Tageszusammenfassungen: Plädoyers der Nebenklage im NSU-Prozess – fortlaufend ergänzt II (395. – 400. Verhandlungstag)

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden hier aktuell und fortlaufend Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese Zusammenfassungen sind auch auf unserer Protokoll-Seite unter dem jeweiligen Termin zu finden. Dort werden dann durch die jeweiligen Protokolle ersetzt werden.

Zusammenfassung des 400. Verhandlungstag – 20. Dezember 2017

Fünfzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Der Verhandlungstag begann mit einer Stellungnahme der Bundesanwaltschaft zur gestrigen Beanstandung durch die Verteidigung Wohlleben. Wie zu erwarten, argumentierte OStAin Greger, dass die Beanstandung substanzlos sei. Bis zu einer Entscheidung über die Beanstandung wollte Richter Götzl dennoch nur Plädoyers entgegennehmen, die keine eigenen Strafanträge enthalten.

Als erstes plädierte dann Rechtsanwalt Ferhat Tikbas, der die Tochter des am 13. Juni 2001 in Nürnberg vom NSU ermordeten Abdurrahim Özüdoğru vertritt. Tikbas rief noch einmal in Erinnerung, dass Abdurrahim Özüdoğru durch zwei Schüsse hingerichtet wurde. Tikbas: „Ja, er wurde hingerichtet.“ Tikbas erinnert daran, dass auch der Vater seiner Mandantin von den Tätern nach seiner Ermordung fotografiert wurde. Tikbas: „Wie skrupellos und vor allem gezielt das Trio vorgegangen ist, zeigt, dass bereits bei der ersten Hinrichtung das Opfer fotografiert wurde. Dies lässt den Schluss zu, wie organisiert und professionell vorgegangen wurde.“ Es sei nichts dem Zufall überlassen worden, so Tikbas, er persönlich sei daher der Auffassung, dass die Opfer nicht zufällig ausgesucht worden sind: „Vielmehr bin ich der Meinung, dass hier ortskundige Personen, Helfer im Vorfeld Ziele nach bestimmten Vorgaben ausgesucht und diese weitergeleitet haben.“ Auch andere Indizien sprächen gegen die Triotheorie, etwa die Selbstbezeichnung des NSU als „Netzwerk von Kameraden“. Zu Zschäpe und ihrer Behauptung, dass sie nicht gewusst habe, was auf den verschickten Bekenner-DVDs war, sagte Tikbas: „Da stellt sich die Frage, für wie blöd halten Sie uns eigentlich?“ Das In-Umlauf-Bringen der DVDs sei mindestens genauso schrecklich gewesen, wie das Abdrücken der Waffe: „Weil man hier den Hinterbliebenen nochmal klar gemacht hat, wie viel Wert das jeweilige Leben, Opfer aus Sicht des Trios hatte, nämlich keinen. Die Hinterbliebenen sollten Jahre später nochmal gedemütigt und erniedrigt werden.“

Tikbas verlas dann eine Erklärung seiner Mandantin, die wir hier auszugsweise zitieren: „Mein Vater lebte bereits schon 29 Jahre in Deutschland, als diese Tat passierte. Ein junger Mann, der aufgrund seiner guten schulischen Leistungen ein Stipendium für ein Studium in Deutschland erhielt und so 1972 an der Universität Erlangen das Studieren begann. Ein Mann, der seine gesamte Jugend hier in Deutschland verbracht und viele deutsche Freunde hatte, ein Mann, der mit der deutschen Kultur und ihren Menschen zusammengeschmolzen war. Dieser Mann, mein geliebter Vater, wurde in einem 1.Welt-Land, in dem ökonomisch und technisch hochentwickelten modernen Deutschland am Tageslicht kaltblütig, brutal und auf professionelle Weise ermordet. Von Mördern, die ihre eigene Unfähigkeit, dem Leben etwas Positives abzugewinnen, auf unschuldige Menschen übertragen haben, von sinnlosem Hass und Minderwertigkeitskomplexen getrieben. Sie haben den Weg der Charakterschwachen gewählt und somit auch gänzlich ihr eigenes Leben verbaut. Mein Vater wurde Opfer von Hass und Gewalt, Opfer von Verharmlosung rechter Gewalt.“ „Das Ziel, die Gesellschaft auseinander zu dividieren, das haben Sie allerdings deutlich verfehlt. Und Sie haben es auch nicht geschafft, Menschen wie mich aus diesem Land heraus zu ekeln. Im Gegenteil, jetzt sind wir alle, sowohl Deutsche als auch ausländische Mitbürger, die in diesem Land ihre Lebenszeit verbringen, sensibilisierter denn je. Es ist mein Heimatland. Ich bin eine deutsche junge Frau mit ausländischen Wurzeln, die in diesem Land geboren ist, und fremd fühlt sich hier schon längst niemand mehr. Wir sind die Jugend, die Gesellschaft, die den Weg der Charakterstarken wählten und bemühen uns für Menschen und dieses Land nützlich zu sein, anstatt durch Hass und primitive Gefühle uns lenken zu lassen.“ „Es ist ein Schatten auf Deutschland gefallen. Es ist die Aufgabe von allen zuständigen Behörden und Institutionen, diesen Schatten wegzuwischen und den Familien inneren Frieden zu schenken. Leider bin ich auch, wie die anderen Opferangehörigen, der Meinung, dass dies nicht ausreichend geschehen ist. Die lückenlose Aufklärung der Hintergründe wurde nicht wie versprochen erfüllt. Es war auch gesellschaftlich eine wichtige Chance gewesen, um gefährliche Strukturen zu unterbinden und auch das hinterlassene negative Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Vor allem in diesem Punkt richten sich meine Worte nicht nur an die Gerichtsverhandlung, sondern auch an alle zuständigen Behörden und Institutionen. Dies ist eine ernstzunehmende Verantwortung von allen und darf nicht missachtet werden. Ich meine, dass das Gewissen ein guter Wegweiser ist. Wir haben gut genug und deutlich mitbekommen, was Verdrängung und Verharmlosung der Tatsachen für Folgen hat. Früher oder später fliegt alles auf und am Ende schadet es den ganzen Institutionen und Behörden und ganz Deutschland, denn Sie verlieren das Vertrauen der Menschen in Deutschland. Und Vertrauen ist das, was einem Land Stabilität verleiht.“

Es folgte das Plädoyer von Nebenklageanwalt Bernd Max Behnke, der einen Bruder des am 25. Februar 2004 in Rostock vom NSU ermordeten Mehmet Turgut vertritt. Ihm und seinem Mandanten, so Behnke, sei es persönlich unerträglich, „dass eine solche, bis zum November 2011 eigentlich undenkbare Mordserie in unserem Land geschehen konnte. Ich bin fassungslos, dass diese zehn Todesopfer zu beklagen sind.“ Rechtsanwalt Behnke nannte die Namen aller Mordopfer und ihre Todestage, um deutlich zu machen, dass er und sein Mandant sich vor ihnen und ihren Familien im Gedenken verneigen möchten. Anders als andere Nebenklagevertreter_innen lobte Behnke die Bundesanwaltschaft, diese habe ein so in sich geschlossenes, überzeugendes Plädoyer gehalten, wie er es noch nie erlebt habe. Behnke sprach von „punktgenauer Ermittlung und Auswertung der Erkenntnisse in diesem Verfahren“. Behnke: „Der Rechtsstaat hat damit seine notwendige Stärke gezeigt.“ Auch Behnke wies darauf hin, dass Mehmet Turguts Familie nach der Tat keine Unterstützung von der Polizei und anderen Behörden erhalten habe, vielmehr seien die Familienangehörigen mit unzumutbaren polizeilichen Maßnahmen konfrontiert worden. Im Unterschied zu den meisten bisher gehörten Nebenklagevertreter_innen stellte Behnke aber die steile Behauptung auf: „Es gibt in Deutschland auch keinen strukturellen oder behördlichen Rassismus.“ Stattdessen verwies Behnke auf die angeblich mangelnde Zusammenarbeit der Polizeibehörden der Länder und das Neue am Vorgehen des NSU, die die damals bereits mögliche Ermittlung des NSU durch die Behörden wohl unmöglich gemacht hätten. Wer anderes behaupte, so Behnke in deutlicher Nähe zu den Ausführungen der Bundesanwaltschaft, stifte Unfrieden und Verunsicherung. Hier folgte bei Behnke auch ein Angriff auf einen Großteil der anderen Nebenklagevertreter_innen. In Behnkes Plädoyer ging es im Folgenden ausführlich um die Entwicklung der Angeklagten und insbesondere ihre DDR-Sozialisation (Behnke sprach hier u.a. von früheren ethischen und religiösen, besonders christlichen Grundlagen des Lebens und der Erziehung, die in der DDR erfolglos hätten ersetzt werden sollen durch andere Werte) und um die Umbrüche zur Wendezeit. Behnke nannte eine „gebrochene Kulturentwicklung“ bei den Angeklagten und dass diese sich schulisch und beruflich nicht hätten stabilisieren können. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse seien zwar der Nährboden, so Behnke, es bedürfe aber auch einer individuellen Bereitschaft und Entwicklung zum Handeln der Angeklagten. Es folgten umfängliche Ausführungen zu „kriminellem Verhalten“ und zur „Theorie der differentiellen Kontakte“. Zum Abschluss forderte Behnke die Angeklagten auf, noch im Prozess Angaben zu den Taten und Tatumständen zu machen.

Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwältin Hilka Link, die den Sohn des am 9. Juni 2005 in Nürnberg vom NSU ermordeten İsmail Yaşar vertritt. Link sagte, ihr Mandant habe am Plädoyer teilnehmen wollen: „Durch das destruktive Verhalten der Verteidigung wurde ihm das unmöglich gemacht.“ Link führte zum Mord an İsmail Yaşar aus, dass eine perfide Besonderheit die Tatsache war, dass sich der Tatort schräg gegenüber der Schule befand, die ihr Mandant zu der Zeit besuchte. Um ein Haar wäre ihr Mandant Augenzeuge des Mordes an seinem eigenen Vater geworden oder sogar selbst Opfer. Der Mord an seinem Vater sei ein großer und unheilbarer Schock für ihren Mandanten gewesen, das ganze Leben sei umgekrempelt worden, so Link. Die Lebensgrundlage der Familie sei von einem auf den anderen Tag in Frage gestellt gewesen. Für ihren Mandanten, seine Mutter und Schwester sei ganz besonders belastend gewesen, dass sie sich über viele Jahre kein mögliches Motiv für die Bluttat vorstellen konnten. Zu weiterem Leid habe auch die Art und Weise der Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei geführt, dass von Ermittlerseite schnell die Rede davon gewesen sei, dass eine Erklärung nur in der Organisierten Kriminalität, in Drogengeschäften, in Bestrafungsaktionen im kriminellen Milieu liegen könne: „Alle diese Vermutungen, die letztlich Unterstellungen und Diffamierungen waren, richteten großen Schaden an.“ Für ihren Mandanten blieben Fragen offen: „Warum mein Vater? Warum wir?“ Auch nach der Entdeckung der wahren Täter habe die Familie nicht wirklich verstehen können, wieso İsmail Yaşar das Opfer sein musste. Hinzu kämen die Fragen, wie die Täter überhaupt auf İsmail Yaşar kommen konnten, die Frage danach, wie eng die Verbindung des THS zu Nürnberg und Franken war, welches Mitglied der Unterstützerszene für den NSU den Tatort ausgespäht hat, der auf dem Kartenmaterial im Brandschutt sogar markiert war. Die drei Täter hätten Nürnberg sicher nicht so genau gekannt, dass sie die Tatorte des Mordes an Enver Şimşek, des Mordes an Abdurrahim Özüdoğru und des Mordes an İsmail Yaşar gefunden hätten. Link fragte: „Wer half ihnen? Wer wies auf diese Orte hin? Wer bestimmte damit deren Tod?“ In Bezug auf den Mord an İsmail Yaşar warf Link die Frage auf, ob Beate Zschäpe an diesem Tag entgegen ihrem sonstigen Verhalten vielleicht sogar dabei gewesen sei, und verwies auf die Aussage der Zeugin Andrea Ca. [48. Verhandlungstag]. Link: „Die Täter sind Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos UND Beate Zschäpe. Ich habe das ‚und‘ bewusst betont, da nicht der geringste Zweifel besteht, dass Beate Zschäpe in alle hier angeklagten Taten von Anfang an mit eingeweiht war, diese mit geplant hat und sogar führend bei der Entwicklung der erforderlichen Logistik war.“ Zschäpe sei der Mittelpunkt des mörderischen Trios gewesen, so Link. Zum Prozess sagte Link: „Unser Mandant glaubt, dass der Prozess eine ordentliche, umfassende und befriedigende Aufarbeitung der Taten geleistet hat. Ich muss jedoch festhalten, dass viele Fragen unseres Mandanten offenbleiben.“ Antworten auf Fragen zum Verfassungsschutz und zur lokalen Unterstützerszene des NSU hätten im Prozess nicht gefunden werden können. Die Hauptverhandlung könne die Aufarbeitung der Thematik NSU aber auch nicht vollumfänglich leisten, so Link schon an früherer Stelle, insbesondere die Aufklärung des Versagens der VS-Behörden könne nicht Aufgabe des Gerichts sein.

Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwältin Monika Müller-Laschet, die drei Betroffene des Nagelbombenanschlags des NSU in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 vertritt. Auch ihre Mandant_innen beschäftige die Frage nach dem Warum, so Müller-Laschet: „Diese Frage zog sich wie ein roter Faden durch den Prozess und auch durch das Leben meiner Mandanten.“ Die Hoffnung auf Beantwortung dieser Frage habe sich für ihre Mandant_innen jedoch nicht erfüllt. Ihre Mandant_innen hätten das Gefühl, nahezu fünf Jahre zu warten und dann doch mit leeren Händen da zu stehen. Müller-Laschet sagte, dass Warten das sei, „was meine Mandanten seit dem 9.6.2004 getan haben“: Warten, dass ihre Wunden verheilen, die wirklichen Täter gefunden werden und sie selbst rehabilitiert; Warten darauf, dass das Versprechen der Regierung nach Aufklärung sich erfüllt; Warten darauf, dass die Frage nach dem Warum beantwortet wird und „Warten darauf, dass das hier endlich, endlich, vorbei ist“. Bei ihren beiden männlichen Mandanten, so Müller-Laschet, sei im Laufe der Zeit aber auch die Einsicht und Entschlossenheit gekommen, mit dem Leben weiterzumachen und auf diesem Wege die Taten und die Ideologie des NSU Lügen zu strafen. Dies stelle für diese beiden Mandanten einen Sieg über den NSU dar. Der Kampf um die Rückkehr ins Leben habe bei diesen beiden Jahre gedauert. Ihre Mandantin leide aber nach wie vor massiv, ihre Rückkehr in die Normalität gestalte sich schwierig. Die Betroffene hätte sich vor allem eine Entschuldigung gewünscht, so Müller-Laschet, eine Entschuldigung hätte für ihre Mandantin eine Spur von Menschlichkeit bedeutet. Nun bleibe sie aber „zurück mit ihrem Trauma und ihrer Trauer“. Müller-Laschet: „Bei allen dreien bleibt somit zu sagen, dass der 9.6.2004 tiefe Spuren in Körper und Seele hinterlassen hat. Vergessen kann keiner den Tag, vergeben auch nicht. Vergebung hätte Übernahme von Verantwortung und Reue vorausgesetzt, was nicht erfolgt ist. Lediglich Carsten Schultze ist davon auszunehmen.“ Die Frage nach dem Warum könne auch nicht in philosophischer Art und Weise mit der Plattitüde beantwortet werden: Zur falschen Zeit am falschen Ort. Ihre Mandant_innen seien nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, sondern genau dort, wo sie hingehört haben, auf einer Straße in Köln, in Deutschland, wo sie ihren Angelegenheiten nachgegangen seien, in unserer Mitte. Die Keupstraße und ihre Bewohner seien „ein Teil unserer Gesellschaft, den wir dringend brauchen, weil er uns bereichert und weil die Menschen aus der Keupstraße durch ihr Zusammenstehen nach dem Anschlag für uns alle ein Vorbild sind“.

