Rechter Terror – Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU gibt es immer noch mehr Fragen als Antworten

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Foto: Initiative zum Gedenken an Ramazan Avci

Von Maike Zimmermann

Bei einem Hearing am 4. November in Hamburg zitierte die Anwältin von Ayşen Taşköprü die Schwester des NSU-Mordopfers: »In der Presse sind wir eine der Opferfamilien. Mir ist klar, dass in Schlagzeilen nicht differenziert wird. Aber die öffentliche Wahrnehmung wird geprägt. Und so wurde mir ein großer Teil meiner Identität genommen. Ich bin nicht mehr die, die ich war, sondern ein Teil der Opferfamilie. Ständig sprechen Menschen in meinem Namen, die überhaupt nicht wissen, ob ich ihrer Meinung bin. Die auch nicht mit mir darüber gesprochen haben. Mit denen ich auch nicht darüber sprechen will. Und so wäre die logische und respektvolle und angemessene Reaktion, dann eben nicht in meinem Namen zu sprechen. Aber auch das wird ignoriert, weil man mich als Opferfamilie braucht, um sich selbst zu positionieren. So geht man mit Trauernden nicht um.«

Es ist der fünfte Jahrestag der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Damals wurden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Banküberfall in Eisenach von der Polizei tot in einem Wohnwagen aufgefunden, wenig später setzte Beate Zschäpe ein Wohnhaus in der Zwickauer Frühlingstraße in Brand.

In der Folge wurde bekannt, was in den Jahren zuvor unter anderem als »Dönermorde« gehandelt wurde: dass es Neonazis waren, die zwischen 2000 und 2006 acht Männer türkischer und einen Mann griechischer Herkunft ermordeten. Hinzu kommen mindestens drei Sprengstoffanschläge: am 23. Juni 1999 in Nürnberg sowie am 19. Januar 2001 und am 9. Juni 2004 in Köln. Bei dem Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße wurden 22 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt. Mit 15 Banküberfällen und einer Beute von rund 600.000 Euro finanzierte der NSU seine Taten.

Insgesamt zwölf Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben seitdem versucht, die Mordserie des NSU aufzuklären. Zusätzlich wird der Fall seit dreieinhalb Jahren vor dem Oberlandesgericht München verhandelt. (ak 620) In einer Rede zum Gedenken an die Opfer des NSU sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar 2012: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.« Dieses Versprechen hat sie nicht gehalten. Auch heute wirft der NSU-Komplex mehr Fragen als Antworten auf. Und vor allem legen Behörden denjenigen Steine in den Weg, die versuchen, zu einer Aufklärung beizutragen: Zeug_innen können sich plötzlich schlecht oder gar nicht mehr erinnern, Akten werden geschwärzt oder geschreddert.

Eines ist in den letzten Jahre deutlich geworden: Es sind die Recherchen und Analysen antifaschistischer Projekte und Initiativen, die den größten Anteil an der Aufklärung des breiten Unterstützernetzwerks des NSU haben. Sie sind es, die in mühevoller Kleinarbeit Zusammenhänge aufzeigen und ein immer genaueres Bild der Ursprünge des NSU zeichnen: die Neonaziszene der 1990er Jahre. Doch die Kontinuitätslinien reichen deutlich weiter zurück. Und sie setzen sich fort bis
heute.

Kontinuitäten

Einer der ersten rassistischen Morde in der Bundesrepublik war jener an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân in der Hamburger Halskestraße. (ak 619). Das war im August 1980. Mitglieder der neonazistischen Deutschen Aktionsgruppen warfen damals Brandsätze in eine Asylunterkunft, als Rädelsführer wurde Manfred Roeder verurteilt. Dieser verübte später in den 1990er Jahren in Erfurt gemeinsam mit weiteren Neonazis einen Farbanschlag auf die sogenannte Wehrmachtsausstellung und wurde wegen Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe verurteilt. An dem Prozess nahmen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Zuschauer teil. Angeblich, so berichtet tagesschau.de, hatte der Neonazi und Vertrauensmann des Verfassungsschutzes Tino Brandt die Kameraden mit Presseausweisen versorgt, sodass sie ins Gericht konnten.

Fünf Jahre nach dem Mord in Hamburg, am 21. Dezember 1985, wurde Ramazan Avcı in Hamburg von etwa 30 Neonazis so schwer mit Keulen und Axtstielen geschlagen, dass er bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Er starb drei Tage später. Unter den Tätern war auch René Wulff, der Bruder des Neonazikaders Thomas Wulff. Aus seinem Umfeld entstand das Aktionsbüro Nord, das in den 1990er Jahren ein zentraler Knotenpunkt in der neonazistischen Infrastruktur war.

