Kurz-Protokoll 277. Verhandlungstag – 20. April 2016

0

Dieser Prozesstag beginnt mit einer Zeugenaussage zum Überfall auf eine Postfiliale in Chemnitz 1999. Danach ist der Tag geprägt von Stellungnahmen und Beschlüssen. Dabei geht es u.a. um Ralf Marschner und Fotos aus dem Urlaub des NSU-Kerntrios.

Zeuge:
Reinhard En. (Überfall Postfililale Limbacher Straße,Chemnitz, 27.10.1999)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:46 Uhr. Als Zeuge wird Reinhard En. vernommen. Götzl sagt, es gehe um den Überfall auf die Postfiliale in der Limbacher Straße 148 in Chemnitz, 27. Oktober 1999, En. solle zunächst von sich aus berichten. En.: „An dem besagten Tag war ich beruflich mit dem LKW in Chemnitz unterwegs. Ich habe die Limbacher Straße befahren und 20, 30 Meter vor mir, auf der gegenüberliegenden Seite kamen zwei Männer aus einer Postfiliale rausgerannt. Die Angestellte kam auch raus aus der Filiale und hat sich auf die Straße gestellt. Ich habe sie überholt und vorne, hundert Meter, sagen wir mal, habe ich ein Moped stehen sehen, auf der anderen Straßenseite. Und die beiden jungen Männer, 18 bis 25 würde ich sagen, 1,75 groß, sind in die Richtung gelaufen, wo ich gefahren bin, sind dann an das Moped gelaufen, der Abstand zwischen ihnen war so in etwa 6, 7 Meter. Der erste, da kann ich mich nicht so genau erinnern, aber der letzte war dunkel angezogen und er hatte die Hand so im Anorak rein und hat hier was festgehalten. Kann ein Beutel gewesen sein. [phon.] Der erste ist aufs Moped gesprungen und der zweite auch gleich. Das Moped war leicht im Rollen. Es war ein S50 mit grünem Tank. Es war auch ein anderer Zeuge da, der von der Apotheke, der sagte: Er hatte eine Pistole gehabt. Ich muss sagen, ich habe nichts gesehen. Dann sind sie in so einen Gartenweg reingefahren mit dem Moped.“

Bundesanwalt Diemer kündigt an, dass der GBA eine Stellungnahme zum Antrag der NK zu Ralf Marschner [274. Verhandlungstag] abgeben möchte. Diemer sagt, der Beweisantrag sei abzulehnen.
Der Antrag müsse auch deshalb abgelehnt werden, weil die Tatsachen, die bewiesen werden sollen, für die Entscheidung über die Schuld- und Straffrage aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung seien. Das treffe auf die inneren Umstände in der Person Marschners zu, weil allein Kennverhältnisse oder das Wissen über bestimmte Sachverhalte selbst im Falle ihrer strafrechtlichen Relevanz keinerlei Schlüsse auf Täterschaft oder Teilnahme von damit im Zusammenhang stehenden Personen ermögliche. Allein diese Umstände ließen auch nicht, schon gar nicht zwingend, auf einen mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit den Angeklagten vorgeworfenen Taten schließen und auch nicht darauf, dass Marschner von diesen Taten auch nur in irgendeiner Weise Kenntnis gehabt hätte. Vor diesem Hintergrund sei auch die sonstige mögliche Vernetzung Marschners in der rechtsextremistischen Szene wie auch die ebenfalls als Beweisziel angestrebte mögliche Unglaubwürdigkeit dieses Zeugen ohne jegliche tatsächliche Bedeutung für dieses Verfahren.