Anschließend plädierte Nebenklageanwalt Marcel Matt. Sein Mandant wurde beim Nagelbombenanschlag des NSU am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße verletzt. Die Hoffnung seines Mandanten sei, so Matt, dass „irgendwann alle Fragen der Hinterbliebenen beantwortet werden“. Sein Mandant vertraue darauf, dass der Senat die hier Angeklagten entsprechend verurteilen werde. Außerdem sei es der Wunsch seines Mandanten, dass nicht vergessen wird, dass vor dem Auffliegen des NSU die Betroffenen weit mehr im Fokus der Ermittlungen standen als die eigentlichen Täter. Sein Mandant habe ihn gebeten, dass im Urteil dokumentiert werden soll, dass die Ermittlungen gegen die Betroffenen, genau wie in den „Turner Tagebüchern“ beschrieben, gerade Teil des Tatplans waren. Matt ging dann darauf ein, warum seiner Überzeugung nach feststeht, dass es nicht zutreffen könne, dass Zschäpe vom Anschlag in der Keupstraße nichts wusste und nicht in die Vorbereitung einbezogen sein will. Beim NSU sei der Einsatz von Bomben gegen Menschen „von Anfang an geplant und beabsichtigt“ gewesen, so Matt. Wahrscheinlich hätte, so Matt, die Logistik hinter dem Anschlag in der Keupstraße ohne Zschäpe nicht so reibungslos laufen können. Matt: „Nicht aufgeklärt werden konnte, wo und wie genau die Bomben geplant, zusammengebaut und zu den Tatorten transportiert wurden und ob bzw. welche Helfer des sogenannten NSU jeweils vor Ort vorhanden waren“. Die „Triotheorie“ überzeuge ihn nicht. Die Logistik, die nötig ist, um eine solche Bombe wie beim Anschlag in der Keupstraße zur Umsetzung zu bringen, sei groß. Und genauso groß sei die Leistung, weder im Vorfeld, noch bei der Tatausführung noch bei der Flucht entdeckt zu werden. Zu den Verfassungsschutzbehörden sagte Matt, diese hätten „von Anfang an definitiv versagt“. Entgegen dem Versprechen der Bundeskanzlerin habe der VS gerade nicht für Transparenz gesorgt, habe Akten geschreddert und bis heute nicht all sein Wissen preisgegeben. Matt erklärte dann bewegend und selbst sichtlich bewegt, dass sein Mandant sich selbst nicht äußern wolle, ihn aber gebeten habe, deutlich zu machen, dass er dem Senat vertraue, die angemessene Strafe zu finden: „für all die Traumata, die Verletzungen, die Angst und den Schrecken, dafür, dass Schwestern und Brüder ihre geliebten Geschwister verloren haben, dafür, dass Väter und Mütter plötzlich ohne ihre geliebten Kinder leben mussten, dafür, dass geliebte Kinder ohne ihre geliebten Väter aufwachsen mussten, für diese große Trauer, das fast unermessliche Leid“.

Es folgten dann noch Abklärungen dazu, wie im neuen Jahr mit den wenigen verbliebenen Plädoyers der Nebenklage fortgesetzt wird. Dann beendete Götzl den letzten Verhandlungstag des Jahres 2017. Weiter geht es am Dienstag, den 9. Januar 2018.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

Zusammenfassung des 400. Verhandlungstag – 20. Dezember 2017

Vierzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Wie angekündigt begann der Prozesstag mit einer Beanstandung seitens der Verteidigung Wohlleben zur Sitzungsleitung des Vorsitzenden Richters Götzl. Nach ihrer Ansicht hätte der Vorsitzende bei den Plädoyers der Nebenklageanwälte Schön und Reinecke, die sieben Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße am 09. Juni 2004 vertreten, einschreiten müssen, als diese Strafanträge zu den Mitangeklagten von Zschäpe gestellt hätten, von denen aber keiner konkret wegen der Keupstraße angeklagt sei. Hier hätte der Senat laut Wohlleben-Verteidiger Klemke einschreiten und eine Rüge aussprechen müssen oder dieses Ansinnen der Nebenklageanwälte unterbinden müssen, da deren Anträge unzulässig seien. Nach einer Pause beantragte die Bundesanwaltschaft eine Pause von vier Stunden, um eine Stellungnahme vorbereiten zu können, was neben dem Streit über die Rechte der Nebenklage parallel einen solchen über die angemessene Länge einer Pause auslöste. Schließlich kam auch noch André Emingers angeblich angeschlagener Gesundheitszustand dazu und die Frage, ob er, wie sein Verteidiger Kaiser sich fragte, vier Stunden im Keller in der Arrestzelle ohne Tageslicht und frische Luft gut überstehen könne. Zschäpe-Altverteidiger Heer fragte sodann, ob denn die „Elite der deutschen Staatsanwaltschaft“, „drei der besten Staatsanwälte Deutschlands“ das nicht auch in kürzerer Zeit zustande bekommen könnten. Nach einigem Hin und Her, einigte man sich darauf, dass man mit dem Plädoyer des Nebenklageanwalts Hardy Langer fortfahren könne.

Zunächst bat Langer, der zwei Schwestern des am 25. Februar 2004 vom NSU getöteten Mehmet Turgut vertritt, das Gericht, im Urteil den korrekten Namen seines Mandanten zu verwenden, sein Name sei Mehmet Turgut und nicht, wie fälschlich in der Anklageschrift vermerkt und im Plädoyer der BAW wiederholt, Yunus. Langer ging dann den Fragen nach, die seine Mandantschaft bis heute am meisten bewegten: Warum Rostock? Warum Mehmet Turgut? Er beschrieb den Standort des Imbisswagens, in welchem Mehmet Turgut den Tod fand so, dass klar wurde, dass niemand diese Stelle im abgelegenen Stadtteil Toitenwinkel durch Zufall entdecken würde, dass es aber mindestens zwei Hinweise darauf gebe, dass Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe den späteren Tatort gekannt hätten. Den Imbissstand habe es dort seit Beginn der 1990er Jahre gegeben und es gebe einen persönlichen Bezug von Uwe Böhnhardt dorthin: In knapp einem Kilometer Entfernung vom Imbiss habe jene Cousine von ihm gewohnt, von der Brigitte Böhnhardt in der Hauptverhandlung gesagt habe, ihre Nichte habe das „böse Pech“ gehabt, ausgerechnet in dem Stadtteil gewohnt zu haben, wo später der Mord stattgefunden habe. Jedenfalls sei die Familie Böhnhardt dort früher öfter mal vorbeigefahren, zitierte Langer Frau Böhnhardt. Außerdem tauche in Toitenwinkel auch noch eine Person von der berühmten Garagenliste auf, die am 26.01.1998 in der NSU-Garage in Jena gefunden und asserviert, aber niemals ausgewertet worden sei. Ein gewisser Marcus H. stehe auf dieser Liste und sei auch einmal gemeinsam mit seiner Freundin Martina darauf vermerkt. Ihre Wohnung habe damals nur 230 Meter vom späteren Tatort entfernt gelegen und in Rostock habe zum Jahreswechsel 1994 auf 1995 eine Silvesterparty stattgefunden, an der Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe teilgenommen hätten. Es sei also wahrscheinlich doch kein Zufall, dass sich die Mörder diesen Imbiss ausspähten, so Langer. Dass es jedoch Mehmet Turgut traf, ist nach Langers Einschätzung durchaus Zufall, da niemand, schon gar nicht die Täter, ahnen konnte, dass am Tattag nicht der Standbetreiber selbst, der diesen sonst komplett allein unterhielt, da sein würde, sondern Mehmet Turgut, der kurzfristig eingesprungen war.

Sodann ging Langer auf weitere Besonderheiten des Rostocker NSU-Mordes ein, wo es Abweichungen vom üblichen Modus Operandi gegeben habe: Das Opfer wurde mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich im Imbissstand auf den Boden zu legen. Denkbar sei, so eine These Langers, dass eine weitere, zierliche Person dabei gewesen sei und ihr so die Möglichkeit verschafft worden sei, als im Schießen ungeübte Person einen Schuss auf den Liegenden abzugeben. „So oder ganz ähnlich müssen die letzten Minuten von Mehmet Turgut verlaufen sein. Auch dazu könnte Beate Zschäpe mit Sicherheit genaue Details benennen, aber sie war bislang nicht bereit, dazu mehr zu sagen, weder von sich aus, noch auf Fragen hierzu. Möglicherweise aus gutem Grund“, so Langer anspielungsreich. Die Ermittlungsarbeit der Rostocker Kriminalpolizei sei davon geprägt, dass sie zwar sehr intensiv und von einem deutlichen Aufklärungswillen getragen war, aber letztlich schon ganz zu Beginn ein bedeutender Ermittlungsbereich ausgeklammert wurde: „Wie wir heute wissen, der Entscheidende“, sagte Langer. Dabei neige er nicht dazu, deshalb den Rostocker Ermittlern im einzelnen Rassismus vorzuwerfen oder gar einen solchen institutionalisiert zu sehen, ergänzte er in deutlicher Abgrenzung zu einigen seiner Kolleg_innen, die bereits plädiert haben und den Behörden zum Teil weit mehr noch als nur massiven institutionellen Rassismus vorwerfen. Dann stellte er klar, dass Ermittlungen gegen den mittelbar Betroffenen Imbissbesitzer und Onkel des Ermordeten an die Grenzen des Erträglichen gegangen seien. Während dieser stundenlangen Verhören unterzogen wurde, sei ein „rechter oder fremdenfeindlicher Hintergrund“ früh nicht weiter verfolgt worden, so Langer. Das und auch, dass man sich bald aus unerfindlichen Gründen auf das Agieren einer „international operierenden Rauschgiftbande“ festlegte, sei insbesondere deshalb nicht nachvollziehbar, weil es mindestens zwei Angriffe auf den Dönerimbiss gab, welche einen rassistischen Hintergrund vermuten lassen: Im Jahr 1998 sei der Inhaber bei einer Prügelattacke, die von rassistischen Sprüchen begleitet war, erheblich verletzt worden, wenige Wochen später sei sein Imbiss ausgebrannt; ein Mitarbeiter der Feuerwehr habe Brandstiftung vermutet.

Dann kam Langer zur Frage: „Wer war Mehmet Turgut?“: „Für Mutter und Vater war er der Stolz, der älteste Sohn. Er trug den Namen seines Vaters. Für meine Mandantinnen war er immer der große Bruder, ebenso wie für die weiteren Nebenkläger. Auch Mehmet Turgut liebte seine Familie über alles. Mehmet Turgut war ein guter Sohn und ein beliebter und geschätzter Bruder. Er war liebenswert und lebensfroh, ein ruhiger, nachdenklicher junger Mensch, der ein herzliches Lachen und warme Augen hatte.“ Der Familie Turgut sei es wichtig, dass Mehmet Turgut nicht als das anonyme Opfer der Mordserie in Erinnerung bleibe, sondern als der von ihnen geliebte Mensch. Nun hob Langer an, den Senat und insbesondere den Vorsitzenden Richter Götzl und dessen Verhandlungsleitung im Rahmen der bisherigen 400 Verhandlungstage zu loben. Denn groß seien die Erwartungen und der Druck, die auf dem Senat lasteten, meinte Langer: Die der Opfer, die der Öffentlichkeit und auch die der Angeklagten. Langer machte dann sehr scharfsinnige Ausführungen zu einzelnen Angeklagten, unter anderem ausführlich dazu, dass der Angeklagte Holger Gerlach eventuell doch der Beihilfe zum Mord an Mehmet Turgut schuldig sein könnte: „Ich gebe zu, ich weiß letztlich nicht, ob ich hier richtig liege (…). Ich sehe nur, es geht um hauchzarte Nuancen, um den sprichwörtlich seidenen Faden, an dem eine tonnenschwere Unterschiedlichkeit von Folgen hängt. (…) Holger Gerlach sei damit verdeutlicht, wie knapp er gegebenenfalls an einer gegebenenfalls mehrfachen Beihilfe zum Mord vorbeigeschrammt sein könnte“, wenn der Senat seine, Langers, Einschätzungen nicht teile und im Urteil berücksichtige werde.

Einen langen Teil seines Plädoyers widmet Langer in sehr kluger und deduzierter Weise den Widersprüchen und Falschbehauptungen in Zschäpes Einlassungen. So will Zschäpe sich laut ihrer Einlassung am 26.01.1998 – dem Tag, an dem das Kerntrio während einer Hausdurchsuchung und der Durchsuchung der NSU-Garagen in Jena untertauchte – angeblich geweigert haben, die Garage Nr. 5 an der Kläranlage „abzufackeln“, wie Böhnhardt telefonisch angeordnet habe. Hier passe, so stellt Langer minutiös fest, schon der behauptete zeitliche Ablauf und auch die Umstände nicht, unter welchen Zschäpe zu diesem Zweck „eine Flasche Benzin“ an einer Tankstelle geholt haben will. So habe Zschäpe z. B. nicht erläutert, wie sie auf die Schnelle eine 0,7-Liter-Flasche, deren Öffnung deutlich schmaler ist als die Öffnung eines Benzinzapfhahns, an einer Tankstelle befüllt haben will, oder an welcher Tankstelle sie diese sehr auffällige Mindermenge besorgt haben will. Weitere Komplexe von Zschäpes Aussage widerlegte Langer mit Hilfe logischer Schlussfolgerungen: So ging er noch einmal auf ihr angebliches Klingeln bei der betagten Nachbarin in der Zwickauer Frühlingsstraße vor der Brandlegung am 04.11.2011 ein, auf das Schneiden von Videoclips und auf die letzten Tage des NSU. Hier geht Langer davon aus, dass ursprünglich kein Überfall in Eisenach, sondern einer in Gotha geplant gewesen sei. Dabei sei Zschäpe stets von den Uwes informiert worden, auch über deren bevorstehendes Ende in Eisenach-Stregda an jenem 04.11. In einer langen sehr persönlichen Ansprache der Hauptangeklagten versuchte Langer Zschäpe doch noch, kurz vor Ende des Prozesses, zu einer Umkehr und zu Aufklärung und Geständnis darüber zu bewegen, wie es wirklich war, was nur sie wissen könne. Am Ende sagte er: „Die Zeit der anwaltlichen Strategie und Taktik ist in Ihrem Fall vorbei. (…) Sie sind nun an dem Punkt, an dem ihnen kein Anwalt mehr helfen kann, sie können sich nur noch selbst helfen.“

