Kurz-Protokoll 319. Verhandlungstag – 08. November 2016

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An diesem Prozesstag sagt ein Zeuge aus, der Betroffener des Neonazi-Überfalls an der Wendeschleife in Jena Winzerla ist. Er schildert deutlich, wie der Überfall ablief, den Carsten Schultze als einer der Angreifer vor Gericht schilderte. Dieser entschuldigt sich nach der Aussage bei dem Zeugen.

Zeuge:

  • M. K. (Erkenntnisse zu einem durch Carsten Schultze geschilderten Neonazi-Überfall an der Straßenbahnendhaltestelle Jena-Winzerla)

Heute ist Fototermin. Auf der Besucher_innen- und Presseempore ist relativ wenig los. Der Verhandlungstag beginnt um 09:50 Uhr. OStAin Greger nimmt zum Antrag auf Beiziehung der Akten zum Mordfall Peggy K. Stellung. Dieser Antrag sei abzulehnen, so Greger. Es handele sich um einen Beweisermittlungsantrag. Es seien keine konkreten Urkunden und Aktenstücke benannt, sondern es gehe darum, einen kompletten Aktenbestand anzufordern. Die allgemeine Aufklärungspflicht gebiete die Beiziehung dieser Akten jedoch nicht.
Dann sagt Greger, sie wolle noch eine Stellungnahme zum Beweisantrag von NK-Vertreter RA Langer zur Ladung eines SV zu DVD-Rs und Aufnahmetechniken abgeben: „Dem treten wir nicht entgegen. Der Sachverständige kann Auskunft geben über die erforderlichen Geräte und die Aufnahmetechnik, wie die Inhalte der sichergestellten DVD-Rs mit den Filmen und Serien entstanden sind. Ich würde dazu noch einen Vermerk des BKA nachreichen.“

