahren nicht gelungen.[1]

Angesichts der mit diesen Thesen verbundenen Fakten, die während der Untersuchungen zum NSU zutage gekommen sind, drängt sich heute die Frage auf, ob wir an den bisherigen Darstellungen über die Dynamik der neonazistischen Gruppen in den 1990er- und 2000er-Jahre festhalten können. Das V-Leute-System, dessen flächendeckende Durchdringung der Neonazi-Gruppen jetzt erst deutlich wird, liest sich streckenweise wie ein behördliches Aufbauprogramm. Und gewollt oder nicht: es hatte auf Seiten der Nazis sicherlich diesen Effekt, denn es wurden im Wesentlichen die zentralen Kader angeworben. Und sie wurden durch die Inlandsgeheimdienste vor anderen Behörden abgeschirmt, denn diesen gilt der Quellenschutz auch heute noch mehr als die Strafverfolgung.

Konsequenzen ziehen

Doch was hat sich gesellschaftlich in den vergangenen zwei Jahren getan, welche Konsequenzen aus dem NSU-Desaster deuten sich an? In den momentan laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD wurde sich bereits darauf geeinigt, sämtliche Empfehlungen des Bundestags-Untersuchungsausschusses umzusetzen. Das bedeutet die weitere Zentralisierung und Stärkung der Kompetenzen beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und Bundeskriminalamt.
Die Mehrheit der BfV-Mitarbeiter_innen hatte als Zeug_innen vor dem Untersuchungsausschuss eine Haltung an den Tag gelegt, als wenn es sich beim NSU quasi um eine Art unvorhersehbaren Betriebsunfall gehandelt habe, der nun dazu führe, dass die an sich fehlerfreie Arbeit der Geheimdienste zu Unrecht kritisiert würde. Entsprechend muss das vollmundige Versprechen von Reformen bei einer derartigen Haltung der Mitarbeiter_innenschaft – einmal abgesehen von der politischen Agenda der Behördenleitung und des Bundesinnenministeriums – als Schaufenster- und Symbolpolitik gewertet werden. Hinzu kommt natürlich die noch immer fehlende effektive parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste bzw. deren Abschaffung als Konsequenz aus dem NSU-Skandal.

Mangelnder Druck

Das NSU-Desaster führt uns handgreiflich vor Augen, welche faktische Macht gesellschaftlicher und behördlicher Rassismus in diesem Land haben. Die rassistische Stimmungsmache gegen Flüchtlingsunterkünfte, die derzeit in manchen Regionen überkocht, sollte uns allen zusätzlich klar machen, dass die praktische Solidarität mit Geflüchteten und Anti-Nazi-Proteste zusammen gehören. Es gibt viel zu tun und leider haben wir das Gefühl, dass hier die Proteste – aber auch die Analysen – noch nicht zusammengeflossen sind. Die antirassistische und antifaschistische Linke hatte auch einen eigenen Beitrag daran, dass die Stimmen der Opfer des NSU und ihrer Angehörigen ungehört blieben, dass es eine nahezu vollständige Entsolidarisierung mit der migrantischen Community gegeben hat. Die Auseinandersetzung darum findet offenbar höchstens hinter geschlossenen Türen statt, so auch im apabiz.

Sicherlich hat es Fälle gegeben, wo eine vermutete rassistische oder neonazistische Tat irrtümlich als eine solche skandalisiert wurde – es sei an Sebnitz oder die sog. Hakenkreuzritzerin erinnert, doch wie viele Taten hat es gegeben, die erst nach mühsamer Beweisführung schließlich als rassistische Taten anerkannt werden? Diese Beweisführung ist ein Prozess, der mal scheitern mag, der jedoch nicht allein den Behörden überlassen werden darf und der sich gegen viele Widerstände stellen muss. An ihrem Anfang steht die Parteilichkeit auf Seiten des Opfers gegen strukturell rassistische Beamt_innen, tendenziöse Berichterstattung, gegen rassistische oder ignorante Nachbar_innen und auch gegen eigene Vorurteilsmuster und Berührungsängste von Mehrheitsdeutschen.