Anschließend plädierte noch Nebenklageanwalt Aziz Sariyar, der Angehörige des am 09. Juni 2005 vom NSU in Nürnberg ermordeten İsmail Yaşar vertritt. Er erneuerte in moderater Form Kritik an Ermittlungsbehörden und der Bundesanwaltschaft: „Eine Frage, die hier hätte aufgeklärt werden können, ist die nach dem Netzwerk hinter dem Trio“. Es müsse Unterstützer_innen in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Kassel und Dortmund gegeben haben, stellte er fest. Diesem Netzwerk seien die Ermittler nicht ernsthaft nachgegangen. Zum Abschluss seines kurzen Schlussvortrags verlas Rechtsanwalt Sariyar noch eine Erklärung seiner Mandantschaft, in der es heißt: „Unsere Hoffnung zu erfahren, warum unser İsmail ausgesucht wurde und sterben musste, hat dieser Prozess nicht erfüllt.“ Um 15:07 Uhr beendet Richter Götzl den 400. NSU-Prozesstag.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

Zusammenfassung des 399. Verhandlungstag – 19. Dezember 2017

Dreizehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Es sollte zwar wieder ein kurzer Tag werden, weil Nebenklageanwalt Reinecke – nach leichter Verzögerung wegen technischer Probleme – aber sein Plädoyer fortsetzen konnte, hatte es dieser Tag dennoch in sich. Reinecke ließ es sich nicht nehmen, zunächst ein paar Worte zum Plädoyer des Nebenklageanwalts Mustafa Kaplan zu verlieren. Kaplan hatte am vergangenen Donnerstag nach den ersten Teilen von Reineckes Plädoyers noch sein kurzes Plädoyer halten können und dabei fast ausschließlich Kritik am größten Teil seiner Nebenklage-Kolleg_innen geübt. Unter anderem hatte er zur – vor allem von Nebenkläger_innen selbst – geforderten Erfüllung des Aufkärungsversprechens von Angela Merkel insinuiert, dass es bei dieser Forderung um eine Einflussnahme der Politik auf den Prozess gehe, etwa durch einen Anruf Merkels beim Vorsitzenden Richter. Hier stellte Reinecke richtig, dass es nie um einen Einfluss der Politik auf das Verfahren gegangen sei, „sondern umgekehrt gerade darum, dass die Politik das Verfahren hier nicht dazu benutzt, um von weiteren Aufklärungen Abstand zu nehmen.“ Reinecke sagte mit Blick auf Kaplans Plädoyer, dass, wer die Plädoyers und Erklärungen der Nebenklagevertreter_innen nicht kenne, diese Ignoranz nicht zur Grundlage machen könne, um „Allgemeinplätze“ zur Gewaltenteilung zu verbreiten: „Wenn in diesem Verfahren die Gewaltenteilung in Gefahr ist, dann durch das Verhalten des Verfassungsschutzes der durch Sperrung und Freigabe von Akten eventuell einen steuernden Einfluss ausübt.“ Zur Rolle des Rechtsanwaltes sagte Reinecke: „Eines kann ich nicht: unter Berufung darauf, dass ich ein unabhängiges Organ der Rechtspflege wäre, das Mandat anders führen als es der Mandant verlangt. Ein abschreckendes Beispiel dafür wurde uns gestern durch das Schreiben einer Nebenklägerin an das Gericht bekannt. [Reinecke bezieht sich damit auf den Wunsch der Mandantin von Angela Wierig, die nach deren Plädoyer von letzter Woche nicht mehr von ihr vertreten zu werden.] Wenn der Mandant den Auftrag erteilt, im vorliegenden Verfahren möglichst umfassend für eine Aufklärung auch der Tätigkeit des Verfassungsschutzes zu sorgen, und ich dieses Aufklärungsverlangen sogar für berechtigt halte, dann habe ich nicht in intellektueller Überheblichkeit dem Mandanten zu erklären, dass das alles nicht geht, sondern dann habe ich als einseitig gebundener Interessenvertreter des Mandanten die Aufgabe, unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten (…) den Versuch zu machen, diesen Auftrag durchzuführen.“ Reinecke wies darauf hin, dass die Nebenkläger_innen nur hier im Verfahren die Möglichkeit haben, selbst auf den Gang und den Umfang der Aufklärung Einfluss zu nehmen. Wenn man als Anwalt keinen Einfluss nehmen wolle, dann könne aus einem unabhängigen schnell ein „untätiges“ Organ der Rechtspflege werden. Obwohl die Zschäpe-Altverteidigung in mittlerweile bekannter Manier in Reineckes Kritik an Kaplan hineingrätschte, konnte Reinecke sein Plädoyer an diesem Verhandlungstag beenden.

Er widmete sich dann den Tatbekennungen des NSU und trat hier der Behauptung entgegen, der NSU habe keine Tatbekennungen veröffentlicht, womit die Bundesanwaltschaft das Versagen der Behörden habe erklären wollen. Der NSU habe ursprünglich durchaus Tatbekennungen vorgesehen, so Reinecke, später hat er sich dann durch die Taten selbst bekannt. Reinecke kritisierte u.a. die Aussage OStA Weingartens in dessen Plädoyer, dass die Verwendung einer Schalldämpferwaffe als „klischeehaftes Instrument eines Profikillers“ die Behörden fehlgelenkt habe. Reinecke: „Die Strafverfolgungsbehörden müssen doch eigentlich wissen, dass es kein reales Beispiel für so einen Profikiller gab und gibt. Für einen Profikiller gehört es zum Berufsrisiko erwischt zu werden, er wird nicht darauf erpicht sein, dass man ihm dann nicht nur einen, sondern gleich 9 Morde nachweisen kann.“ Reinecke verwies bzgl. der Tatbekennungen auf die Verbreitung des „NSU-Briefs“ und auf das erste und zweite „Vorgänger“-Video; das zweite Bekennervideo sei im Wesentlichen lediglich eine Fortschreibung des ersten, aber keine Vorläuferversion des Paulchen-Panther-Videos. Durch den „NSU-Brief“ hätten weitere Personen für den NSU gewonnen werden sollen, und diese wie auch die bisher schon dem NSU zugehörige Personen hätten sich untereinander über rechtsradikale Fanzines, das Internet und Zeitungen verständigen sollen. Der „NSU-Brief“ stehe in engem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang zum zweiten Bekennervideo. Dieses sei in sich abgeschlossen, wenn auch durchaus um weitere Taten erweiterbar. Reinecke legte an Beispielen dar, warum er der Auffassung ist, dass das zweite Video sich an einen Personenkreis richtete, dem nicht mehr erklärt werden musste, dass es den NSU gibt und was der NSU ist: „Das waren die Empfänger oder Leser des NSU-Briefes – wenn er veröffentlicht worden wäre -, in dem ausdrücklich erklärt war, was der NSU ist.“ Der NSU habe erst die weitere Entwicklung abgewartet, insbesondere die Versendung des „NSU-Briefes“, die Reaktionen darauf, wie aber auch die dann eventuell erfolgende Veröffentlichung des zweiten Videos. Die Verbreitung des „NSU-Briefes“ und deshalb wahrscheinlich auch des zweiten Bekennervideos sei nach allem, was man wisse, aber gering gewesen, letzteres sei wohl nur unter Vertrauten verbreitet worden. Der NSU habe registrieren müssen, „dass bereits der erste Teil ihres Planes, nämlich die Veröffentlichung des NSU-Briefes in verschiedenen rechtsradikalen Organen nicht stattgefunden hat und damit auch keine Diskussion über ihr Konzept des Untergrundes.“ Reinecke ging dann auf „weitere Lügen“ Zschäpes in ihren Einlassungen ein, die sich im Zusammenhang mit „NSU-Brief“ und zweitem Bekennervideo feststellen ließen.

Selbst wenn man seine Einschätzung zum Zusammenhang zwischen dem „NSU-Brief“ und dem zweiten Bekennervideo nicht teile, bleibe, so Reinecke dann, dass beide ursprünglich für eine Veröffentlichung bestimmt gewesen seien, das ergebe sich auch aus dem Inhalt des Videos. Reinecke: „Es wird schon eine herbe Enttäuschung für das Trio gewesen sein, dass der NSU-Brief nicht das erwartete und erhoffte Echo gefunden hat.“ Der NSU habe deshalb eine Straftat geplant, bei der auch aus Sicht des NSU eigentlich sofort habe klar sein müssen, dass sie auf Rechtsterroristen zurückging, nämlich den Bombenanschlag in der Keupstraße. Dieser Bombenanschlag habe für den NSU eine zentrale Bedeutung gehabt. Reinecke wies hier auf den erheblichen logistischen Aufwand und auf die Intensität der Nachbearbeitung hin. Das Tatmittel habe von vornherein auf eine terroristische Tat hingewiesen. Reinecke: „Der Ort der Tat war eine klare Kampfansage an migrantische Strukturen. Diese Form der Tatbekennung war so deutlich, dass auch die erste polizeiliche Meldung zu der Tat diese als terroristisch bezeichnete. Es bedurfte dann schon erheblicher bewusster politischer Anstrengungen, um diese Sichtweise der Tat aus der Öffentlichkeit herauszuhalten.“ Die nächste Mordtat, der Mord an İsmail Yaşar in Nürnberg am 09.06.2005, habe ebenfalls den Charakter einer Tatbekennung. Das Datum – Jahrestag des Anschlages in der Keupstraße – sei gewählt worden, um ganz bewusst die Beziehung zwischen den Mordtaten an einzelnen Personen und dem Bombenanschlag in der Keupstraße herzustellen. In diesem Zusammenhang ging Reinecke auf die Zeugin K. ein. Diese hatte auf dem Überwachungsvideo des Fernsehsenders Viva zum Anschlag in der Keupstraße die Täter wiedererkannt, die sie in Nürnberg vor dem Mord an Ismail Yasar gesehen hatte. Reinecke: „Sie berichtet auch, dass ihr trotzdem eine Vielzahl von Lichtbildern vorgelegt wurden, von denen die meisten südländisch- und türkischstämmige Personen zeigten und dass auf ihre Frage, warum dies trotz ihrer Personenbeschreibung passiere, die Polizeibeamten ihr erklärten, das machten sie immer so. Ich weiß nicht, wie man dieses Verhalten der Polizei anders als institutionellen Rassismus bezeichnen soll. (…) Niemand hat je behauptet, dass alle Ermittlungspannen in allen Verfahren Ausdruck des institutionellen Rassismus sind. Aber die Ermittlungen in diesem Verfahren sind gleichzeitig so etwas wie eine repräsentative Umfrage auf den Polizeiwachen der Republik von München bis Hamburg und von Dortmund bis Rostock in vergleichbaren Fällen. (…) Gerade die Übereinstimmung in den Reaktionen der Ermittlungsbehörden quer durch die Republik machen deutlich, dass es dabei um ein grundlegendes Problem ging und nicht um Ermittlungspannen hier oder da. Dieses grundlegende Problem als institutionellen Rassismus zu umreißen, halte ich für zutreffend.“

Reinecke ging dann über zum sogenannten „Paulchen-Panther-Video“, dem dann tatsächlich verschickten Bekennervideo des NSU: „Der NSU hätte das zweite Bekennervideo fortschreiben können, entschied sich aber offensichtlich angesichts der Tatsache, dass selbst nach dem neunten Mord die Sicherheitsbehörden in Deutschland immer noch nicht den Zusammenhang und die Hinweise auf einen rechtsradikalen Untergrund verstanden hatten, eher dafür, ein Video zu erstellen, das – anders als das zweite Bekennervideo – nicht aus einer offen aggressiven und direkten Rechtfertigung der nach Ort und Zeit geschilderten Mordtaten bestehen sollte, sondern das mit dem Mittel der scheinbaren Ironie auf Beifall in der Szene hoffte bei gleichzeitiger Verächtlichmachung der Opfer.“ Gegen die Behauptungen der Angeklagten Zschäpe argumentierte er, dass die Konzeption der DVD dafür spreche, dass sie nicht irgendwann isoliert verschickt werden sollte, sondern eher im Zusammenhang mit einer Aktion. Es sei kein Abschiedsvideo gewesen, das erst nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt verschickt werden sollte, wie Zschäpe behauptet. Das ergebe sich bereits aus der Ankündigung einer zweiten DVD. Und: „Das Ende des Videos mit ‚Heute ist nicht aller Tage, wir kommen wieder, keine Frage‘ ist sicherlich das Gegenteil von ‚Wenn ihr das hier seht, sind wir schon tot‘.“ Reinecke: „Da die Videos aber eingetütet waren, spricht einiges dafür, dass der NSU eine weitere vielleicht große Tat plante, in deren Zusammenhang das Video verschickt werden sollte.“ Auf einem Rechner des NSU sei eine Karte von „Google Maps“ für das Jüdische Krankenhaus in Berlin gefunden worden, die nach April 2011 heruntergeladen sein musste, weil der Computer erst im April 2011 eingerichtet worden war. Es könne also durchaus sein, dass durch den Selbstmord der beiden Uwes am 04.11.2011 ein geplanter größerer Terroranschlag verhindert wurde und Zschäpe die in diesem Zusammenhang ohnehin geplante Verschickung des Bekennervideos als Teil eines größeren Planes durchgeführt hat.

Reinecke schloss dann noch kurze Ausführungen zum Strafantrag an, folgte hier aber im Wesentlichen den Ausführungen der BAW. Für Carsten Schultze halte er eine zur Bewährung auszusetzende Jugendstrafe für vertretbar. Nur zu Beate Zschäpe sagte Reinecke etwas mehr. Er führte u.a. aus: „Das Gericht kann die besondere Schwere der Schuld feststellen, es kann aber keine Bedingungen definieren, unter denen später irgendwann einmal eine Entlassung von Frau Zschäpe möglich ist. Es steht aber fest, dass Frau Zschäpe umfangreiches Wissen über die Mordanschläge und sonstige Verbrechen hat, dieses bisher aber nicht preisgeben will. Aus meiner Sicht ist es dem Gericht nicht verwehrt im Urteil festzuhalten, dass aus Sicht des erkennenden Gerichts eine günstige Sozialprognose für eine irgendwann in ferner Zukunft anstehende Entlassung nicht gestellt werden kann, wenn Frau Zschäpe nicht den erforderlichen Abstand zu ihren Taten gewonnen hat und dass dies letztlich nur daran überprüfbar ist, wie weit sie ihr Wissen über den NSU und seine Taten auch tatsächlich preisgibt.“

Im Anschluss an das Plädoyer bat Wohlleben-Verteidiger Klemke zunächst um eine halbstündige, nach der dann eingelegten Mittagspause um eine weitere dreistündige Unterbrechung, damit die Verteidigung Wohlleben eine Beanstandung formulieren könne. Außerdem gab der Angeklagte Eminger erneut an, Kopfschmerzen zu haben und Eminger-Verteidiger Kaiser sowie Zschäpe-Verteidigerin Sturm wiesen auf ihre Erkältungen hin. Deshalb beendete Götzl den Verhandlungstag bereits um 13:10 Uhr.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

Zusammenfassung des 398. Verhandlungstag – 14. Dezember 2017

Zwölfter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Der heutige Verhandlungstag konnte pünktlich beginnen (die Anwälte des Angeklagten Eminger hatten ihre Erkältungen anscheinend überwunden und waren beide anwesend) und hatte vor allem die Widersprüche und Unwahrheiten in den Einlassungen der Angeklagten Zschäpe zum Thema. Denn Rechtsanwalt Eberhard Reinecke, der Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße vertritt, hatte es sich in seinem Plädoyer zur Aufgabe gemacht, die Einlassungen Zschäpes nachgerade zu zerlegen. Damit setzte Reinecke einen Teil seiner bisherigen Arbeit als Nebenklagevertreter fort. Denn Reinecke und sein Kollege Schön hatten schon in der bisherigen Hauptverhandlung immer wieder Beweisanträge gestellt, die auf offensichtliche Differenzen der schriftlichen Einlassungen Zschäpes etwa zu Feststellungen aus der Beweisaufnahme hinwiesen.

