Zusammenfassung des 388.Verhandlungstag – 16. November 2017

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.

Tageszusammenfassung des 388. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 16.11.2017

Zweiter Tag des Plädoyers der Nebenklage

„Die Hauptverhandlung findet nicht im gesellschaftlichen Vakuum statt“, setzte der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler zum zweiten Teil seines Plädoyer im Namen von Angehörigen der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar an. Die Altverteidigung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ließ ihm genau drei Minuten Zeit, ehe sie erneut mit Beanstandungen in den Vortrag Daimagülers hineingrätschte. Denn gerade war Daimagüler auf das Thema Rassismus gekommen und hatte festgestellt, dass nicht jeder Rassist auch gleich ein Nazi sein müsse. Wenn er von institutionellem Rassismus rede, wolle er damit nicht sagen, dass es Nazis bei der Polizei gebe – das sei sicher auch nicht auszuschließen. Sondern, dass dieser institutionelle Rassismus dafür verantwortlich gewesen sei, dass die NSU-Morde bis zum Schluss nicht hätten aufgeklärt werden können. Allein das Wort Rassismus löse Abwehr aus, werde als Provokation empfunden, erklärte Daimagüler, es sei also für viele nicht der Rassismus das Problem, sondern seine Thematisierung. Noch größer scheine die Provokation nur zu sein, wenn das Thema angesprochen werde von Menschen, „die nicht in das homogene Bild deutscher Identität“ passten.

Ausgerechnet an dieser Stelle unterbrach Zschäpe-Verteidiger Heer und meinte, das sei eine weitschweifige politische Rede, die nichts in diesem Verfahren zu suchen habe. Sein Kollege Stahl bezog einen von ihm herausgehörten Rassismusvorwurf gar auf sich selbst und die Verteidigung Zschäpe, weil Daimagüler ihn angeblickt und gelächelt habe. Die Nebenklageanwälte Scharmer und Hoffmann sprangen ihrem Kollegen mit geharnischten Zurückweisungen bei. Scharmer: „Was Sie versuchen, ist, Ihre Sicht in das Plädoyer des Kollegen hineinzureden. Das ist nicht nur rechtsmissbräuchlich, das ist respektlos!“ Scharmer später: „Wenn mir jemand in mein Plädoyer so reinquatschen würde, würde ich mich mit allen zulässigen Mittel wehren, das ist unzulässig und hat reinen Störcharakter!“ Selbst Oberstaatsanwalt Weingarten erklärte, es sei zulässig, dass Daimagüler an eine Aufklärungspflicht des Senats appelliere, und den Inbegriff des Prozesses zu erläutern sei sein gutes Recht. Er dürfe auch die Ermittlungsbehörden scharf kritisieren. Die BAW habe keinen Zweifel, dass sich Daimagülers Ausführungen im Rahmen des Zulässigen bewegen. Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann nannte die Interventionen der Zschäpe-Verteidiger missbräuchlich, denn wenn ein Plädoyer so oft unterbrochen werde, könne es keine Wirkung entfalten, Bezüge gingen verloren. Die Störungen seien offensichtlich darauf gerichtet, „die Wirkung des Plädoyers zu zerstören, indem Sie es zerstückeln“. An Scharmer gewandt sagte Verteidiger Stahl: „Wenn Ihnen [Scharmer] niemand ins Plädoyer reingrätscht, dann liegt das vielleicht daran, dass Sie ordentlich plädieren können.“ Daimagüler wies diesen Affront brüsk zurück: „Sie bitten hier um Sachlichkeit, und dass niemand herabgesetzt werden darf, sagen aber, dass ich nicht plädieren könne. Das gehört sich nicht, das gehört sich wirklich nicht!“ Als Götzl signalisierte, dass er hier keine missbräuchliche Nutzung des Rederechts sehe, beantragte Heer einen Gerichtsbeschluss, der der Auftakt zu insgesamt fast vier Stunden Unterbrechungsgeplänkel werden sollte.

Nachdem der Senat nach einer Pause die Beanstandung und das Begehren der Altverteidigung Zschäpe, Daimagüler das Wort zu entziehen, zurückgewiesen hatte, forderte Heer erneut eine Unterbrechung, um eine Gegenvorstellung gegen den Gerichtsbeschluss zu formulieren. BAW-Vertreter Weingarten gab in einer Stellungnahme zu bedenken, dass der relativ informelle Rechtsbehelf der Gegenvorstellung keinen Anspruch auf Unterbrechung konstituiere. „Dem Versuch, den Schlussvortrag weiter zu torpedieren, muss entgegen getreten werden“, erklärte Weingarten. Um das weitere Vorgehen grundsätzlich zu klären und um zu verhindern, dass, wie Oberstaatsanwältin Greger „besorgte“, das „Spiel“ mit Unterbrechungen entgegen dem Recht auf einen ungestörten Schlussvortrag so weitergetrieben werden könnte, ging der Prozess in eine am Ende gut zweistündige Pause.

In der Gegenvorstellung konstatierte Zschäpe-Verteidigerin Sturm, Schlussvorträge seien nur mit Bezug zu Inhalt und Ergebnis der Hauptverhandlung zulässig. Sie qualifizierte Daimagülers Ausführungen als sachfremd, wodurch er sich seiner Aufgabe entziehe und der Vorsitzende Richter seiner Sachleitungsaufgabe. Nach weiteren Stellungnahmen kam der ersehnte Beschluss des Senats, dass es bei der Ablehnung des Begehrens der Zschäpe-Altverteidigung sein Bewenden habe – übrigens mit Berufung einer Entscheidung des Reichsgerichts von 1884. Nun konnte Mehmet Daimagüler noch zwei Sinnabschnitte seines Plädoyers – ungestört – vortragen.