Die Oury-Jalloh-Initiative hat mit dem selbst finanzierten unabhängigen Brandgutachten, das die Verwendung von Brandbeschleuniger beim Tod von Oury Jalloh am 7.1.2005 in eine Dessauer Polizeizelle nahelegt, einen solchen Zwischenerfolg antirassistischer Parteilichkeit erzielt. Die Berliner Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak B., die u.a. die Familie und Freund_innrn des Mordopfers, antirassistische und antifaschistische Aktivist_innen und Rechercheur_innen sowie engagierte Personen aus dem Stadtteil zusammenbringt, schreibt: »Obwohl wir nicht wissen, wer der Täter war, befürchten wir – solange es keine Gegenbeweise gibt – dass es sich um einen rassistischen Mordanschlag gehandelt hat. […] Der Ausgangspunkt unserer Initiative war auch eine Selbstreflexion antifaschistischer und antirassistischer Politik: Nach der Aufdeckung der NSU-Morde setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich Strategien im Hinblick auf Solidarisierung und dem Verhältnis gegenüber staatlichen Behörden verändern müssen. […] Nach den NSU-Morden haben wir gelernt: Es reicht das Schweigen und die Ignoranz der Mehrheit, während die Minderheit bedroht und angegriffen wird. Diese Strategie darf nicht aufgehen!« [Vgl. http://burak.blogsport.de/ueber-uns]

Ausblick

Die Trennung zwischen antifaschistischer Recherche auf der einen und antirassistischer Solidaritätsarbeit auf der anderen Seite, die sich im Laufe vieler Jahren verfestigt hat, ist angesichts der Situation in vielen Kommunen nicht wegweisend und sollte nach unserer Auffassung dringend aufgebrochen werden. Dazu gehört auch, dass die Sichtweise von Migrant_innen prominenter wird. Als apabiz versuchen wir seit kurzem (!), unser Wissen über Nazis auch direkt an migrantische Communities zu vermitteln, von denen sich Teile vornehmlich auf türkisch informieren. Die Übersetzung der Gerichtsprotokolle auf türkisch durch NSU-Watch ist dabei nur eine Möglichkeit.

Zwei Jahre nach dem Auffliegen des NSU brauchen wir neue Analysen und daraus resultierende neue Ansätze in unserer antirassistischen und antifaschistischen Arbeit. Das Wissen um die Rolle des Staates beim Aufbau und Anleiten neonazistischer Strukturen in den 90er und 2000er Jahren sollte uns misstrauisch machen, wenn zivilgesellschaftliche Anti-Rechts-Initiativen von staatlichen Stellen umworben werden. Der Kampf gegen Rechts muss vor dem Hintergrund des NSU immer auch ein Kampf gegen die weiterhin nahezu unkontrollierte Arbeit der Inlandsgeheimdienste sein.

Das Wissen um die Wirkungsweise der Morde des NSU, das Zusammenspiel zwischen gesellschaftlicher Ignoranz und institutionellem Rassismus, sollte vor allem vornehmlich weiße antirassistische und antifaschistische Initiativen dazu bewegen, bequeme und vielleicht auch liebgewonne Traditionen oder als »Arbeitsteilungen« gerechtfertigte Abgrenzungen aufzubrechen. Der NSU hat gezeigt, dass Betroffene von rassistischer Gewalt immer noch in großen Teilen der Gesellschaft – und dazu gehört auch eine weiße Linke – nicht als welche »von uns« gesehen werden, deren Stimmen man hört und denen man glaubt. Hier fordern wir mehr Selbstreflexion und Parteilichkeit.

apabiz

[1] Wir danken der Redaktion des AIB für die Erlaubnis, Teile eines Textes der kommenden Ausgabe Nr. 101 verwenden zu dürfen.