Zunächst aber machte Reinecke einige Vorbemerkungen zur Rolle der Bundesanwaltschaft. Die Opfer erwarteten von dieser vor allem, dass sie ihre Ermittlungsversprechen wahrmacht. Dies betreffe auch Ermittlungen zum Unterstützernetzwerk. Bis heute sei kein Verfahren bekannt geworden, das die BAW so geführt habe, dass mit einer Anklageerhebung zu rechnen ist. Reinecke dagegen: „Die Bundesanwaltschaft wird sich in Zukunft daran messen lassen müssen, welche weiteren Unterstützer sie anklagt.“ Die Nebenkläger, so Reinecke, wären froh, wenn die BAW die Vermutung, dass keine weiteren Verfahren folgen werden, Lügen straft. Beispielhaft legte Reinecke dar, dass zumindest gegen Unterstützer, die als Zeugen im Verfahren teilweise „nach Strich und Faden“ gelogen hätten, Verfahren wegen Falschaussagen angestrengt werden müssten. Er nannte hier den Zeugen Ralph Hofmann [164. Verhandlungstag], den Zeugen Fiedler [187. Verhandlungstag] und Marcel Degner [zuletzt 309. Verhandlungstag]; von letzterem sei zumindest bekannt, dass ein Verfahren eingeleitet wurde. Am Ende der Vorbemerkung formulierte Reinecke: „Frau Kollegin Lunnebach hat am Ende Ihres Plädoyers einen Appell an den Senat gerichtet, unbequem zu sein. Diesem schließe ich mich an. Ebenso dem Appell des Kollegen Scharmer, im Urteil deutlich zu machen, was alles nicht im Prozess aufgeklärt werden konnte.“

Dann ging Reinecke zur Einlassung Zschäpes über. Den ersten Teil stellte er unter die Überschrift „Teilschweigen und mangelnde Authentizität“. Er ging der Frage nach, welche Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Einlassung das schriftliche Frage-Antwort-Spiel der Angeklagten und ihrer neuen Verteidiger hat. Offenbar meinten die Vertrauensverteidiger Zschäpes mit dieser Form der Einlassung den „Stein der Verteidigungsweisen“ gefunden zu haben. Dass ein solches Frage- und Antwort-Spiel überhaupt möglich war, sei der schlichten Tatsache geschuldet gewesen, so Reinecke, dass sich das Verfahren ohnehin schon lange hingezogen hatte. Das Vorgehen der Angeklagten führe aber dazu, dass ihre Angaben schon von vornherein und ohne inhaltliche Prüfung als unglaubhaft angesehen werden müssten. Die Authentizität der Aussage entwickle sich im Dialog von Frage und Antwort, sagte Reinecke. Auch nonverbale Reaktionen, z. B. Minenspiel und Spontaneität, spielten bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eine Rolle. Reinecke: „Legt man all diese Maßstäbe zugrunde, so steht von vornherein fest, dass die Angaben von Frau Zschäpe bei der Beweiswürdigung nur von untergeordneter Bedeutung sind.“ Reinecke ging auch auf die Tatsache ein, dass Zschäpe Antworten auf viele der schriftlich gestellten und nicht beanstandeten bzw. vom Gericht für zulässig erklärten Fragen schlicht verweigert hatte, hier vor allem Antworten auf Fragen aus der Nebenklage: „Dieses Verhalten belegt nicht nur ihre Verachtung gegenüber den Opfern, sondern ist als Teilschweigen ohne weiteres verwertbar.“ Viele der Fragen der Nebenklage hätten offenkundige Widersprüche in der Einlassung Zschäpes angesprochen, insofern könne in der Beweiswürdigung auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass Zschäpe genau solche Fragen nicht beantwortet hat. Reinecke nannte drei Beispiele offensichtlich prozessrelevanter Fragen, die Zschäpe nicht beantwortet habe und sagte dann: „Ich könnte noch ein bis zwei Stunden lang erkennbar prozessrelevante Fragen von Nebenklagevertretern verlesen, die von der Angeklagten nicht beantwortet wurden. Es trifft also schlicht nicht zu, dass Frau Zschäpe alle prozessrelevanten Fragen beantwortet hätte.“ Zschäpe habe zur Begründung der Nichtbeantwortung von Fragen u.a. angegeben, dass sie der Meinung sei, dass viele der Fragen eher in einem Untersuchungsausschuss und nicht in einem Strafprozess gestellt werden sollten. Welche Fragen das sein sollen, könne man der Einlassung nicht entnehmen. Vielleicht wolle Zschäpe damit Verständnis bei denen finden, die gerne unangenehme Fragen aus dem Prozess in einen Untersuchungsausschuss auslagern würden. Zeitungsberichten sei zu entnehmen, dass der sächsische Untersuchungsausschuss erwogen habe, Zschäpe als Zeugin zu laden. Man dürfe also gespannt sein, ob sie die Fragen dort beantwortet. Reinecke: „Ich vermute, das wird sie nicht tun.“

Eine authentische Einlassung zeichne sich dadurch aus, so Reinecke, dass sie vor dem Auge des Lesers oder Hörers Bilder entstehen lässt, und zeichne sich durch Detailreichtum aus. Reinecke: „Nun ist es nur guten Schriftsteller gegeben, Sachverhalte schriftlich so zu schildern, dass beim Leser Bilder entstehen.“ In einer mündlichen Befragung sei es viel eher möglich, solche Bilder entstehen zu lassen, weil der Fragende Einzelheiten erfragen könne, die ihm an seinem Bild fehlen. Reinecke führte dann an Beispielen plastisch vor, wie im Unterschied zu Zschäpes Einlassung eine authentische Schilderung hätte aussehen können. Er ging z. B. auf die Nachfrage des Vorsitzenden bzgl. einer Angabe Zschäpes zum Anschlag in der Kölner Probsteigasse ein. Zschäpes Einlassung [257. Verhandlungstag]: „Was sprachen Mundlos und Böhnhardt über Köln? Antwort: Details kann ich nicht schildern. Ich hatte nur ab und zu das Wort Köln verstanden. Ich hatte sie nie darauf angesprochen, ob sie in Köln etwas vorhatten.“ Reinecke dazu: „Wir versuchen uns das jetzt mal plastisch vorzustellen. Bevor die Angeklagte angeblich etwas zum ersten Mord erfahren hat und in der guten Stimmung nach dem erfolgreichen Banküberfall sitzen die Drei im Wohnzimmer und die Angeklagte hört angeblich immer nur: Murmel, murmel, murmel Köln. Murmel, murmel, murmel Köln. Murmel, murmel, murmel Köln.“ Warum sie in dieser Situation nicht einmal fragt, was mit Köln ist, habe Zschäpe nicht nachvollziehbar erklärt. Es drängten sich hier aber einige Fragen geradezu auf, so Reinecke. Auch in Bezug auf die Schilderung Zschäpes, wie sie von der Ermordung Enver Şimşeks erfahren haben will, legt Reinecke dar, wie detailarm diese gewesen sei. Das sei insgesamt keine authentische Darstellung einer Person, die durch die Offenbarung eines Mordes überrascht wird, so Reinecke: „Anders natürlich dann, wenn man von vornherein – wovon ich ausgehe – in die Mordplanung einbezogen war.“ An den wenigen Beispielen könne man schon sehen, dass die mangelnde Authentizität ein deutliches Lügenanzeichen ist, so Reinecke. Reinecke:“Offensichtlich ist ihr und ihren jetzigen Vertrauensverteidigern klar, dass Frau Zschäpe. eine mündliche Befragung nicht durchstehen kann.“ Wer geschickt lügen wolle, mache es so wie der hessischen Verfassungsschützer Hess es seinem Kollegen Temme empfohlen habe, nämlich möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Reinecke: „Authentisch kann der Lügner nur sein, wenn er weitestgehend eine zutreffende und auch authentische Schilderung abgibt und lediglich an bestimmten neuralgischen Punkten das wahre Geschehen verändert. Frau Zschäpe hingegen stand vor der Aufgabe fast 14 Jahre im Untergrund umzulügen.“ Reinecke kommt zu dem Schluss, dass Zschäpe nach dem Verlauf der Hauptverhandlung anders als ihre damaligen Verteidiger die realistische Einschätzung gehabt habe, dass ihr Schweigen nichts nutzt: „Die Alternative zum Schweigen ist aber nicht die verlogene Einlassung.“

Im nächsten Teil ging Reinecke detailliert auf die sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Darstellungen Zschäpes ein, ob und wie sie aus Zeitungen von den Taten des NSU erfahren haben will. Mal lasse sich der Einlassung nichts dazu entnehmen, mal habe sich Zschäpe laut ihrer Einlassung mit den Angaben von Böhnhardt und Mundlos zufrieden gegeben, mal habe sie angeblich plötzlich Zweifel gehabt und sich selbst Zeitungen besorgt, ausgerechnet nach dem Mord an Habil Kılıç hätten ihr laut ihrer Einlassung wiederum Mundlos und Böhnhardt einen Zeitungsartikel vorgelegt. Die Angaben Zschäpes dazu seien offenbar erfunden, um vorhandene Finger- und DNA-Spuren auf beim NSU sichergestellten Zeitungsartikeln scheinbar harmlos erklären zu können, so Reinecke. Im Zusammenhang mit dem Zeitungsarchiv des NSU übte Reinecke aber auch Kritik an BAW und BKA wegen Ermittlungslücken. Es stelle sich hier ziemlich offensichtlich die Frage, wie das „Trio“ in den Besitz der Artikel gekommen ist, und damit die Frage nach möglichen weiteren Unterstützern. Diese Frage hätten sich laut Akten offensichtlich auch Beamte im BKA gestellt, die Ermittlungen dazu seien aber auf halber Strecke stehengeblieben. Reinecke: „Was kann man tun, wenn das Erscheinungsdatum eines Artikels nicht erkennbar ist? Man könnte den Journalisten einfach mal anrufen, wie ich das in Vorbereitung des Plädoyers getan habe.“

Reinecke erläuterte dann, was sein Telefonat mit dem Journalisten der „Nürnberger Nachrichten“ ergeben hat, wurde aber an dieser Stelle von Zschäpe-Verteidiger Stahl unterbrochen, weil er hier etwas schildere, was nicht Teil der Hauptverhandlung gewesen sei. Es folgte eine Diskussion um die Zulässigkeit der Ausführungen Reineckes, bei der die Altverteidigung Zschäpe erneut ihre enge Auslegung des Schlussvortragsrechts darlegte, auf die sie schon mehrfach beinahe gleichlautende und ablehnende Gerichtsbeschlüsse erhalten hatte. Der Vorsitzende Richter Götzl hielt das Vorgehen auch diesmal für zulässig: Reinecke formuliere hier einen Appell an die Aufklärungspflicht des Senats. Wie zu erwarten, verlangte Stahl auch diesmal wieder einen Beschluss, den er dann nach der Mittagspause auch bekam: Die Verfügung des Vorsitzenden wurde bestätigt.

Reinecke konnte dann mitteilen, dass sein Telefonat ergeben habe, dass der Artikel zweieinhalb Monate nach dem Mord an Habil Kılıç erschienen sei. Es stelle sich die Frage, wie dieser Artikel aus einer Zeitung, die, wenn überhaupt, nur an einer Stelle in Zwickau vertrieben wurde, in das Zeitungsarchiv des NSU gekommen ist. Die naheliegende Antwort sei, dass es Helfer in Nürnberg gegeben hat. Dass Zschäpe zweieinhalb Monate lang Tag für Tag zum Bahnhof gegangen sei, um herauszufinden, ob in den „Nürnberger Nachrichten“ ein für das Archiv wichtiger Artikel erschienen ist, könne man jedenfalls nicht glauben.

Dann ging es in Reineckes Plädoyer um die „altruistischen Lügen“ Zschäpes in ihren Aussagen über André Eminger und dessen Ehefrau Susann: „Die Angeklagte versuchte, die Familie Eminger herauszuhalten.“ Es spreche alles dafür, dass gerade zum Anschlag in der Keupstraße der Kontakt zu Emingers besonders eng war. Dass André Eminger als LKW-Fahrer „zufällig gerade eine Fuhre in die Kölner Gegend hatte, als Böhnhardt und Mundlos den Sprengstoffanschlag in der Keupstraße durchführten, überstrapaziert den Glauben an Zufälle“. Um Susann Eminger abzuschirmen sei die Angeklagte in ihrer Einlassung sogar so weit gegangen, dass sie auf Fragen des Vorsitzenden weiter geantwortet habe, als von ihr eigentlich erwartet worden sei. Zschäpe habe Susann Eminger einerseits als gute Freundin beschrieben, andererseits habe sie ungefragt angegeben: „Persönliche Themen über unser Zusammenleben oder Dinge, die mich belasteten, wurden von mir nie angesprochen.“ [313. Verhandlungstag]
Reinecke widmete sich in seinem Plädoyer schließlich dem Komplex „Vorsprechen bei der Polizei Zwickau am 11. Januar 2007“. Der Anklageschrift zufolge solle sich Beate Zschäpe bei der Polizei damals als André Emingers Ehefrau ausgegeben haben. Reinecke argumentierte dagegen, dass es womöglich doch Susann Eminger gewesen sei, die zusammen mit André Eminger zur Polizei gegangen sei und sich dort anstatt Zschäpes als Bewohnerin der Wohnung in der Polenzstraße ausgegeben habe. Reinecke verweist hier auf eine parallele Wohnmobilanmietung des NSU: „Es spricht einiges dafür, dass in diesem Fall Frau Zschäpe sich zusammen mit den Uwes aus dem Staub gemacht hatte, um abzuwarten, ob in Zwickau alles gut geht.“

Weil Wohlleben-Verteidigerin Schneiders angab, dass ihr Mandant Kopfschmerzen habe, konnte Reinecke sein Plädoyer nicht beenden. Es folgte nur noch das kurze Plädoyer des Nebenklagevertreters RA Mustafa Kaplan, der einen Betroffenen des Anschlags in der Keupstraße vertritt. Bzgl. Einzelheiten der Beweisaufnahme und der rechtlichen Bewertung wolle er nicht mit Wiederholungen langweilen, so Kaplan. Vielmehr mache er sich die zutreffenden Ausführungen der BAW und seiner Kolleg_innen zu eigen. Kaplan wich vom Tenor der meisten bisherigen Nebenklageplädoyers ab, sein Plädoyer geriet dann vor allem zu einer knappen Kritik an den meisten seiner Kolleg_innen aus der Nebenklage. Nach seiner persönlichen Auffassung gehe es in einem Strafverfahren hauptsächlich darum, ob die individuelle Schuld der Angeklagten mit strafprozessualen Mitteln nachgewiesen werden kann. Die Opferfamilien müssten das als juristische Laien nicht so sehen, hätten das Recht emotional zu reagieren, dürften vieles in Zusammenhang mit dem Verfahren schwarz-weiß sehen und hätten das Recht Aufklärung im weitesten Sinne einzufordern. Bei Rechtsanwält_innen müsse aber ein anderer Maßstab gelten. Er wolle aber auch nicht falsch verstanden werden: Das Verhalten etwa der Verfassungsschutzbehörden müsse aufgeklärt werden, die Opferfamilien hätten einen Anspruch darauf. Aber das könne nur in Untersuchungsausschüssen und entsprechenden Gremien erfolgen. Der Senat habe seine Aufgabe erledigt, die Angeklagten seien zu verurteilen. Die politische Aufgabe sei eine gesellschaftliche Aufklärung und diese stehe noch aus. Es gebe zwar viele Anhaltspunkte, dass es einen institutionellen Rassismus gibt, der die Aufdeckung des NSU verhindert hat, aber diese Frage könne nicht juristisch, sondern nur politisch geklärt werden. Das Verhältnis unter den Nebenklagevertretern sei überwiegend professionell gewesen, bei der Vielzahl an Nebenklagevertretern könne es unterschiedliche Auffassungen geben.