Zum 25. Jahrestag der Ermordung an Ramazan Avcı gründete sich in Hamburg eine Initiative. Die Witwe von Avcı sei auf sie zugekommen, berichtet ein Sprecher der Initiative bei dem eingangs erwähnten Hearing. »Sie hat gesagt, sie wünscht sich einen Platz, an dem sie ihre Trauer zum Ausdruck bringen kann.« Die Initiative war erfolgreich: Im August 2012 fasste der Hamburger Senat den Beschluss, den Vorplatz am S-Bahnhof Landwehr in »Ramazan-Avci-Platz« umzubenennen. Heute erinnert eine Gedenktafel an den Mord.

In Mölln war und ist der Kampf um die Erinnerung lang und schwierig. In der Nacht zum 23. November 1992 warfen Neonazis Molotowcocktails in zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser. In der Mühlenstraße starben Bahide Arslan und ihre beiden Enkeltöchter Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz. Das Verhalten der Stadt Mölln hat in den letzten Jahren immer wieder zu Fassungslosigkeit ob des mangelnden Respekts und Feingefühls geführt. (ak 611) Im Jahr 2013 strich die Stadt die »Möllner Rede« aus dem Programm der offiziellen Gedenkveranstaltung – sie ist eine kritische Bestandsaufnahme zum gesellschaftlichen Rassismus und Neofaschismus in der Bundesrepublik. Seitdem findet sie »im Exil« statt. In diesem Jahr wird sie am 20. November von Doğan Akhanlı in Köln gehalten – der Stadt, in der der NSU zwei Anschläge verübte.

Rund 40 Kilometer von Mölln entfernt brannte wenige Jahre später, in der Nacht zum 18. Januar 1996, eine Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße. In den Flammen starben Maiamba Bunga und ihre Tochter Nsuzana, Rabia El Omari, Sylvio Amoussou sowie Françoise Makudila mit ihren fünf Kindern Christine, Miya, Christelle, Legrand und Jean-Daniel.

Am Morgen nach der Brandnacht wurden in Grevesmühlen, 35 Kilometer von Lübeck entfernt, drei junge Männer festgenommen. Sie waren in der Nacht in der Nähe des Brandorts von der Polizei kontrolliert worden. Am Abend inhaftierte die Polizei einen weiteren Verdächtigen, der mit den Beschuldigten in der Nacht zuvor in Lübeck war. An diesem und an zwei der morgens Festgenommenen stellte ein Gerichtsmediziner Brandspuren an Gesichtern, Haaren, Wimpern und Augenbrauen fest, die nicht älter als 24 Stunden sein konnten. Trotzdem wurden alle vier am nächsten Morgen wieder freigelassen. Am 20. Januar nahm die Polizei stattdessen einen libanesischen Bewohner des Hauses fest: Safwan Eid. Er wurde durch die Aussage eines Rettungssanitäters belastet, der angab, Eid habe ihm gegenüber die Tat gestanden. In dem Lärm des Rettungswagen will er den Satz gehört haben: »Wir warn´s.« Im September 1996 eröffnete die Jugendkammer des Lübecker Landgerichts den Prozess gegen Safwan Eid. Er endete mit einem Freispruch. Die Ermittlungen gegen die vier Grevesmühler waren bereits im August eingestellt worden und wurden nicht wieder aufgenommen.

Die Parallelen zum NSU-Komplex sind offensichtlich. Zwar wurden anders als beim NSU anfänglich vier rechte Männer festgenommen, von denen sich einer auch später noch »Klein Adolf« nennen ließ. Doch mit der Festname von Safwan Eid begann eine Täter-Opfer-Umkehr, die auch in den Ermittlungen zu den Taten des NSU eklatant ist. Hinzu kommen diverse Ungereimtheiten seitens der Behörden, die Safwan Eids damalige Rechtsanwältin noch heute zu dem Schluss kommen lassen, dass dort »etwas fürchterlich schief gegangen« sein müsse. Vieles deutet darauf hin, dass gegen die vier Grevesmühler nicht weiter ermittelt wurde, weil nicht weiter ermittelt werden sollte – eine mögliche, nicht ganz abwegige Erklärung: In weiteren Ermittlungen hätten Unregelmäßigkeiten seitens der Behörden zu Tage treten können. Ein Untersuchungsausschuss wäre hier auch 20 Jahre später angebracht.