Mit Bezug auf den Mythos der Entstehung der Bundesrepublik, die „Freiheitlich-demokratische Grundordnung“ und die Tabuisierung von Rassismus und Nationalsozialismus schilderte Daimagüler das Überdauern von entsprechenden Ideologieversatzstücke in den Köpfen von Menschen, auch von Ermittlern. Noch „der dümmste Rassist“ habe verstanden, dass er den Rassebegriff nicht verwenden dürfe und ersetze ihn schlicht etwa durch einen Kulturbegriff. Für die Gesellschaft sei es wesentlich angenehmer, den Rassismus an den Rand der Gesellschaft zu verschieben, zu glatzköpfigen Skinheads und Neonazis. Es herrsche aber eine mangelnde Bereitschaft den eigenen Rassismus zu thematisieren, der nicht geleugnet werden könne. Daimagüler: „Rassismus strukturiert unsere Gesellschaft, prägt uns, die wir in ihr aufwachsen. Jeder, bis auf Kinder vielleicht, trägt Rassismus in sich.“ Und dann finde Ein- und Ausgrenzung statt: Wer nicht dazu gehöre, sei stets gefährdet, werde aus dem „deutschen Wir“ ausgeschlossen. Das sei genau das, was Opfern des NSU angetan worden sei, so Daimagüler, sie seien nicht als Teil unserer Gesellschaft angesehen worden. Dieses Thema gehöre in dieses Verfahren. „Meine Mandanten möchten, dass ich das anspreche“, rechtfertigte Daimagüler seine grundsätzlichen Überlegungen, um dann zu den Betroffenen der NSU-Verbrechen zurückzukommen: Sie hätten im Mai 2006 Demonstrationen unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ abgehalten, die komplett ungehört verhallt seien, weil es „sich ja nur um türkische Menschen“ gehandelt habe. Dabei seien es ja genau diese Menschen, die aus eigener Erfahrung als Experten für die Funktionsweise von Ausgrenzung anzusehen seien: „Stellen sie sich vor, man hätte auf sie gehört.“ Dies spezifische Wissen habe den Polizeibehörden gefehlt, sonst hätten die Morde möglicherweise verhindert werden können, sagte Daimagüler. Der Rassismus, insbesondere der institutionelle Rassismus stecke in den Routinen, im Verhalten und in Regelungen der Behörden. Dabei nahm Daimagüler Bezug auf die „berühmte“ Operative Fallanalyse des LKA Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007, in der hinter den NSU-Morden ein „Häuptling“ vermutet worden sei, dessen Ehre gekränkt worden sei. Das berühmte Zitat daraus lautet: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Werte- und Normensystems verortet ist.“ Daimagüler bezeichnete solche rassistischen Grundannahmen als „Kernschmelze unseres Rechtsstaats“, welche die jahrelange Verfolgung der Opfer des NSU als Verdächtige und Angehörige der Organisierten Kriminalität ermöglicht habe. Es wäre wichtig, wandte sich Daimagüler an den Senat, dass diese Themen – der Rassismus, der hinter den Morden steckt, und der behördliche Rassismus – in die Urteilsbegründung einfließen, denn: „Wenn das nicht rassistisch ist, dann gibt es keinen Rassismus!“

Im nächsten Abschnitt ging Daimagüler auf die „ungeklärte Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex“ ein und kam zu dem Schluss: Die Behörde sei keineswegs „auf dem rechten Auge blind“, wie gerne behauptet werde: Die gesamte Zeit hätten die Ämter V-Leute in den Szenen gehabt und diese so mit aufgebaut. Einige dieser Strukturen hätte es ohne den VS nicht gegeben, was er ausführlich entlang der Geschichte des V-Mannes Tino Brandt, Deckname „Otto“, erläuterte und belegte. Dabei sei vor allem die Führungsebene von Parteien und Kameradschaften mit V-Leuten infiltriert worden. Das Führungspersonal der Szene habe auf staatlichen Lohnlisten gestanden: „Angeworben wurden die Anführer, nicht die Lemminge, die diesen folgten.“ Die hohe Schule der V-Mann-Führung sei das Hochspielen der V-Leute, zitierte Daimagüler den VS-Vordenker Schwaegerl aus dessen Handbuch. Grundlage dieses Hochspielens sei der sakrosankte umfassende Quellenschutz, der zur Vertuschung zum Teil schwerster Straftaten führe. Allein 35 Ermittlungsverfahren gegen Brandt seien auf diese Weise eingestellt worden. Aber, so Daimagüler, dieser Quellenschutz bedeute Opfergefährdung. Wenn die Quelle um jeden Preis zu schützen sei, hätten die Opfer die Rechnung zu bezahlen. Durch die Alimentierung führender Neonazis durch den Staat, hätten diese sich mit aller Energie dem Aufbau der Szene widmen können: „Ohne dieses Geld hätte es viele Neonazigruppen nicht gegeben“, stellte Daimagüler fest. Im NSU-Komplex seien viele Fragen offen geblieben: Wie viele V-Leute seien in der Szene gewesen, welche Rolle hätten sie gespielt, und ob sich etwas an dieser Rolle geändert habe. Daimagüler: „Das ist sicherlich einer der Schatten dieses Verfahrens, dass wir dieser Frage hier nicht intensiver, entschlossener nachgegangen sind!“

Mehmet Daimagüler konnte wegen angeblicher Kopfschmerzen des Angeklagten Wohlleben seinen Vortrag erneut nicht beenden. Er wird sein Plädoyer am kommenden Dienstag, 21.11.2017, um 09:30 Uhr fortsetzen, ehe weitere Nebenkläger_innen und ihre Vertreter_innen zu Wort kommen sollen.