 

Rechtes Land

Mit dem Projekt Rechtes Land haben wir dieses Jahr den Versuch gestartet, das vielzählig vorhandene Wissen aus unserem Netzwerk in einer neuen Form zu sammeln und öffentlich zu präsentieren. Auf einer interaktiven Karte im Web werden Recherchen, Chroniken und Sammlungen an den Orten dargestellt, wo sich die Vorfälle abgespielt haben. Dies sind zum Beispiel die Chroniken von Antifa-Gruppen, die in ihrer Region akribisch Angriffe und andere Aktivitäten von Nazis dokumentieren. Was wir bekommen, wandert normalerweise in unser Archiv und ist dort einsehbar. Mit Rechtes Land ist das Wissen direkt im Web recherchierbar. Meist ist es dort schon vorhanden, doch an vielen verschiedenen Orten verteilt. Rechtes Land ist auch der Versuch, das Wissen zu bündeln und über ein gemeinsames Portal einen Überblick zu geben. Ausschnitte der Karte können dann wieder in die eigene Webseite übernommen oder verschickt und geteilt werden. Doch es geht nicht nur um ein Archiv, um Vergangenes. Aktuell sammeln wir Orte, an denen es zu Gewalttaten und Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte gekommen ist. So entsteht ein Bild von dem was passiert und Entwicklungen lassen sich anschaulich zeigen.

Das Projekt Rechtes Land ist auf die Zuarbeit verschiedener Initiativen und engagierten Personen angewiesen, um eine Breite vernetzte Dokumentation und Recherche zu gewährleisten.

NSU-Watch

NSU-watch ist ein Netzwerk-Projekt, in dem die Arbeit verschiedener oft seit 20 Jahren arbeitender antifaschistischer und antirassistischer Projekte zusammenfließt – und es ist doch etwas ganz Neues. Die Untersuchungsausschüsse und der Strafprozess in München versorgen uns mit einer Flut von Detailwissen, das akribisch dokumentiert werden muss. Es geht nicht nur um die Details aus der Nazi-Szene, sondern es geht auch um die Dokumentation des Rassismus der Beamt_innen, der Rehabilitierung der Opfer durch den Prozess, der Leerstellen und Grenzen einer juristischen Aufarbeitung.

Eine kontinuierliche Prozessbeobachtung zu gewährleisten bei einem Prozess dieser Größenordnung geht nicht ohne das Engagement Vieler und es geht nicht ohne eine Professionalisierung und Institutionalisierung der Arbeit, sprich: immerhin zwei halbe bezahlte Stellen und Finanzierung der Übersetzungen. Wir veröffentlichen zuverlässig hochwertige, detaillierte Protokolle auf deutsch, türkisch und teilweise auf englisch und twittern aus dem Gericht. Wir stehen in Austausch mit Vertreter_innen der Nebenklage, führen Veranstaltungen durch und geben Interviews. Wir kontextualisieren den Strafprozess mit dem Wissen über Neonazis und Rassismus aus den Projekten. Was wir leider nicht geschafft haben ist eine kontinuierliche Übersetzung auf Englisch, geschweige denn Übersetzungen in weitere Sprachen. Doch auch wenn uns hier und da mal ein Fehler oder ein Missverständnis im Protokoll unterläuft oder ein Detail verloren geht: Zusammenfassend fällt die Bilanz unserer Arbeit positiv aus. Weniger positiv ist allerdings die finanzielle Bilanz. Uns kostet jeder Prozesstag rund 750 Euro. Das bis jetzt gesammelte Geld wird bis März 2014 aufgebraucht sein – der Prozess wird mindestens ein Jahr länger dauern. Da wir es für essentiell halten, dass NSU-watch komplett unabhängig ist, setzen wir weiterhin auf Spenden oder kleinere Förderungen durch parteiunabhängige Stiftungen.

Diese Leerstellen der Aufarbeitung und Aufklärung muss eine informierte Gesellschaft füllen. NSU-watch versteht sich hier als parteiischer Dienstleister: Die Protokolle aus dem Gerichtssaal sollen den Angehörigen und Freund_innen der Opfer und Betroffenen dienen, die nicht jeden Tag vor Ort sein können oder wollen. Unsere Arbeit soll allen engagierten Menschen und Gruppen dienen, die weiter das NSU-Netzwerk aufdecken wollen, die die Mitschuld des Staates sichtbar machen wollen, die den Rassismus dieser Gesellschaft analysieren und bekämpfen wollen – Aktivist_innen, Journalist_innen, Wissenschaftler_innen.