Götzl klärte dann noch, wie es mit den Plädoyers der Nebenklage weitergeht und in welcher Reihenfolge die Verteidiger_innen plädieren wollen, und beendete um 14:18 Uhr den Verhandlungstag. Fortgesetzt wird am Dienstag, den 19.12., um 09:30 Uhr, voraussichtlich mit dem Ende des Plädoyers von RA Reinecke.

Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.

Zusammenfassung des 397. Verhandlungstag – 13. Dezember 2017

Elfter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Eine Erkältungswelle in der Verteidigung Eminger scheint aktuell die die Phase der Nebenklageplädoyers zu überschatten: Terminierte eine Erkältung des Eminger-Verteidigers Kaiser den gestrigen Verhandlungstag, so war es heute sein Kollege Hedrich, dessen spätes, offenbar bereits angekränkeltes Eintreffen wohl mit dem Express-ICE aus Berlin dafür sorgte, dass erst um 10:30 Uhr begonnen werden konnte, und seine Erkältung dafür, dass schon um 14:38 Uhr wieder Schluss war.
Trotzdem konnte Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann sein zerrissenes Plädoyer, das am Dienstag vergangener Woche begonnen hatte, endlich zu Ende halten. Einer seiner Mandanten, Arif S., hatte schon vor zwei Wochen das Wort im Gerichtssaal ergriffen. Hoffmann nahm nach einer kurzen Zusammenfassung des ersten Teils seines Plädoyers den Faden der ideologischen Grundlagen des rechten Terrors des NSU und der internationalen Verbindungslinien zu anderen Rechtsterrorist_innen wieder auf. Er sprach über die völkisch-rassistische Ideologie, den „heiligen Rassekrieg“, und über die Strategien des bewaffneten Kampfes, der Zellenbildung und des „führerlosen Widerstands“, die „Thüringer Heimatschutz“, der daraus hervorgehende NSU, die deutschen und internationalen „Blood&Honour“-Divisionen und -sektionen und ihre Unterstützer_innen teilten. Hoffmann zitierte unter anderem einen wohl von Uwe Mundlos verfassten Artikel aus dem Heft „White Supremacy“ und analysierte dessen Ideologie: Die Angst, die „weiße Rasse“ stünde kurz vor dem Aussterben, gepaart mit aggressivem Antisemitismus. Auch im Magazin „The Aryan Law and Order“ der „Weißen Bruderschaft Erzgebirge“ des Angeklagten Eminger, sei, so Hoffmann, das „Bekenntnis zum heiligen Rassekrieg (…) geradezu religiös beschworen“ worden. Politisch und ideologisch habe „völlige Übereinstimmung der Mitglieder der THS-Sektion Jena und der „Blood & Honour“-Mitglieder bestanden. Hoffmann: „Kein Wunder, dass ohne das geringste Zögern eine Unterstützung erfolgte. Die bis heute anhält, wie wir am Prozessverhalten gesehen haben.“ Der Nebenklageanwalt ging dann dezidiert auf die Ideologie des Angeklagten Ralf Wohlleben ein, der den Prozess für seine Propaganda genutzt habe. Dessen „Ethnopluralismus“ sei kaum kaschiert „nichts anderes, als die von THS und Blood & Honour verkündete Ideologie, nach der der Tod der weißen Rasse nur durch Notwehr verhindert werden kann“. Wohllebens Ausrede – die angebliche „Achtung jeder Kultur und jedes Menschen“ – sei angesichts seines tatsächlich „ethnischen Volksbegriffs“ tatsächlich „eine Drohung: lebensbedrohend und von Vernichtungswille getragen“, erklärte Hoffmann. Bei Wohllebens neonazistischem „Fest der Völker“ habe 2008 ein Transparent mit mehreren Waffen-SS-Männern auf der Bühne gehangen, berichtete Hoffmann. Die SS stehe aber geschichtlich „für die sadistischsten und gnadenlosesten Vollstrecker der nationalsozialistischen Ideologie“ und des industriellen Massenmordes an den Jüdinnen und Juden Europas. Wohlleben habe, resümierte er, „ideologisch alles getan, dass seine Kameraden mit reinem Gewissen die unter dem Namen NSU begangenen Verbrechen begehen konnten“. Umgekehrt hätten diese sich bei der Begehung dieser rassistischen Mordtaten und Anschläge Wohllebens ideologischen Einverständnisses gewiss sein können. Die verharmlosende Selbstdarstellung Wohllebens, er sei immer gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit gewesen und seine Apostrophierung durch den Zeugen André Kapke geradezu als „Friedenstaube“ und der ganzen Naziszene als „Opfer der Antifa“, stehe seinen tatsächlichen Handlungen und Unterlassungen unvereinbar gegenüber. So habe er die drei „Untergetauchten“ noch mehrfach in Chemnitz und auch nach Beginn der Mordserie sogar in Zwickau besucht und sei ihnen treuer Informations-, Kontakt- und Waffenbeschaffer gewesen. Wenn er aber tatsächlich der Friedensfreund sei, als welcher er sich darstelle, und demgemäß auf seinem Computer nichts Gegenteiliges zu finden sei, bliebe die Frage entlarvend offen, so Hoffmann, warum er das Passwort zu einer seiner beschlagnahmten Festplatten bis heute nicht herausgegeben habe.

Als nächstes war Nebenklageanwältin Sabine Singer mit ihrem Plädoyer dran. Ihr Mandant ist der Bruder des Betreibers des Friseursalons in der Kölner Keupstraße, vor dem die Nagelbombe des NSU am 9. Juni 2004 detoniert war. Er wurde schwer verletzt. Die betroffene Familie habe sich, so Singer, immer wieder gefragt: „Warum wir? Warum überhaupt Köln?“ Die Frage sei ihnen, so die Anwältin, „leider nicht beantwortet“ worden. Ihr Mandant habe nur wenige Stunden nach der Tat den Täter, den er beim Abstellen des Fahrrades mit der Bombe zufällig beobachtet hatte, beschrieben: Der Täter habe ein Baseballcap getragen und blonde Koteletten und Haare gehabt, sei etwa 30 Jahre alt und 1,80 Meter groß gewesen. Die Polizei jedoch, die offenbar schon zu diesem Zeitpunkt eine klare Ermittlungsrichtung gehabt habe, habe nur zurückgefragt, ob der Mann nicht „dunkle Koteletten“ gehabt habe. Statt der sehr dezidierten Beschreibung des Täters nachzugehen, sei die gesamte Familie von der Polizei verdächtigt worden, in den Anschlag verwickelt gewesen zu sein. Ihr Mandant habe sogar, so Singer, einen Monat unter Beobachtung eines verdeckten Ermittlers der Polizei gestanden: „Sie konnten es nicht glauben, dass gerade sie als Opfer zu Unrecht verdächtigt werden.“ Die Polizei habe, wie in vielen anderen in den Plädoyers beschriebenen Fällen, in Vernehmungen durch geschickt lancierte Verdächtigungen ein gegenseitiges Misstrauen verursacht und das Verhältnis der Familienmitglieder untereinander schwer belastet. Nicht zuletzt auch durch diese Verdächtigungen habe ihr Mandant jahrelang unter Schlafstörungen und Alpträumen gelitten, schilderte Rechtsanwältin Singer. Eine Therapie habe zwar Besserung gebracht, jedoch sei es nach dem Auffliegen der Täter zu einer regelrechten Re-Traumatisierung ihres Mandanten gekommen. Hatten sie eigentlich schon damit abgeschlossen, sei ihnen nun schlagartig gewusst geworden, dass die Täter tatsächlich genau sie töten wollten: Ihr Mandant habe immer das ungute Gefühl gehabt, dass sie zurückkommen könnten, so Singer. Die Familie sei enttäuscht vom Prozess und insbesondere von der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, die keinerlei Reue gezeigt und sich auch in ihrer Aussage an unterdessen widerlegte Schutzbehauptungen gehalten habe. Die Familie wisse bis heute nicht, warum das geschehen sei und wer in Köln den Tätern geholfen habe. Fest stehe nur, schloss Singer, dass die betroffenen Brüder Opfer seien und nicht Täter.

Danach plädierte Nebenklageanwalt Walter Martinek. Er vertritt den Polizeibeamten Martin A., der den Mordanschlag NSU am 25. April 2007 in Heilbronn, dem seine Kollegin Michèle Kiesewetter zum Opfer fiel, überlebt hat. Martinek: „Es ist ein Wunder, dass mein Mandant nicht nur nicht gestorben ist, sondern dass die Medizin es möglich gemacht hat, dass er heute ein weitgehend normales und lebenswertes Leben führen kann – natürlich nicht ohne Folgen, ohne körperliche und seelische Einschränkungen.“ Schlimmste dieser auch psychischen Folgen sei es, dass er das jedem Menschen innewohnende Urvertrauen endgültig verloren habe. Dennoch führe sein Mandant „ein normales Leben, was er weitestgehend zufrieden, um nicht zu sagen: glücklich, verbringt.“
Martinek schließt sich weitgehend der Tatrekonstruktion der Bundesanwaltschaft an, jedoch mit Einschränkungen: „Nicht verhehlen möchte ich, dass die Nichtberücksichtigung von Zeugenaussagen, die eine Beteiligung von mehreren Personen nahelegen, bei mir einen schalen Nachgeschmack hinterlässt“. An der Täterschaft von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos jedoch gebe es auch nach Einschätzung der Nebenklage trotzdem keinerlei Zweifel, so Martinek, unabhängig davon, ob es weitere Beteiligte gab oder nicht: Das Wohnmobil sei zur Tatzeit im Raum Heilbronn gewesen, die Dienstwaffen beider Beamter seien im ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach, die anderen Tatwaffen im Brandschutt der Frühlingsstraße 26, dem letzten Unterschlupf des NSU in Zwickau, aufgetaucht, ebenso wie eine Jogginghose von Uwe Mundlos mit Blutspritzern von Kiesewetter. Außerdem spreche das Bekennervideo dafür, genauso wie die Aussage Zschäpes, die „beiden Uwes“ hätten einfach „neue, gut brauchbare Schusswaffen“ haben wollen.
Zum Anliegen seines Mandanten, Aufklärung zu erhalten, warum auf ihn und seine Kollegin geschossen wurde, sagt er: „Die von der Bundesanwaltschaft gemachten Ausführungen zum Motiv überzeugen die Nebenklage nicht.“ So seien nach Meinung Martineks die „Quertreffer zu anderen Strafverfahren“ in der Funkzellenauswertung der Tatortumgebung und andere offenen Ermittlungsfragen nicht ausreichend untersucht worden. Dabei ging er weiter auf die auch im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages nicht aufgeklärten Quertreffer zur „Sauerland“-Gruppe zur Tatzeit ein und auch auf die Anwesenheit von Mitarbeitern eines US-Geheimdienstes. Auch die zumindest merkwürdigen Todesumstände des potentiellen Zeugen zum Heilbronner Komplex, Florian Heilig, die unmittelbar danach als Selbstmord deklariert und ad acta gelegt worden waren, glaubte Martinek in seiner Kritik an den Ermittlungen einmal mehr nennen zu müssen. Dass ein Staatsanwalt mangels „Anfangsverdachts“ eines Fremdverschuldens diese Ermittlungen regelrecht untersagt habe, habe bei seinem Mandanten Fassungslosigkeit und Zweifel geweckt. Bitter ironisch bemerkte Martinek abschließend zu den möglichen Motiven der Staatsanwaltschaft, den Fall rasch als Suizid ad acta zu legen: „Wenn keine Ermittlungen aufgenommen werden, müssen hinterher auch keine Akten vernichtet werden.“.
Es spiele für eine Verurteilung von Beate Zschäpe im übrigen keine Rolle, so Martinek, ob der Tatplan einige Wochen oder einige Minuten vorher gefasst worden sei, die Angeklagte Zschäpe müsse sich den Entschluss zur Ermordung der beiden Beamten trotzdem in vollem Umfang zurechnen lassen.

Als nächstes plädierte Nebenklageanwalt Stephan Gärtner, der stellvertretend für eine Kollegin derzeit die Mutter der vom NSU am 25.4.2007 in Heilbronn ermordeten Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter vertritt. Die bohrenden Fragen der Mutter seien gewesen, „wer hat mein Kind getötet und warum?“ Als 2011 im Wohnmobil und im Brandschutt die Dienstwaffe und andere Ausrüstungsteile Kiesewetters gefunden worden seien, sei der Terror plötzlich ganz nah an die Mutter herangekommen, so Gärtner.
Die Einlassung Zschäpes im Prozess und ihre Selbststilisierung zum Opfer der „Uwes“, führte Gärtner aus, sei „aus der Sicht der Hinterbliebenen eine Zumutung“ gewesen. Zschäpe sei eine eiskalt berechnende, selbstbezogene und selbstgefällige Person, die gedacht habe, zu kurz gekommen zu sein und sich deshalb alles, was sie wolle, einfach nehmen zu dürfen. „Die Urlaubsbilder sprechen eine deutliche Sprache – ungezwungen Hand in Hand mit einem rassistischen, cholerischen Killer wie Uwe Böhnhardt geht man nur dann, wenn man das will“. Insoweit würde er, so Gärtner ironisch, durchaus der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung zustimmen, aber gewiss nicht der einer dependenten solchen.
Gärtner trat der These entgegen, dass es sich beim Neonazismus in Deutschland um ein ostdeutsches Problem handele: Zwar seien die NSU-Akteur_innen alle aus Ostdeutschland. Aber die These einer besonderen Empfänglichkeit der Bewohner_innen des Beitrittsgebiets für rassistische und nationalistische Versuchungen halte er für eine steile These. Er sehe hier, so Gärtner, ein gesamtdeutsches Problem. Er verwies im NSU-Kontext unter anderem auf die Verbindungen zwischen Zwickau und Ludwigsburg in Baden-Württemberg, auf die Ausführungen des Nebenklageanwalts Ilius zur besonders aggressiv-militanten Dortmunder Naziszene, auf die thüringisch-bayerischen Einflüsse von V-Mann Dalek auf V-Mann Brandt.
Kritik an den Ermittlungsbehörden und eine Generalabrechnung mit den Behörden, trage er nicht mit, so Gärtner, sonst entstehe ernsthaft die Gefahr, dass der Prozess in der Öffentlichkeit abgewertet werde. Er teile zwar die Kritik am Verfassungsschutz und dass trotz der vielen V-Leute keine Erkenntnisse zutage gefördert wurden – „Da wäre etwas mehr Klasse statt Masse besser gewesen“ – , doch hätten sich die Bundesanwaltschaft, das Gericht und die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse doch intensiv mit V-Mann-Problematik auseinandergesetzt.
Vielleicht sei er naiv und gutgläubig, erklärte Gärtner, aber er halte den Prozess für eine große Leistung des Rechtsstaats und der Senat habe das riesige Verfahren stets souverän im Blick behalten. Zu Zschäpe gewandt, schloss Gärtner, auch Michèle Kiesewetter sei ein Kind der DDR gewesen, habe aber, anders als Zschäpe, ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und ihr Glück gemacht: Sie sei die wahre „Botschafterin Thüringens“ und nicht Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt.

