Tageszusammenfassung des 402. Verhandlungstag – 09. Januar 2018

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.

Tageszusammenfassung des 402. Verhandlungstag – 09. Januar 2018

Sechzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Zum heutigen 402. Prozesstag waren drei Mitglieder der Familie Boulgarides und zwei Mitglieder der Familie Şimşek als Nebenkläger_innen erschienen, da Plädoyers ihrer juristischen Vertreter_innen erwartet wurden. Mit dem Hinweis der Verteidigung des Angeklagten Ralf Wohlleben, dass ihr Mandant gesundheitliche Probleme habe, war jedoch schon die Richtung des Hauptverhandlungstages angedeutet.

Zunächst jedoch plädierte der Nebenklageanwalt Markus Goldbach, der Opfer des Nagelbombenanschlags im Juni 2004 in der Kölner Keupstraße vertritt. Goldbach erklärt zunächst, es seien keine Verfahrensfehler gemacht worden, das Urteil werde Bestand haben, eine Tataufklärung sei erfolgt. Ob das aber reiche, fragt Goldbach: Die entscheidende und quälenden Fragen der Betroffenen seien bis heute nicht beantwortet. Nachdem er dem Angeklagten Carsten Schultze und auch Holger Gerlach Respekt für ihre Aussagen und Aussagebereitschaft zollte, gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Angeklagten Wohlleben und Eminger stärker verstrickt und der Beihilfehandlungen zu einzelnen Verbrechen des NSU schuldig seien. Anders als viele andere Plädierende der Nebenklage hält Goldbach die Angeklagte Beate Zschäpe durchaus nicht für willensstark, sie habe eine Persönlichkeit ohne eigenen Kern und eigene moralische Maßstäbe. Sie sei zwar in alles involviert gewesen, was der NSU im Untergrund getrieben habe, ob sie jedoch tatsächlich als Mitttäterin zu verurteilen sei, werde der Senat im Urteil sehr genau begründen müssen. Zschäpe fülle im Verfahren nicht den Raum aus, den Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hier eingenommen hätten, wenn sie denn lebend gefasst worden wären, so Goldbach. Es sei bedauerlich, dass sie nach dem Hickhack mit ihrer Alt-Verteidigung nun „an diese neuen Anwälte geraten“ sei. Zschäpe zeige keinen Fanatismus, lächele sogar die Fotografen im Saal an. Sie lächele, als habe sie mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun, so schloss Goldbach; diese innere Leere sei es, die sie so monströs erscheinen lasse.

Danach war die Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız an der Reihe. Sie plädiert für die Nebenklage der Familie des im September 2000 in Nürnberg vom NSU ermordeten Enver Şimşek. Sie schilderte den Tathergang des brutalen Mordes an dem damals 38-jährigen Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern und wie er nachdem ihn acht Kugeln aus zwei Waffen getroffen hatten, fünf davon in den Kopf, erst zwei Tage später im Krankenhaus verstarb. Danach schilderte sie auf berührende Weise den Menschen Enver Şimşek: „“Er hatte ein inniges Verhältnis zu seinen Kindern. Er wollte mehr Zeit mit ihnen verbringen. (…) Enver Şimşek wäre heute 56 Jahre alt. Er hat viele schöne Momente in seinem Leben verpasst.“. Die Entscheidung, den Vater in der Türkei zu beerdigen, sei richtig gewesen, so Başay-Yıldız: „Sie können in Deutschland noch nicht mal eine Gedenktafel an dem Ort anbringen, wo er zu Tode gekommen ist, ohne dass diese immer wieder mit Hakenkreuzen beschriftet wird, so wie es bei der Gedenktafel für Enver Şimşek in Nürnberg zuletzt immer wieder der Fall war.“ Başay-Yıldız beschrieb die unaufhörlichen Ermittlungsmaßnahmen der Polizei gegen die Familie, inklusive umfangreicher Abhörmaßnahmen und Durchsuchungen. Das Amtsgericht Nürnberg genehmigte Durchsuchungen mit den Worten: „Es ist anzunehmen, dass die Betroffenen mit den Tätern in Verbindung stehen oder eine solche Verbindung hergestellt wird“. Die Tortur, der das größere Familienumfeld der Şimşeks durch jahrelange Verdächtigungen – sei es im Kontext mit angeblichen Drogengeschäften oder einer angeblichen Eifersuchtstat der Ehefrau des Ermordeten – ausgesetzt war, widmete Başay-Yıldız einen großen Teil ihres Plädoyers: Unfassbar auch heute noch, dass die Behörden von der Familie auch nicht abließen, nachdem sich alle Unterstellungen als falsch erwiesen hatten und auch üble und rechtswidrige Tricks keine Ergebnisse erbrachten. So wurde der Ehefrau des Ermordeten das Bild einer „fremden Frau“ gezeigt und behauptet, dies sei die Geliebte ihres Mannes gewesen. Die Geschichte war frei erfunden. Man kann sich nicht vorstellen, welche Qualen derartige Polizeiarbeit bei den Betroffenen verursachte. Zu allen ausufernden Vernehmungen sei Adile Şimşek erschienen und habe sie über sich ergehen lasen: Sie habe, das unterstrich die Anwältin, helfen wollen, den Mord an ihrem geliebten Mann aufzuklären. Niemand in der Familie habe auch die Notwendigkeit bezweifelt, im Umfeld des Opfers zu ermitteln. Aber die Behörden haben nicht aufgehört mit den Verdächtigungen: Erst im November 2011 hat die Familie die wahren Hintergründe erfahren.