NK-Vertreter RA Scharmer: „Herr Vorsitzender, vorbehaltlich einer schriftlichen Stellungnahme würde ich gern auf drei Punkte hinweisen bzgl. des Antrags zum Zeugen Marschner. 1. Punkt: Der GBA geht von einem Auslandszeugen aus. Richtig ist, dass Vernehmung im Wege der Rechtshilfe in der Schweiz stattgefunden haben. Ob sich der Zeuge aktuell in der Schweiz aufhält, entzieht sich unserer Kenntnis. Soweit der GBA ausführt, dass es ohne Bedeutung sei, ob der Zeuge Marschner Kontakt mit den Drei hatte, kann das hier nicht nachvollzogen werden.“ Man habe in der Hauptverhandlung Quartiermacher etc. vernommen, man habe hier eine Angeklagte, die bestreitet, vorher von den Taten gewusst zu haben, und man habe hier einen Anklagevorwurf, der das Aufrechthalten eines normalen Scheins nach außen beinhalte. Scharmer: „Und dann einen Zeugen Marschner, der eine Beschäftigung möglicherweise ermöglicht hat, nicht zu vernehmen, das wäre nicht nachvollziehbar.“

NK-Vertreter RA Hoffmann: „Die Stellungnahme von Bundesanwalt Dr. Diemer ist empörend. Wir haben mehrfach mitbekommen, dass der GBA hier blockt und offensichtlich den VS schützen will. Ich frage mich immer: Was wissen Sie? Was wollen Sie schützen? Was wollen Sie? Das ist eine Aufkündigung des Aufklärungsversprechens an unsere Mandanten! Wir drehen in diesem Verfahren jeden Stein um: Wie waren die Lebensverhältnisse, von was haben die gelebt? Das BKA nimmt komplizierte Berechnungen vor: Wie lang haben die Gelder gereicht, wovon haben sie gelebt? Ob der Wasserverbrauch in den Wohnungen ausgereicht hat und und und. Und jetzt haben wir Hinweise und Zeugenaussagen, dass ganz normal gearbeitet wurde, wo man aufhältig war, wo man mit Menschen zu tun hatte, dass man Fahrzeuge zur Verfügung hatte. Und das in einer Situation, in der wesentliche Fragen ungeklärt sind. Es ist immer noch ungeklärt: Wie kam es zur Auswahl der Mordopfer? Es ist immer noch ungeklärt: Mit welchen Fahrzeugen haben sich die Mörder zu bestimmten Orten begeben? Und jetzt haben wir eine reelle Chance dem näher zu kommen. Und das wird abgeblockt! Es soll keine Rolle spielen, mit wem man Kontakt hatte, mit wem man diskutiert hat. Das kann ich wirklich nicht fassen. Wenn es dabei bleiben würde, dass solchen Beweisen nicht nachgegangen wird, dann wäre das das Ende des Aufklärungsversprechens.“
Diemer: „Ich muss dann auch hier was dazu sagen: Ich möchte auf das Schärfste zurückweisen dass der Generalbundesanwalt blockt oder jemanden schützt. Wir werden auch weiterhin alle verfahrensrelevanten Erkenntnisse dem Senat vorlegen. So war es und so bleibt es auch.“

Danach verliest Götzl den Beschluss, dass die Anträge auf Inaugenscheinnahme von Lichtbildern, die Holger Gerlach auf Neonazi-Demonstrationen zeigen, sowie die Einvernahme von Beamten dazu [242.Verhandlungstag], abgelehnt sind.
Die unter Beweis gestellten Tatsachen belegen, schlagwortartig zusammengefasst, dass Gerlach im ersten Halbjahr des Jahres 2005 an drei Demonstrationen rechtsgerichteter Veranstalter teilgenommen hat. Dies werten die Antragsteller als Anzeichen dafür, dass Gerlach entgegen seinen Beteuerungen nie aus der Neonaziszene ausgestiegen ist und weiterhin einer Nazi-Ideologie verhaftet geblieben ist. Dieser Umstand wiederum sei ein wichtiges Indiz für den von der Anklage angenommenen Eventualvorsatz hinsichtlich der dem Angeklagten Gerlach vorgeworfenen Taten. Diese unter Beweis gestellten Umstände haben aber im Hinblick auf die Tat- und Schuldfrage bei den Angeklagten keinen Einfluss. Gerlach hat eingeräumt, im Jahr 2005 an zwei „rechten“ Demonstrationen teilgenommen zu haben. Durch die Anträge wird, ihre Erweislichkeit unterstellt, lediglich bewiesen, dass Gerlach im Jahr 2005 noch an einer weiteren, also einer dritten, Demonstration in Braunschweig teilgenommen hat.