Zum Schluss trug noch Nebenklageanwalt Reinhard Schön den ersten Teil des gemeinsamen Plädoyers von Schön und seinem Kollegen Eberhard Reinecke vor. Sie vertreten im Prozess insgesamt sieben Betroffene des Nagelbombenanschlags des NSU in der Kölner Keupstraße. Er sprach zunächst über die Auswirkungen des Nagelbombenanschlags und der „Unfähigkeit der polizeilichen Ermittlungsarbeit und der Politik“ auf seine Mandant_innen, von denen einer unterdessen den Freitod gewählt habe. „Die Versäumnisse der Polizei wurden von der Staatsanwaltschaft Köln 2008 durch eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens sanktioniert“, es sei in den Bereich der Spekulation abgeschoben worden, dass es sich um einen fremdenfeindlichen Anschlag gehandelt habe. Schön ging noch auf Zschäpes Einlassung ein. Gegen ihre Behauptung, Mundlos und Böhnhardt seien immer wieder verschwunden, ohne ihr Auskunft zu geben, führt Schön Fotos einer Ausspähfahrt nach Stuttgart und Hof an. Diese seien mit einer Kamera aufgenommen worden, deren Bilder auch Zschäpe habe einsehen können.
Der Prozesstag endete um 14:38 Uhr.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

Zusammenfassung des 396. Verhandlungstag – 12. Dezember 2017

Zehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Obwohl eine heftige Erkältung des Eminger Verteidigers Kaiser den Tag kurz hielt, hatte er es in sich, wofür vor allem Nebenklageanwältin Angela Wierig sorgte. Doch der Reihe nach, denn zunächst plädierten Nebenklageanwalt Andreas Thiel, der im NSU-Prozess die Eltern, den Bruder und die jüngste Schwester des am 27.06.2001 in der Hamburger Schützenstraße ermordeten Süleyman Taşköprü, und Nebenklageanwältin Gül Pinar für eine weitere Schwester des Ermordeten.

Rechtsanwalt Thiel erklärte, dass sein Schlussvortrag am Ende dieses langen Prozesses dazu dienen solle, „dem vom NSU ermordeten Süleyman Taşköprü und seinen Hinterbliebenen Raum zur Beachtung, Erinnerung und Gedanken zu Verantwortung und Verantwortlichkeiten zu verschaffen, auf deren Grundlage der Senat sein Urteil finden möge“. Seit der Ermordung dränge sich der Familie die Frage auf: „Was wollten diese Leute von uns?“ Die Videosequenzen aus dem Bekennervideo des NSU gäben eine brutale Antwort auf diese Frage: „Taten statt Worte.“ Dabei erinnerte Thiel daran, dass dieses Video ein Foto enthalte, das die beiden Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vor Ort aufgenommen hätten und das den erschossenen – damals 31-jährigen – Süleyman Taşköprü direkt nach seiner Hinrichtung zeige und auch „wie feige und brutal und menschenverachtend er sein Leben verlor“. Das Bild des Ermordeten, das die Täter aufgenommen haben, sei „wie ein Trophäenbild des Großwildjägers, der sich am Tod seiner Beute erfreut“, sagte Thiel, und dass die Angeklagte Zschäpe es als „Vermächtnis des NSU und als Vermächtnis ihrer beiden Männer und als Vermächtnis für sämtliche Gruppenmitglieder“ medial – deutschlandweit und inzwischen weltweit – in Umlauf gebracht habe. Thiel: „Welch unfassbare Zumutung und welch unfassbarer Schmerz für unsere Mandanten“. Während Menschen, die von den Morden erführen, entsetzt und beschämt seien, huldige der Angeklagte Eminger den Tätern in seiner Wohnung mit einem Altar.
Thiel ging dann auf bedauerlicherweise unterbliebene Ermittlungen zu „deutschen Männern“ ein, auf die der Vater des Opfers unmittelbar nach der Tat hingewiesen hatte, und wies darauf hin, dass zum Zeitpunkt der Ermordung Süleyman Taşköprüs bereits „das strategische Konzept“ des NSU sichtbar war, nämlich durch ursprünglich vorgesehene 14 Morde „die gezielte Verängstigung und Vertreibung der in Deutschland lebenden Ausländer“.
Im Folgenden ging Thiel auf die Tatbeiträge und die ideologische Ausrichtung der Angeklagten Zschäpe ein, der er eine bedeutende und gleichberechtigte Rolle im Kerntrio des NSU zuweist, und erörterte Aspekte der Strafzumessung, wobei er und seine Mandantschaft einzig beim Angeklagten Schultze echte Reue und Abkehr erkennen.
Am Ende seines Plädoyers erinnerte Thiel einmal mehr an das unfassbare Leid der Familie und daran, wie der Vater des Opfers den Sterbenden im Laden der Familie auffand und in seinem Schoß sterben sah. In bewegender Weise sprach er von Süleyman Taşköprü und den Folgen seiner Ermordung für die Familie und insbesondere für Süleyman Taşköprüs damals zweieinhalbjährige Tochter. Der Familie sei damals „das Herz abgerissen worden“, gab Thiel wieder. „Die Angst, dass sich solche Morde wiederholen, ist das Schlimmste“, zitierte er eine seiner Mandant_innen und schilderte aus ihrer Perspektive die Folgen des Mordes für die Familie: „Die ganzen Anschuldigungen und dass die Familie verdächtigt wurde, war sehr schwierig“.

Als nächste ergriff die Hamburger Nebenklageanwältin Gül Pinar das Wort, die eine der Schwestern des Ermordeten vertritt. Für ihre Mandantschaft, so sagte Pinar, sei die Eröffnung des Prozesses 2013 von „höchster Bedeutung“ gewesen, für sie sei „es von Anfang an wichtig“ gewesen, „dass die hier Angeklagten verurteilt werden und zwar gemessen an ihrem eigenen Schmerz zu den höchst möglichen Strafen“. Sie nannte zunächst die Fragen, die ihrer Mandantin „auf der Seele brennen“: „Warum Süleyman Taşköprü? Gab es doch Helfer in der Nähe?“ Tragisch sei, so Pinar, dass diese „aufgrund des Zeitablaufs und der Weigerung der Hamburger Politik nicht mehr aufgeklärt werden.“
Pinar erinnert an die umfängliche Beweisaufnahme zu den Tätern und ihrem Umfeld und zur Entwicklung der terroristischen Vereinigung NSU und an die schwer zu ertragenden Aussagen der zahlreichen Neonazi-Zeugen im Prozess: „Sie, Herr Vorsitzender, mussten mich öfters zur Ruhe ermahnen, es fiel mir schwer, nicht über den Tisch zu springen.“ Sie schloss sich der Schlussfolgerung des Nebenklageanwalts Stolle an, dass der Zeitpunkt der Entstehung der terroristischen Vereinigung deutlich früher als von der Bundesanwaltschaft behauptet anzusetzen sei. Dabei weist auch Pinar die viel kritisierte These der Bundesanwaltschaft, der NSU habe nur aus der Angeklagten und den „toten Uwes“ bestanden, entschieden zurück und auf Verbindungen insbesondere nach Hamburg und zu Hamburger Neonazis hin. Ihre Ergebnisse stützte Pinar auf einige „frappierende“ Beispiele mit Hamburg-Bezug: Sie geht auf das Neonazi-Fanzine „Der Weiße Wolf“ ein, in dem 2002 nicht nur der „Gruß an den NSU“ abgedruckt gewesen sei, sondern auch ein Artikel aus dem „Hamburger Abendblatt“ über das Stadtviertel Altona. Pinar ging auch auf das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz ein, das einen V-Mann geführt habe, der wiederum den V-Mann „Corelli“, also den im Zeugenschutz verstorbenen Thomas Richter, kontaktiert und diesem die „’NSDAP/NSU’-CD“ übergeben habe: „Wieso hatte Corelli Kontakt nach Hamburg?“ Weiter ging Pinar auf Verbindungen der NSU-Unterstützer_innen aus dem „Blood&Honour“-Netzwerk und aus der neonazistischen Gefangenenbetreuungsorganisation HNG und darauf ein, dass das neonazistische „Deutsche Rechtsbüro“ (um u.a. die Hamburger Rechtsanwält_innen Gisa Pahl und Jürgen Rieger) ebenfalls den so genannten NSU-Brief erhalten haben könnte und auf einer entsprechenden Liste im Brandschutt der Frühlingsstraße in Zwickau vermerkt sei.
Pinar erklärte zum Schluss ihres Plädoyers zwar: „Wer die Aufklärungsarbeit nur in den Gerichtssaal schieben will, macht es sich zu einfach.“ Ergänzte aber dann mit Blick auf das nahende Ende: „Wer meint, dass mit einem Prozess gegen die fünf Angeklagten das Kapitel NSU ausreichend beleuchtet wurde, denkt nicht weit genug.“ Niemand, so sagte sie, dürfe sich durch die Verurteilung der fünf Angeklagten rein waschen.

Es folgte ein reichlich seltsames Plädoyer von Nebenklageanwältin Angela Wierig, die eine weitere Schwester des Mordopfers Süleyman Taşköprüs vertritt und zu Beginn „auf divergierende Einschätzungen in der Nebenklage“ der Familie hinwies. Man kann sagen, dass die Haltung Wierigs der der sonstigen Nebenklage Taşköprü diametral entgegensteht.

Rechtsanwältin Wierig behauptete zunächst, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt „psychopathische Killer“ gewesen seien (eine Behauptung, die zuvor die Verteidigung Wohlleben im Verfahren aufgestellt hatte) und Beate Zschäpe ihnen „Zuflucht geboten“ habe. Danach geriet ihr Plädoyer zu einer Verteidigungsrede für den Angeklagten Ralf Wohlleben, wobei sie zu diesem Zweck die belastenden Aussagen des Angeklagten Carsten Schultze in Zweifel zog, Wohllebens eigene – fast schon geständige – Einlassung aber außer Acht ließ. Wierigs Plädoyer driftete dann völlig ab. Bis hin zu dem an Rosa Luxemburg angelehnten Satz, man müsse bereit sein, die „Äußerungen des Andersdenkenden“, also in diesem Zusammenhang des Angeklagten Wohlleben, „zu gestatten und ernstzunehmen“. Wierig nimmt Wohlleben augenscheinlich seine Schutzbehauptungen ab, er habe Gewalt stets abgelehnt und sich auf den „Marsch durch die Institutionen“ machen wollen. Weiter sprach Wierig in ihrem Schlussvortrag gegen die bei „Demos, Mahnwachen und in Beweisanträgen behauptete wachsende Gefahr durch rechtsradikale Gewalt für Migranten“. Dazu stellt sie relativierend der Zahl von 200 von Neonazis seit der „Wende“ Ermordeten die hohe vierstellige Zahl sonstiger Mordopfer und insbesondere von Opfern von sog. „Ehrenmorden“ in Deutschland gegenüber. Wierig brachte in einem wilden Ritt unter anderem die Schleyer-Entführung und den „Fall Barschel“ gegen den von der Nebenklage gegenüber deutschen Ermittlungsbehörden erhobenen Vorwurf des institutionellen Rassismus in Stellung.
Aber nicht genug damit: Man dürfe nicht, wie angeblich vielfach geschehen, über alle Ermittlungsbeamten urteilen, sagte Wierig, viele hätten sich im Gespräch mit ihr „unendlich schwer von diesem Vorwurf getroffen“ gezeigt. Es sei doch folgerichtig gewesen, im Umfeld der Opfer zu ermitteln: „Das ist nicht Rassismus, das ist Kriminologie.“ Man stelle sich vor, hob Wierig an, wenn in der damals aufgeheizten Stimmung Ermittler auf einer Pressekonferenz kundgetan hätten, dass Migranten, die ein Kleingewerbe betreiben, im Fokus rassistischer Täter stünden. „Ich denke nicht, dass ein solches Vorgehen zu ernstzunehmenden Hinweisen geführt hätte. Ich bin mir aber sicher, dass Teile Hamburgs gebrannt hätte und halte die Möglichkeit von Ausschreitungen, Straßenschlachten und Tote für wahrscheinlich“, schloss sie ihre Visionen mit einer Opfer-Täter-Verkehrung.
Auch nannte sie den Weg der Ermittlungen über V-Leute zwingend, um das „angebliche Netzwerk“ auszuleuchten. Das Unterstützernetzwerk könne nicht so groß gewesen sein, wie hier vielfach behauptet, so viele Leute können nicht dicht halten, meinte Wierig. Namens ihrer Mandantin distanzierte sie sich ausdrücklich von jeder Art von Vereinnahmung durch „politisch motivierte Menschen“, die sich um eine politische Aufarbeitung des NSU-Komplexes bemühen: „Meine Mandantin will nicht missbraucht werden von Leuten, die sich anmaßen im Namen der Opfer zu sprechen.“
Ihre Ausführungen wurden auf der Empore der Öffentlichkeit mit Unverständnis und Irritation aufgenommen, nur Einzelne, auch Pressevertreter_innen, klatschten symbolisch lautlos dazu.