Fader Beigeschmack

Dies alles sind Beispiele rechten Terrors in Norddeutschland. Aber es sind eben nur Beispiele und bedeuteten leider keineswegs, dass sie sich nicht in anderen Teilen der Bundesrepublik auch finden ließen. Vor allem aber zeigen sie, dass es rechten Terror auch vor, neben sowie mit dem NSU verzahnt gegeben hat.

Die Blockadehaltung der Behörden bezüglich der Aufklärung ihrer Rolle im NSU-Komplex zeigt, dass die Staatsräson noch immer über allem zu stehen scheint. Nicht nur deswegen haben Entschuldigungen wie jene von Heiko Maas einen faden Beigeschmack. »Dass Rechtsextreme der NSU über ein Jahrzehnt lang mordend durch die Lande gezogen sind und wir nicht in der Lage gewesen sind, dies zu stoppen und die Bürgerinnen und Bürger besser zu schützen, ist nichts anderes als ein großes Staatsversagen«, sagte der Bundesjustizminister zum 4. November. »Ich kann das Entsetzen und die Enttäuschung der Angehörigen der Opfer sehr gut nachvollziehen. Wir können uns bei ihnen nur entschuldigen.«

Kein Wort über die rassistischen Ermittlungen der Polizei, die Bewohner_innen der Kölner Keupstraße als »Anschlag nach dem Anschlag« bezeichnen. Zu behaupten, man könne sich »nur entschuldigen«, ist schon fast zynisch: Man könnte ernst gemeinte Aufklärung betreiben, man könnte dem Verfassungsschutz endlich mal deutlich in die Schranken weisen (oder abschaffen) anstatt ihn wegen »der Terrorgefahr« weiter auszubauen, man könnte den eigenen institutionellen Rassismus bekämpfen.

Am 4. November 2016 sagte Osman Taşköprü, der Bruder des ermordeten Süleyman Taşköprü bei dem Hearing in Hamburg: »Die Familie möchte, dass das alles mal ein Ende hat.« Aber nicht nur mit Blick auf die staatliche Aufklärung wird dies wohl in absehbarer Zeit nicht Realität werden.

Im Stadtzentrum von Zwickau stellte die Künstlergruppe Sternendekorateure am 4. November dieses Jahres elf bunt bemalte Bänke auf, die die Namen der vom NSU Getöteten tragen. Kurz darauf beschmierten Unbekannte sieben Bänke mit Farbe, eine Holzlatte wurde beschädigt. Am Morgen des 8. November fehlten schließlich zwei Bänke, obwohl sie am Boden festgeschraubt waren.

In der Nacht zum 8. November wurde bei einem Sprengstoffanschlag auf das Kulturzentrum Lokomov in Chemnitz eine Schaufensterscheibe aus dem Fensterrahmen auf die Straße geschleudert. Das Kulturzentrum ist derzeit an dem Theaterprojekt »Unentdeckte Nachbarn« beteiligt, das sich mit der Aufarbeitung rund um den NSU-Komplex beschäftigt.

Für das Jahr 2016 zählt das Bundeskriminalamt bis zum 1. August 665 Straftaten, die sich gegen Asylunterkünfte richteten. Hinzu kommen tägliche rassistische Beleidigungen, Übergriffe und Pöbeleien. Antifaschistische Projekte wie NSU-Watch bewegen sich seit geraumer Zeit an ihrer Kapazitätsgrenze und fördern trotzdem immer genauere und wichtige Erkenntnisse über die Neonaziszene der 1990er und 2000er Jahre zu Tage. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie genau wir eigentlich die aktuelle Situation im Blick haben und wie wir verhindern können, dass die heutigen rechten Mobilisierungen in Mordtaten enden.

Die Morde des NSU
Enver Şimşek – 9. September 2000, Nürnberg
Abdurrahim Özüdoğru – 13. Juni 2001, Nürnberg
Süleyman Taşköprü – 27. Juni 2001, Hamburg
Habil Kılıç – 29. August 2001, München
Mehmet Turgut – 25. Februar 2004, Rostock
İsmail Yaşar – 9. Juni 2005, Nürnberg
Theodoros Boulgarides – 15. Juni 2005, München
Mehmet Kubaşık – 4. April 2006, Dortmund
Halit Yozgat – 6. April 2006, Kassel
Michèle Kiesewetter – 25. April 2007, Heilbronn

Zuerst veröffentlicht in:
analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 621 / 15.11.2016