Danach geht es weiter mit der Einvernahme des Zeugen M. K. Götzl: „Herr K., es geht uns um einen Vorfall aus dem Jahre 1998 im Bereich der Straßenbahnendhaltestelle Rudolstädter Straße, Jena Winzerla. Gab es da einen Vorfall und, wenn ja, was hat sich zugetragen?“ K.: „Ja, den gab es schon. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Götzl: „Erzählen Sie einfach mal von sich aus.“ K.: „Ich stand mit einem weiteren Opfer an der Endhaltestelle Jena-Winzerla, haben eine geraucht, geredet und wären dann auch jeder so seines Wegs gegangen. So aus dem Nichts heraus, möchte ich mal sagen, kam eine Gruppe von jungen Männern auf uns zu, schon ein bisschen aggressiv, haben gebrüllt, es flogen auch ein paar Flaschen. Dann ging es schnell. Wir haben das nicht so realisiert, dass das ein Angriff wird, aber es wurde dann einer. Ich wurde zu Boden gestoßen von einem etwas kräftigeren Angreifer und mein Begleiter von zwei.
Den Angreifer, der mich zu Boden gestoßen hat, konnte ich abschütteln. Ich wollte flüchten und habe am Fußweg, den ich nehmen wollte, eine weitere Person gesehen, die mit ausgebreitetem Arm dort stand. Ich dachte, da komme ich nicht durch und bin dann über die Fläche [phon.] der Endhaltestelle gelaufen, kein Plan wohin. Ich bin irgendwo hängengeblieben, eine Wurzel oder so. Und dann ging das ganze los. Fußtritte bemerkt, irgendwelche Beschimpfungen, bin hochgezogen worden und sollte irgendwas sagen. Ich sollte meinen Begleiter rufen, dass der auch noch rankommen sollte. Bin wieder zu Boden geworfen worden und dann, was ich dann noch weiß, ich habe nicht mehr jedes Detail im Kopf, dass ich dann in so einem Spielplatzholzhäuschen gesteckt habe. Und dann, ja, war es vorbei. Könnte ich noch ein Wasser haben, ich habe gerade einen ganz trockenen Mund?“ Götzl bittet eine Justizangestellte, dem Zeugen Wasser zu bringen.
Götzl wendet sich dann wieder K. zu und sagt: „Sie haben von einem Begleiter gesprochen, wer war das?“ K.: „Da war der Herr W., B., der dort in der Nähe wohnte, deswegen haben wir uns da auch aufgehalten. Wir sind zur Endhaltestelle gefahren und, ja, fast vor seinem Haus ist auch die Endhaltestelle, seinem damaligen Wohnhaus. Der konnte dann, hat er mir erklärt, konnte nach Hause flüchten und hat dann wahrscheinlich auch die Polizei gerufen. Wer genau die Polizei gerufen hat, das weiß ich nicht, aber ich nehme an, dass er das war.“
Götzl: „Wie ging es dann noch weiter, sie sprachen von diesem Spielzeughaus [phon.]. Wie kam die Sache zum Ende?“ K.: „Ich wurde da rein verfrachtet, weiß nicht mehr wie. Ich weiß nur, dass ich da drin lag, auch dort nochmal attackiert wurde von außen, durch den Eingang sage ich mal, und dann war es vorbei und ich habe mich da rausgeschlängelt und bin dann raus in Richtung der Rudolstädter Straße, wo mir auch der zweite Geschädigte entgegenkam. Kurze Zeit später kam die Polizei mit größerem Aufgebot und dann der Notarztwagen.“
Götzl fragt, ob K. im Anschluss an den Vorfall Kontakt mit W. gehabt habe. K.: „Ich habe ihn dann gesehen, als es vorbei war. Als ich zur Rudolstädter Straße gelaufen bin, keinen Plan hatte, da kam er mir schon entgegen und hat gesagt, er hat die Polizei gerufen, oder sein Bruder, ich weiß es nicht genau.“ Götzl: „Haben Sie bei diesem Vorfall Verletzungen davon getragen?“ K.: „Meine Nase stand ein paar Zentimeter weiter links oder rechts, weiß ich nicht genau. Nasenbeinbruch. Weiß nicht, wie man genau medizinisch man es benennt. Spetumfraktur? Das musste chirurgisch gerichtet werden.“ Götzl: „Waren Sie stationär im Krankenhaus?“ K.: „Ich lag eine Woche in der HNO in Jena. Eine gute Woche, ich weiß die genaue Zeit nicht mehr.“
Götzl: „Sie sagten, dass aus dem Nichts heraus einen Gruppe auf Sie zugekommen wäre und gebrüllt hätte. Können Sie die Gruppe näher beschreiben, Anzahl, Aussehen, sonstige Einzelheiten?“ K.: „Naja, die Anzahl schwer, schätzungsweise sechs Personen, aber, naja, ich habe nicht durchgezählt. Es ging halt schnell. Ich und mein Begleiter, wir hätten nie gedacht, dass das so endet oder, naja, so ausufert. Aber von der Optik her waren es aus der damaligen Zeit schon irgendwie Naziskinheads. Bomberjacken, Armeehosen, kurze Haarschnitte, Springerstiefel. Das konnte ich schon wahrnehmen.“
Götzl: „Wie spät war es etwa?“ K.: „Nachts, zwei Uhr, drei Uhr, irgendwas in der Drehe, ich habe es nicht mehr so in Erinnerung.“ Götzl: „Datumsmäßig?“ K.: „Es war im Juli, während der Fußball-WM in Frankreich, glaube ich. Das weiß ich noch, weil das Endspiel habe ich im Krankenhaus geguckt.“ Götzl: „Wie alt waren Sie damals?“ K.: „Ich war 17.“
Götzl: „Mich würde interessieren, wie auf Sie eingewirkt wurde, während der ganzen Zeit, was da an Gewalt angewendet wurde, welcher Art, und wie Sie getroffen wurden gegebenenfalls.“ K.: „Als ich dann über die Wurzel gestolpert bin oder was auch immer das war, da habe ich schon Tritte gespürt, überall am Körper [phon.]. Ich habe gedacht: Krass, die treten dich mit Stiefeln oder so.“
Götzl: „Haben Sie in Erinnerung, ob die Angreifer untereinander gesprochen haben?“ K.: „Nein. Ich habe da Wortfetzen gehört wie: ‚Ihr seid selber dran schuld‘ oder ‚Ihr lernt’s auch nie‘ oder so was. Das habe ich so wahrgenommen, aber nicht irgendwelche Gespräche, Strategien oder wie man das nennen soll, mitbekommen.“
Götzl: „Wie ging es denn insgesamt weiter, Sie hatten bereits geschildert, dass Sie im Krankenhaus waren, stationär. Wurden Sie von der Polizei vernommen?“ K.: „Ich musste dann, glaube ich, so 14 Tage später nach Lobeda zu einer Polizeiwache. Ein Protokoll wurde angefertigt, ich musste das unterschreiben. Der Beamte dort hat das so als Schlägerei oder als Auseinandersetzung aufgefasst und ich hatte keine Kraft, zu sagen: ‚Ich würde es als Überfall bezeichnen.‘ Er sagte, es würde wohl automatisch Anzeige erstattet bei dieser Dimension. Aber das war’s dann auch.“ Götzl: „Wurde ein Täter ermittelt?“ K.: „Meiner Meinung nach nein, aber ich weiß es nicht genau. Ich habe nie wieder was von dem Beamten gehört.“
Götzl: „Wie ging es Ihnen mit der Sache, wie waren die Folgen?“ K.: „Es fällt mir jetzt schwer, hier zu sein. Ich habe jetzt diese ganzen Bilder wieder im Kopf. Auch bei der Vernehmung von dem BKA-Beamten. Ja, es geht mir nicht gut. Und auch danach war ich nicht unbedingt der selbstbewussteste Mensch. Ich habe jetzt noch so Probleme, wenn ich abends grölende Gruppen sehe, betrunkene Männergruppen. Dann schaue ich danach.“
Götzl: „Kommen Sie bitte nochmal nach vorne. Uns liegen Lichtbilder vor aus den Krankenunterlagen, der damaligen Krankenakte.“ Der Zeuge geht nach vorn an den Richtertisch. Es wird ein Foto des Zeugen gezeigt. Es zeigt schwere Gesichtsverletzungen; die Nase ist stark nach links verschoben; man sieht ein Hämatom am rechten Auge, das Auge ist blau-rot unterlaufen und zugeschwollen. K.: „Ich wusste nicht mehr, dass ich fotografiert wurde. Ja, bezeichnend [phon.]. Ich kann mich gut erinnern, dass die Nase ein paar Zentimeter verrückt war.“ Götzl: „Das Auge ist auch beeinträchtigt den Fotos nach.“ K.: „Das wusste ich jetzt so nicht mehr. Die Nase war schlimmer.“
Carsten Schultzes Verteidiger RA Pausch: „Wir haben keine Fragen, aber Herr Schultze möchte was sagen.“ Götzl: „Herr Schultze?“ Schultze räuspert sich, dann sagt er: „Guten Tag. Ich wollte Ihnen sagen, dass es mir sehr leid tut, was damals passiert ist. Und ich war auch mit dabei. Ich war auch dabei, als alle losgerannt sind. Ich bin da auch hinterhergerannt. Und dafür wollte ich mich bei Ihnen entschuldigen. Danke.“ [phon.] Der Verhandlungstag endet um 14:24 Uhr.

Das Blog „die schneeflocke“ der NK-Vertreter RA Reinecke und RA Schön kommentiert hier.
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Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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