Nach der Mittagspause kam noch der Nebenklageanwalt Tobias Westkamp zu Wort, er vertritt eines der beiden Opfer des Keupstraßen-Anschlages, die am nächsten an der Explosion dran waren und infolgedessen auch am schwersten verletzt worden waren. Und gegen die, wie Westkamp ausführte, im Nachgang auch ermittelt wurde unter der Annahme, ihre Nähe zum Explosionszentrums sei ein Hinweis auf ihre Urheberschaft des Anschlages. Anwalt Westkamp erklärte, man könne „sich kaum vorstellen, was das aus Geschädigten macht, (…) nicht primär als Opfer, sondern als Verantwortlicher am eigenen Leid wahrgenommen zu werden“. Westkamp richtete sich abschließend an seinen Mandanten: „Sie wissen, dass das Ziel des NSU, die Beseitigung einer freien Gesellschaft, in Köln, nicht nur, aber auch in der Keupstraße, fundamental gescheitert ist. Ich hoffe, Sie schaffen es, diesen Misserfolg als Trost aufzufassen.“

Der Prozesstag endet wegen der Erkältung des Eminger-Verteidigers Kaiser und Abwesenheit von dessen zweiten Verteigers Hedrich bereits um 13:05 Uhr.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

Tageszusammenfassung des 395. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 06.12.2017

Neunter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Am 395. Prozesstag sollte, wie am Vortag angekündigt, die Nebenklage der Familie des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat ihre Plädoyers halten. Die Rechtsanwältin Doris Dierbach begann. Sie fasste zunächst zusammen, dass eine den Sachverhalt erschöpfende Aufklärung im Verfahren nicht erfolgt sei, es habe nicht alles an Erkenntnis gebracht. Dabei habe das Verfahren eine gesellschaftspolitische Bedeutung. Zur Aufklärung der Straftaten gehöre nicht nur das, was unmittelbar zur Verurteilung dazugehöre. Der Nebenklage sei vorgeworfen wurden, dass sie aus dem Prozess einen Untersuchungsausschuss habe machen wollen. Diese „Nebelkerze“ sei leider auch von Medien aufgegriffen worden.
Dierbach kam dann auf den Mord an Halit Yozgat zu sprechen: „Wir wissen bis heute nicht, warum Halit Yozgat ermordet wurde. Zwar sei klar, dass es ein rassistischer Mord war, aber die Frage, wie Böhnhardt und Mundlos auf Halit Yozgat gekommen seien, sei unbeantwortet: „Wie kamen Mundlos und Böhnhardt gerade auf das Internetcafé in der Holländischen Straße in Kassel? Wieso wussten sie, dass Halit Yozgat sich entgegen der ursprünglichen Planung der Familie zum Zeitpunkt seiner Ermordung noch im Internetcafé aufhielt, obwohl er längst weg sei wollte nach Ablösung durch seinen Vater? Wie sollen drei Mörder aus Thüringen ausgerechnet auf die Idee kommen, dass Halit Yozgat in Kassel ein geeignetes Opfer für ihre rassistischen, menschenverachtenden Morde sein könnte? Woher sollen sie Kassel kennen? Wir wissen, dass die Mörder offenbar gerade jüngere Männer ausgesucht haben für die Verfolgung ihrer faschistoiden Ideologie. Vielleicht kam der Hinweis, dass sich dieser junge Mann entgegen seiner eigentlichen Planung am 06.04.2006 um 17 Uhr immer noch im Internetcafé befand, gerade aus eben jenem Internetcafé.“ Dierbach fragte: „Das alles soll ohne lokale Unterstützer geschehen sein?“ Die BAW sagt, es sei Zufall, dies halte sie, Dierbach, für eine faule Ausrede. Zu den Ermittlungen sagt sie, dass die rechte Mordserie nicht als solche erkannt worden sei, weil man nicht danach gesucht habe, weil man krampfhaft an einem Bild der nazifreien Bundesrepublik habe festhalten wollen.
Dierbach kritisierte dann die Verfassungsschutzbehörden, insbesondere das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen und dessen am Tatort des Mordes an Halit Yozgat anwesenden Mitarbeiter Andreas Temme. Sie kritisierte u.a. in diesem Zusammenhang die BAW: „Die Bundesanwaltschaft deckte die Verdeckungsbemühungen der Verfassungsschutzämter nach Kräften und erschwerte auf diese Weise selbst die Aufklärung. Sie hat also zu den Aufklärungsmängeln selbst beitragen. Stattdessen sah sich die Bundesanwaltschaft nicht dazu in der Lage, auch nur ein kritisches Wort über die Aktenvernichtungen zu verlieren.“ Auch den Umgang der BAW mit den Zeugen aus der Neonaziszene kritisierte Dierbach. Zeugen aus dem rechtsradikalen Milieu hätten in der Verhandlung „nach Strich und Faden“ gelogen und „ins Demenzielle gehende“ Erinnerungslücken vorgetäuscht, ohne dass die Bundesanwaltschaft eingeschritten wäre. Das spreche für ein eingeschränktes Aufklärungsinteresse.
Dierbach ging dann zu Gesichtspunkten über, die besondere Bedeutung für die Nebenklage Yozgat besitzen. Sie sagte, Halit Yozgat, „geliebter einziger Sohn und geliebter, geradezu vergötterter Bruder von vier Schwestern“, sei zur Schule gegangen, um einen höheren Schulabschluss zu erreichen. Er habe nicht mehr zu seiner Ermordung beigetragen, als eine andere Hautfarbe zu haben und neben seiner deutschen Identität auch eine andere Identität im Herzen zu tragen: „Familie Yozgat hat nicht damit gerechnet, gerade in dem liberalen, sicheren Land, in dem ihre Kinder großzuziehen sie sich vorgenommen hatten, Opfer von Illiberalität, Rassismus und schlichter Menschenverachtung zu werden.“ Familie Yozgat habe erleben müssen, dass der Verfassungsschutz aus Gründen der vermeintlichen Staatsräson drauf verzichtet habe, gegen rechtsradikale Umtriebe vorzugehen: „Der Prozess hat erneut deutlich gemacht, dass der Einsatz von V-Leuten ein Pakt mit dem Teufel ist.“ Dierbach führte zum VS aus, entweder habe er es mitbekommen und für sich behalten oder das V-Mann-Wesen sei völlig nutzlos und führe nur dazu, dass der VS Neonazis noch mit den für die Begehung von Straftaten nötigen Mitteln ausstatte.
Dierbach widmete sich dann Andreas Temme: „Andreas Temme hat uns hier nach meiner festen Überzeugung belogen. Er hat nicht nur uns, sondern von Beginn der Ermittlungen an auch die Ermittler belogen. Und er konnte das tun, weil er volle Rückendeckung durch seine Behörde [das LfV Hessen]hatte.“ Dierbach sagte dazu: „Die Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat wurde durch das LfV Hessen massiv behindert“.
Auch der Senat habe sich nicht ausreichend um Aufklärung bemüht, bemängelte Dierbach. So sei, trotz entsprechender Anträge keine Schallrekonstruktion vorgenommen, oder sich mit den Ergebnissen von Forensic Architecture auseinandergesetzt worden. Der Senat habe damit auch den Verfassungsschutz geschützt.

Im Anschluss daran plädierte ihr Kollege Alexander Kienzle: „Als wir 2012 mit der Wahrnehmung der Interessen der Familie Yozgat beauftragt wurden, war die Hoffnung der Familie, dass in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren mit den zugrundeliegenden Förmlichkeiten und seiner Ausrichtung auf die Ermittlung der Wahrheit auch die Frage beantwortet werden würde, die für die Familie seit der Ermordung Halit Yozgats am 06.04.2006 im Internetcafé der Familie in der Holländischen Straße 82 in Kassel im Vordergrund steht: Welche Rolle spielte der beim Mord anwesende Verfassungsschützer Andreas Temme und welche Rolle spielt der Verfassungsschutz? Seit dem 04.11.2011 stellte sich die Frage modifiziert: Welche Rolle spielten Verfassungsschützer und Verfassungsschutz bei der Straftatserie des NSU, welche insbesondere bei der Begehung der 10 dem NSU sicher zuzuordnenden Hinrichtungen, welche bei den Sprengstoffanschlägen, welche bei den Überfällen?“ Kienzle: „Die Erwartung der Familie war, dass in einem rechtsstaatlich um Aufklärung bemühten Verfahren auch die an Recht und Gesetz gebundenen Behörden sich einem Ermittlungsdruck ausgesetzt sehen würden, wie er nach dem 06.04.2006 die Familie traf. Yozgats hatten die Hoffnung, dass auch die Kenntnisse der Verfassungsschutzbehörden, deren Agieren rund um den NSU und ihre Beiträge zu Vorbereitung, Umsetzung und Geheimhaltung der Straftatserie jetzt ermittelt werden würden, wie 2006 selbst in die Trauerfeier für den erschossenen Halit Yozgat hinein bei der Familie Yozgat ermittelt worden war.“
Kienzle sagte, die Hoffnung der Familie Yozgat sei weitgehend enttäuscht worden. Die Fragen der Familie seien nicht beantwortet worden. Dazu stellte Kienzle dar, dass der Senat im Rahmen der „weit verstandenen Amtsaufklärungspflicht“ sehr wohl die Möglichkeit und Pflicht zur Aufklärung gehabt hätte. An diesem Maßstab müsse sich das Verfahren messen lassen. Das Ziel hätte die Erlangung der „forensischen Wahrheit“ sein müssen. Darum habe sich die Nebenklage bemüht. Ermittelt worden sei im Verfahren aber „nicht der wahre Sachverhalt, sondern lediglich dessen um staatliche Verantwortlichkeit bereinigter Teil“. Kienzle fügte hinzu: „Dass der Generalbundesanwalt auf diesem Hintergrund in seinem Schlussvortrag die Überzeugung vorgibt, eine Mitverantwortung staatlicher Behörden habe sich nicht ergeben, spricht den Zielen des Strafprozesses Hohn.“ Kienzle stellte dem anschließend die strafrechtliche Relevanz bekannter Handlungen des Verfassungsschutzes in den Jahren 1998 (Kenntnis beim VS Brandenburg von Bestrebungen zur Waffenbeschaffung des NSU) sowie 2006 (die Unterstützung Temmes durch das LfV Hessen) entgegen. Doch dem eingeschränkten Verständnis von der Amtsaufklärungspflicht folgend habe auch der Senat im Laufe der Beweisaufnahme damit begonnen, die Aufklärung staatlicher Verstrickung zu verhindern.
Kienzle sagte über den Prozess: „Dadurch wird eine historische Möglichkeit verspielt“, und schloss sein Plädoyer ab: „Das Verfahren hinterlässt ihrer Hoffnungen beraubte Nebenkläger.“

Zu Beginn des Schlussvortrags von Rechtsanwalt Kienzle hatten auch Familienmitglieder von Halit Yozgat neben ihren Vertreter_innen Platz genommen. Nun ergriffen sie das Wort. Beide Eltern sprachen auf türkisch, es erfolgte eine Übersetzung. Zunächst sprach Ayşe Yozgat, Mutter des ermordeten Halit Yozgat, sie wandte sich an Beate Zschäpe: „Können Sie einschlafen, wenn sie ihren Kopf auf das Kissen legen? Ich kann selbst seit elf Jahren nicht einschlafen, denn ich vermisse meinen Sohn sehr, so sehr.“ Danach sagt sie in Richtung des Senats, sie seien ihre letzte Hoffnung gewesen, „aber ich sehe, dass bei Ihnen auch kein Ergebnis herauskommt. Sie haben wie Bienen gearbeitet aber keinen Honig produziert, es gibt kein Ergebnis. Auch Sie haben Kinder und ich wünsche Ihnen so etwas nicht, aber: Denken Sie auch daran, dass auch wir Menschen sind. Sie sagen zwar, Sie teilen unser Leid. Teilen ist aber etwas anderes als Erleiden.“ Sie erhoffe sich, dass eines Tages alles herauskommen wird: „Sehr geehrte Ältere und Gerichtsvorsitzende: Ich will nicht, dass Mütter solche Leiden wie ich erleiden, noch andere was erleiden. Bitte nehmen Sie ihre Aufgabe richtig wahr!“

Nach seiner Frau sprach İsmail Yozgat, der Vater des ermordeten Halit Yozgat. Er wandte sich an den Senat: „Ich habe Ihnen mehrmals gesagt, der Agent Temme hat meinen Sohn ermordet oder er hat den Täter arrangiert. Da sind zwei Schuldige: Der eine ist Temme, der andere der Innenminister Bouffier. Die beiden vervollständigen sich gegenseitig. Ich habe Ihnen mehrmals gesagt: Es sollte eine Ortsbesichtigung unter der Bedingung meiner Teilnahme stattfinden im Internetladen, in dem Halit ermordet wurde. Aber ich kenne den Grund nicht: ich habe seit zwei Jahren keine Antwort darauf bekommen.“ Yozgat betonte, er gehe davon aus, dass die Taten den drei Personen zugeschrieben werden: „Welche Rechnung machen Sie, wen alles möchten Sie hier entlasten? Mein einziger, 21-jähriger Sohn starb in meinen Armen. Bereits zum Zeitpunkt seiner Ermordung sagte ich, dass Ausländerfeinde meinen Sohn ermordet haben, aber niemand hat mir geglaubt. Jetzt sagen sie, ich habe damals die Wahrheit gesagt, sie fragten mich, woher wusste ich das.“ Er wies erneut auf die Ortsbesichtigung hin und betonte, er werde ohne sie kein Urteil anerkennen: „Warum machen Sie sich lustig über uns? Warum hören Sie nicht auf uns?“ Im Jahre 2011 habe die Bundeskanzlerin Frau Merkel versprochen, dass alles aufgeklärt werde, sie hätten davon noch nichts gesehen, noch nichts gehört: „Das Einzige, das wir gehört haben, ist die Aktenverschredderung, die Vernichtung der Beweismittel und die Inschutznahme des Agenten Temme durch Bouffier. Als mein Sohn ermordet wurde, schrieb ich einen Brief an Bouffier. Ich schrieb ihm: Sehr geehrter Herr Präsident, darf ich mit Ihnen über die Ermordung meines Sohnes ein Gespräch führen? Er schrieb mir in seiner Antwort, dass er mit mir kein Gespräch führen will. Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, dem deutschen Volk: Darf ein Präsident einem Mann wie mir, der seinen Sohn verloren hat, so eine Antwort schreiben?“ Er appellierte erneut an den Senat, eine Ortsbesichtigung durchzuführen: Denn bei der Ortsbesichtigung werden sie feststellen, das Temme gelogen hat.“

Nach einer Pause folgt das Plädoyer von RA Turan Ünlüçay, der Angehörige von Mehmet Kubaşık vertritt. Er verlas zunächst eine Erklärung einer Schwester von Mehmet Kubaşık, sie beschrieb darin den Moment, in dem sie vom Tod ihres Bruders erfuhr: „Ich konnte es nicht glauben, für mich war eine Welt zusammengebrochen. Den Schmerz, den ich in dem Moment verspürte, kann ich Ihnen nicht beschreiben. Ich denke, dass diesen Schmerz auch nur die anderen Opferangehörigen nachempfinden können. Wir waren ratlos. Es gab überhaupt keine Erklärung! Mein Bruder war ein sehr liebevoller Mensch er hatte niemandem was angetan.“ Sie sprach dann über die Ermittlungen und die falschen Verdächtigungen gegen ihren Bruder: „Dadurch vertieften sich unser Schmerz und unsere Trauer. Wir hatten überhaupt kein Verständnis für diese Unterstellungen. Die Wahrheit kam jedoch am Ende raus. Es war schon schlimm genug, dass mein Bruder getötet wurde, als ob das nicht ausreichte, wurde er auch noch zu Unrecht verunglimpft.“ Nachdem ihr Bruder nach Deutschland ausgewandert sei, sei er erst nach 18 Jahren wieder in die Türkei gekommen, „beim zweiten Mal wurde uns sein Leichnam übergeben. Wir hatten noch so viele schöne Tage mit Mehmet vor uns.“ Zum Abschluss ihrer Erklärung formulierte sie ihre Hoffnungen für das Verfahren: „Ich hoffe dass diese Frau, diese Mörderin die Höchststrafe bekommt. Jedoch wird uns das nicht ausreichen. Ich habe auch weiterhin die Erwartung, dass die Taten vor allem das staatliche Fehlverhalten vollumfänglich aufgeklärt wird. Wir haben die Befürchtung, dass die Ermittlungen mit der Bestrafung der Angeklagten aufhören. Meinen Bruder haben sie in noch so jungen Jahren von uns genommen. Seine Kinder und seine Frau erfuhren großes Leid. Ich hoffe dass das Gericht für Gerechtigkeit sorgt und diese Mörderin bestraft.“