Dann verkündet Götzl einen weiteren Beschluss. Nicht nachgekommen wird demnach den Anträgen, aus dem Ermittlungsverfahren der StA Mühlhausen gegen Thorsten Heise Kassetten oder technisch aufbereitete Kopien von diesen beizuziehen und durch Abspielen in Augenschein zu nehmen, Zeugen, u.a. Tino Brandt, dazu zu vernehmen und ggf. weitere Akten beizuziehen [242. Verhandlungstag]. Der Augenschein sei nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich.
Außerdem verkündet Götzl den Beschluss, dass der Anregung, den Zeugen Hartwig J. aus Eisenach zu vernehmen, nicht entsprochen wird. Dieser habe zwar bei seiner Vernehmung im November 2011 angegeben, er habe in der 44. Kalenderwoche 2011 in der Straße Am Stadtweg drei junge Leute gesehen, eine Person sei weiblich gewesen, habe aber Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe auf dem Fahndungsblatt nicht erkennen können. Daher verspreche der Zeuge keinen Erkenntnisgewinn.

Danach verliest NK-Vertreter RA Reinecke einen Beweisantrag. Er beantragt die Inaugenscheinnahme und Verlesung eines Überweisungsbeleges betreffend die Vorschusszahlung für die Anmietung eines Wohnwagens, die Vernehmung von Kunibert W., von KHK Mo., von KHK Er. und die Inaugenscheinnahme diverser auf der CD mit dem Titel „Urlaub 2004“ gespeicherter
Lichtbilder.
Zur Begründung führt er aus: Die Augenscheinnahme und Verlesung des Überweisungsbelegs wird ergeben, dass von Seiten des Trios bereits im März für Juli 2004 ein Urlaub in der Holsteinischen Schweiz geplant war und eine Anzahlung für einen Wohnwagen bei der Ehefrau des Zeugen W. erfolgte. Die Vernehmung von Kunibert W. wird ergeben, dass dort am 20. Juli 2004 auf seinem Campingplatz „Musbergwiese“ in Ascheberg drei Personen mit sächsischem Akzent erschienen sind (zwei Männer und eine Frau) um den Wohnwagen zu beziehen, für den im März eine Anzahlung geleistet wurde, dass allerdings den dreien der Wohnwagen zu alt war und sie deswegen am selben Abend weiter fuhren. Die Vernehmung des KHK Mo. wird ergeben, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass vom Trio oder einem ihrer Mitglieder im Zeitraum zwischen dem 09.06.2004 und dem 09.07.2004 irgendein Fahrzeug angemietet wurde.
Die Vernehmung des Zeugen Er. wird ergeben, dass sich bei der bundesweiten Überprüfung von Campingplätzen kein Hinweis darauf ergeben hat, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sich alleine zwischen dem 09.06. und 20.07.2004 auf einem Campingplatz aufgehalten haben. Die Augenscheinseinnahme der Lichtbilder auf der CD „Urlaub 2004“ wird ergeben, dass die Angeklagte Zschäpe und Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nur 6 Wochen nach dem Anschlag in der Keupstraße einen unbeschwerten, fröhlichen und freundschaftlichen – nicht von Misstrauen geprägten – Urlaub verbracht haben, in dem sie sich ohne jede Angst, entdeckt zu werden in der Öffentlichkeit zeigten und auf engsten Raum zusammen wohnten.
Zschäpe habe in ihrer Einlassung zum Anschlag in der Keupstraße erklärt: „Des weiteren wurde im Fernsehen vom Anschlag berichtet und die mutmaßlichen Täter anhand von Bildern gezeigt. Ich war überzeugt, dass die beiden erkannt würden und unsere Verhaftung bevor stünde. Deshalb fuhren die beiden auf irgendeinen Campingplatz. Ich wollte nicht mitfahren. Ich wollte auf keinen Fall dabei sein, wenn sie sich töten, sollte die Polizei sie entdecken.“
Mit den hier beantragten Beweiserhebungen wird diese Darstellung widerlegt werden. So wird sich zunächst ergeben, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach Veröffentlichung ihrer Bilder auf einem Campingplatz verschwanden.
Der Verhandlungstag endet um 11:52 Uhr.

Hier geht es zum Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage: www.nsu-nebenklage.de/blog/2016/04/20/20-04-2016/