Detailliert ging die Anwältin darauf ein, welchen Zeug_innenhinweisen auf Täter und auf ein mögliches rassistisches Motiv die Polizei über zehn Jahre lang nicht nachging. Und in Sachen Persönlichkeitsrechte machte Başay-Yıldız folgenden Vergleich auf: Der Beiziehung der Akten im Falle Temme sei die Bundesanwaltschaft stets mit Verweis auf die Persönlichkeitsrechte Temmes entgegengetreten. Wie aber wurde mit den Opfern verfahren? Enver Şimşeks Bild wurde bei „Aktenzeichen XY“ im Kontext mit Drogenkriminalität oder einer Beziehungstat gezeigt: Seine Persönlichkeit genoss keinerlei Schutz, so Başay-Yıldız. Jedes Fitzelchen im Kontext mit „Organisierter Kriminalität“ sei im Rahmen der Ermittlungen mit irrem Aufwand verfolgt worden, Hinweise auf „Deutsche“ jedoch so gut wie nie verfolgt, zu einem rassistischem Motiv nicht ermittelt worden. Es habe, so sei auch hier im Verfahren zur Verteidigung der Polizeiarbeit argumentiert worden, keinen Hinweis auf ein rechtes Motiv gegeben. Es habe aber, so Başay-Yıldız, eben auch keinen Hinweis auf Organisierte Kriminalität oder etwa auf eine Eifersuchtstat gegeben, „und trotzdem wurde dieser Ermittlungsansatz mit viel Energie und schrecklichen Folgen für die Familie von der Polizei verfolgt“. Dass sich der Polizeiapparat dies bei allen Opfern habe vorstellen können, habe mit der Herkunft der Opfer zu tun. Vorurteile hätten die Abläufe, Einstellungen oder Handlungen der Behörden bestimmt, was zu Verunsicherung geführt habe: „Natürlich haben die Morde dazu geführt, dass migrantische Bevölkerungsgruppen in diesem Land verunsichert sind und sich nicht geschützt fühlen, insoweit war der NSU erfolgreich“. Den ersten Teil ihres Plädoyers beschloss Başay-Yıldız so: „95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie Opfer eines rassistischen Anschlages sein. Sie werden nie in die Situation kommen, dass das Haus, die Wohnung, in dem Sie mit Ihrer Familie und Ihren Kindern leben, in dem Sie sich geschützt und zuhause fühlen, in Brand gesteckt wird. Sie werden nicht in die Situation kommen, den Namen auf ihrem Briefkasten oder der Klingel zu entfernen, damit von außen nicht erkannt wird, dass hier eine ausländische Familie wohnt. 95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie in die Situation kommen, dass man ihnen oder ihren Angehörigen an ihrem Arbeitsplatz – während sie arbeiten – in den Kopf schießt, weil sie Ausländer sind. 95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden auch nie verstehen, was es heißt, wenn die Polizeibeamten dieses Landes nicht in der Lage sind, sie unabhängig von ihrer Herkunft zu schützen. Und nicht nur das, sie verdächtigen, selbst Schuld an Ihrem Tod zu haben. Deswegen können Sie auch nicht begreifen, was solche Taten mit Menschen anstellen.“

Ein ziemlich ekelhaftes Detail am Rande dieses Prozesstages: Ab dem späten Vormittag ließ sich Wohlleben-Verteidigerin Schneiders kurz durch den Nazianwalt Steffen Hammer vertreten. Hammer war Sänger der Neonaziband „Noie Werte“. Mit zwei Songs der Band unterlegte der NSU eine frühe Version seines perfiden Bekennervideos.

Wegen angeblicher Rückenschmerzen des Angeklagten Wohlleben musste der Prozesstag unmittelbar nach der Mittagspause unterbrochen werden. Seda Başay-Yıldız wird morgen ihr Plädoyer fortsetzen. Auch der Nebenkläger Abdul Kerim Şimşek soll morgen zu Wort kommen.

Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.