Ünlüçay führte daran anschließend aus, die Verunsicherung der migrantischen Menschen sei durch die Ermordung nicht erreicht worden, eine Verunsicherung sei durch das Handeln der Behörden erreicht worden. Institutioneller Rassismus sei nicht nur ein abstrakter Begriff, sondern stelle für Opferangehörige eine enorme Belastung dar. Dass nahezu alle Opferangehörigen die gleiche Erfahrung machten, spreche dafür, dass Vorurteile bei Sicherheitsbehörden weit verbreitet sind. „Während Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund als nicht begründet abgetan wurden, sah man es nicht als absurd an, obwohl man bereits wusste, dass es sich um eine Mordserie handelt, Familienangehörige hinsichtlich einer Beziehungstat als Motiv weiterhin zu befragen.“ Wenn Angaben der Zeugin Dz. ernst genommen worden wären, dann hätte es Anhaltspunkte gegeben. Die Zeugin im Mordfall Mehmet Kubaşık habe Personen gesehen, die auf sie wie Nazis wirkten. Der Zeugin seien trotzdem Bilder von dunkelhäutigen Menschen vorgelegt, obwohl sie Deutsche beschrieben hatte. Das Wort Nazi sei dann nicht mehr zu finden gewesen. „Dies lässt für die Zukunft, befürchten, dass sich in einem ähnlichen Fall die identischen Ermittlungsmuster wiederholen könnten.“ Er schloss sein Plädoyer ab: „Frau Elif Kubaşık hat im Rahmen des Schlussplädoyers deutlich gemacht, dass sie keinesfalls vorhat das Land zu verlassen. Im Gegenteil sie sieht sich unter anderem als eine Dortmunderin. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Angeklagte und die Unterstützer des NSU begreifen wie ernst dies gemeint ist.“

Es plädierte nun Nebenklageanwalt Kiriakos Sfatkidis, er vertritt einen Bruder Mehmet Kubaşıks im NSU-Prozess. Er begann: „In diesem Prozess wurden insgesamt nahezu 600 Zeugen vernommen. Zahlreiche Sachverständigengutachten wurden eingeholt. Es wurden Zeugen aus der rechten Szene vernommen, die hier ausgestanzte Erinnerungslücken geltend gemacht haben oder plötzlich unter einer Art ‚Generalamnesie‘ gelitten haben.“ Er ging insbesondere auf das „Teileinlassungsverhalten“ von Zschäpe ein. Schon deren Verwendung des Begriffs „moralische Schuld“ stelle eine Verhöhnung der Opfer dar. Sfatkidis sagt, Zschäpe habe auch nach dem 04.11.2011 und im Prozess in die „Lisa-Dienelt-Trickkiste“ gegriffen. („Lisa Dienelt“ war eine Tarnidentität Zschäpes im sogenannten „Untergrund“ des NSU): „Täuschen, Tarnen, Verharmlosen, Ablenken, eine Fassade erschaffen und aufrechterhalten.“ Sfatkidis schloss sein Plädoyer ab: „Außerdem hat Beate Zschäpe auch bekundet, dass sie ein Faktenmensch sei. Hier sind nun die Fakten, welche die Beweisaufnahme ergeben hat: Kein Geständnis von Seiten der Angeklagten Zschäpe. Keine Reue. Keine ernst gemeinte Entschuldigung. Keine Unrechtseinsicht. Keine Abkehr von der Ideologie. Keine Abkehr von den Taten. Aus der Beweisaufnahme hat sich ergeben, dass sie unter anderem als Mittäterin von Morden und versuchten Morden schuldig ist und zwar nicht nur moralisch.“

Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwalt Isaak Sidiropoulos; er vertritt die älteste Schwester von Mehmet Kubaşık. Er spricht zunächst über die Ermordeten: „Die Opfer – es waren Menschen – Menschen wie Sie und ich, die auf heimtückische Weise ermordet oder schwer verletzt wurden. Ich sage bewusst Menschen und nicht Türken, Griechen, Migranten oder Polizisten. Es waren nämlich gleichberechtigte Menschen, mit einer unantastbaren Würde. Sollte man meinen. Die Mitglieder und Unterstützer des NSU, die heute auf der Anklagebank sitzen und auch jene, die nach unserer Überzeugung noch nicht ermittelt werden konnten, sahen dies jedoch keineswegs so. Sie waren und sind offenbar immer noch der Meinung, dass diese Menschen kein Existenzrecht haben, zumindest nicht in Deutschland.“ Hinweise auf Neonazis als Täter beim Mord an Mehmet Kubaşık hätten die Ermittlungsbehörden „bis zur Unkenntlichkeit verblassen lassen“, so Sidiropoulos. „Für meine Mandantin stellt sich seit dem Mord jeden Tag erneut die Frage: Warum gerade er? Er, der keinem was zu Leide getan hat und ein ganz normales Leben führte. Wie konnte dies in einem Land wie Deutschland bloß passieren?“ Er sprach dann über die Behörden: „Das Bedauernswerte und Unfassbare daran ist, dass von Seiten der Ermittlungsbehörden, keinerlei Fehler eingeräumt wurden, geschweige denn eine Entschuldigung für die fatalen Ermittlungen gegenüber den Angehörigen selbst, ausgesprochen wurde. Ein gewisses Maß an Selbstkritik wäre angesichts des tragischen Ausmaßes der Mordserie und der daraus resultierenden, unter Umständen vermeidbaren Folgen für die Opferfamilien, angebracht gewesen. Fehler sind menschlich und Fehler einzugestehen zeugt von Größe. Doch die sucht man bei den Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutzämtern vergeblich.“

Er verlas zum Abschluss seiner Erklärung eine persönliche Erklärung seiner Mandantin. Auch sie beschrieb darin, wie ihr Bruder zum ersten mal nach 18 Jahren zurück in die Türkei kam: „Es war für uns wie ein Fest. Alle Familienangehörigen freuten sich über seine Rückkehr. Dieses schöne Wiedersehen in der Türkei kam uns jedoch viel zu kurz vor. Als wir uns wieder verabschieden mussten, versprach uns Mehmet, fortan regelmäßig in die Türkei zu kommen. Hierzu kam es jedoch nicht. Er kam nicht mehr lebend zurück. Stattdessen kam sein Leichnam. Mir fällt es schwer in Worte zu fassen, was ich gefühlt habe, als ich hörte, dass mein Bruder ermordet wurde. Es ist einfach unbeschreiblich, was ich in diesem Moment erlebt habe. (…) Mein liebster Bruder wurde ermordet. Diesen Schmerz werde ich mit ins Grab nehmen. Alle Familienangehörigen werden dies.“ Sie frage sich immer wieder:“ Aus welchem Grund haben die meinen Bruder und viele anderen Menschen ermordet und verletzt? Warum? Warum nur? Es heißt, aus Rassismus. Aber warum nur dieser Rassismus? Was bringt dieser Hass? (…) Mit dem Tod meines geliebten Bruders ist auch ein Teil von uns mit ihm gegangen. Nichts wird jemals so sein wie es war. Die Trauer sitzt tief. Zu groß ist die Sehnsucht nach ihm. Zu viele Fragen sind offengeblieben.“ Sie beschrieb die Beerdigung Mehmet Kubaşıks in der Türkei: „Als mein Bruder begraben wurde, ist mein Vater aus seiner tiefsten Trauer in das Grab gestiegen und sagte: ‚Begrabt lieber mich! Ich hätte sterben sollen! Warum musste mein Sohn nur sterben?‘ Es war schrecklich, es war unerträglich dieses traurige Szenario mitanzusehen. (…) Wir werden ihn nie wiedersehen, wir werden nie wieder seine Stimme hören.“ Auch sie formulierte zum Schluss ihrer Erklärung ihre Forderungen: „Hoher Senat, Bitte bestrafen Sie die Angeklagten angemessen, aber stellen Sie in Ihrem Urteil auch fest, dass es auch weitere Beteiligte gegeben haben muss, die an den Morden mitgewirkt haben, auch wenn sie hier noch nicht angeklagt wurden. Auch diese Täter und Gehilfen müssen irgendwann für die schrecklichen Morde und Mordanschläge bestraft werden. Mein geliebter Mehmet war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein, der dem krankhaften Rassismus zum Opfer gefallen ist. Dieser Rassismus und dieser Hass muss mit aller Härte bekämpft und bestraft werden. Die ganze Welt schau gespannt auf dieses Verfahren und auf das Urteil. Ich hoffe deshalb, dass Sie die Angeklagten angemessen bestrafen werden.“

Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwalt Önder Bogazkaya; er vertritt die jüngere Schwester von Mehmet Kubaşık. Er verlas einige Gedanken seiner Mandantin. Sie erzählte von ihrem Bruder: „Mein Bruder Mehmet war zwei Jahre älter als ich. Er hat in jungen Jahren geheiratet und hatte eine Tochter und zwei Söhne. Als sein Tochter 6 Monte alt war, musste er zum Militär. Aufgrund von diversen Schwierigkeiten, hat er danach die Türkei verlassen und ist in die Bundesrepublik Deutschland eingereist wo er Asyl beantragt hat. Wir wussten, dass er dort glücklich war. Das einzige was uns traurig machte war, dass es ihm erst 18 Jahre nach seiner Ausreise möglich war, uns wieder in der Türkei zu besuchen. Wir hatten uns so sehr gefreut, als wir ihn nach dieser langen Zeit endlich wieder sehen konnten. Nun sagte er, werde ich euch jedes Jahr in der Türkei besuchen. Er selbst kam aber nicht mehr, er kam nie mehr wieder. Stattdessen kam nur die Nachricht von seinem Tod. Es wurde gesagt, dass Mehmet ermordet worden sei. Es gab noch so viel Dinge dir wir teilen, besprechen, zusammen mit ihm erleben wollten. Wir wollten die verlorene Zeit nachholen. Es ist jedoch leider so vieles unvollendet geblieben. Unser Schmerz war unbeschreiblich, so dass ich nicht versuchen werde, diesen in Worte zu fassen.“ Die Ungewissheit nach seinem Tod habe ihren Schmerz gesteigert: „Diese immer wiederkehrenden Gedanken und Fragen und letztendlich die Konfrontation mit der bitteren Wahrheit, haben bei mir zu einem großen Vertrauensbruch in den deutschen Staat geführt. (…) Wie konnten diese Menschen mit ihrer rassistischen Ideologie, über all die Jahre, nach all den Morden, den Sicherheitsbehörden nicht auffallen?“ Sie habe geglaubt, Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen seien, seien gleichwertige schützenswerte Bürger, dass die Werte des deutschen Grundgesetzes für alle Bürger gelten. Dieses sei erschüttert worden: „Während wir euch immer vertraut und geachtet haben, habt ihr uns wohl nie als gleichwertig betrachtet, ja sogar die Taten als ‚Dönermorde‘ bezeichnet. Hättet ihr diese Menschen als ein Teil von euch akzeptiert, wären vielleicht die Morde, zumindest aber nicht diese Mordserie, durchgeführt werden können. Nicht nur diejenigen, die diese Morde eigenhändig begangen haben sind schuldig, sondern auch die, die während dieser Morde still waren oder eine umfassende Aufklärung der Taten verhindern wollen. Sie sind genauso schuldig wie diejenigen, die den Abzug der Waffe selbst gedrückt haben.“
Sie schloss ihre Erklärung ab: „Zum Abschluss möchte ich sagen: Es mildert nicht meinen Schmerz, wenn die Personen auf der Anklagebank im Einzelnen besonders hohe Strafen bekommen, solange die ganze Wahrheit, die Frage nach dem Warum, die Frage nach den rechten Strukturen und der Rolle Sicherheitsbehörden unbeantwortet bleibt. Ich frage daher konkret: Wo war der Staat, mit all seinen hochentwickelten Sicherheitsbehörden, all seinen Polizisten und den Staatsanwälten, während diese Mordserie immer wieder neue Opfer forderte?“

RA Bogazkaya schloss daran an: „Das geforderte Versprechen der umfassenden Aufklärung wurde von der Bundeskanzlerin Frau Merkel gemacht. Man muss feststellen, dass dieses Versprechen leider nicht erfüllt wurde.“ Vielleicht sei die hohe Anforderung an diesen Prozess, umfassende Aufklärung herbeizuführen, von Beginn an nicht umzusetzen gewesen, insbesondere wenn diejenigen, die diese Fragen beantworten könnten, bis zuletzt schweigen oder gar lügen. Trotzdem sei der Prozess nicht nutzlos oder überflüssig gewesen. Im Gegenteil, der Prozess sei wichtig gewesen: „Er hat zu einem noch mehr Fragen aufgeworfen und zum anderen, einige Punkte offensichtlich gemacht. Auch meiner Ansicht nach, kann die Behauptung, dass der NSU ein isoliertes Trio war nicht aufrechterhalten werden. Es wurde deutlich, dass der Verfassungsschutz die rechte Szene unterstützt hat und sich sogar V-Männer im unmittelbaren Umfeld des NSU bewegten. Ohne Unterstützer aus der rechten Szene und indirekte oder direkte Hilfe des Verfassungsschutzes, wäre es dem NSU nicht möglich gewesen, diese Morde zu begehen.“ Die Mordserie hätte früher beendet werden können, wenn die Behörden nicht einseitig ermittelt hätten: „Die Polizei genießt einen ungeheuren Vertrauensvorschuss bei der Bevölkerung, auch unter der türkischsprachigen.“ Bogazkaya: „Das Perfide daran ist, dass eben dieser Vertrauensvorschuss, hier die unmittelbar Betroffenen zum zweiten Mal zu Opfern gemacht hat.“ Die Ermittlungsarbeit der Polizei habe den Eindruck erweckt, dass diese nach dem Motto geführt wurde: “Ein Türke kann nicht einfach Opfer sein, er muss ein Krimineller sein. Man muss nur lange genug suchen.“ Bogazkaya beendete sein Plädoyer: „Das Traurige ist, dass die in der Hauptverhandlung vernommenen Ermittlungsleiter und Polizisten, auch rückblickend, fast ausnahmslos keine Fehler eingestanden oder sich gar bei den Opferfamilien entschuldigt haben. Auf diese selbstgerechte Art kann weder bei den Opferangehörigen, noch insgesamt in der Bevölkerung das verlorene Vertrauen zurückgewonnen werden. Es hätte zumindest den Schmerz der Angehörigen gemildert, wenn mit klaren Worten, ohne auszuweichen, gesagt worden wäre, wir haben ein Problem mit institutionellen Rassismus, wir entschuldigen uns! Wir werden alles tun, damit sich das in Zukunft nicht wiederholt! Dieser institutionelle Rassismus kann in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden. Deswegen darf das Ende dieses Prozesses nicht das Ende der gesellschaftlichen Aufarbeitung sein.“

Der Prozesstag endete, nachdem RA Grasel für die Angeklagte Zschäpe angab, sie könne nicht mehr.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.