Kein Schlusswort, sondern Gegenerzählung. Rezension zu „Kein Schlusswort. Nazi-Terror – Sicherheitsbehörden – Unterstützernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess“

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von Sebastian Schneider

Trotz einiger Störversuche und einer längeren Unterbrechung, die durch Verteidiger_innen verursacht wurden, hielten die Nebenkläger_innen und/oder ihre Vertreter_innen im NSU-Prozess zwischen dem 387. und dem 411. Verhandlungstag ihre Plädoyers. Zur Bedeutung der Plädoyers der Nebenklage: „Mit den Plädoyers nahmen die Nebenkläger_innen – persönlich und/oder über ihre Vertreter_innen – noch einmal die Gelegenheit wahr, in einem offiziellen Rahmen aktiv Einfluss auf die Aufklärung des NSU-Komplexes zu nehmen. Die Nebenklage-Plädoyers sind damit auch der Maßstab, an dem sich eine kritische Beschäftigung mit dem Thema NSU und weitere Aufklärungsbemühungen in Zukunft werden messen lassen müssen. Sie sind das beste Mittel gegen Bemühungen, etwa der BAW, die Aufklärung des NSU mit dem in Kürze zu erwartenden Urteil für beendet zu erklären. Sie sind die detaillierte und pointierte Ausformulierung der Forderung ‚Kein Schlussstrich!‘.“ („Hier im Prozess sind meine Fragen nicht beantwortet worden“, Lotta #69)

Dass ihre Schlussvorträge, so der Begriff für Plädoyers im Gesetz, für viele Nebenkläger_innen bzw. ihre Vertreter_innen keine Schlussworte sein sollten, sondern Auftakt für die dringend notwendige weitere Aufklärung, wurde immer wieder deutlich. Einige Nebenklage-Plädoyers sind der Öffentlichkeit daher von der Nebenklage auch online oder gedruckt zugänglich gemacht worden. Eine besondere Rolle nehmen dabei zwölf Plädoyers ein, die „als Gegenerzählung zum staatlichen Narrativ“ gemeinsam konzipiert wurden und inhaltlich aufeinander aufbauen. Diese Plädoyers erscheinen nun gesammelt im Hamburger VSA-Verlag. In ihrer instruktiven Einleitung benennt Rechtsanwältin Anna Luczak das Ziel dieser ebenso umfangreichen wie pointierten Gegenerzählung: „Die Nebenkläger*innen und ihre Vertreter*innen, deren Texte in diesem Buch versammelt sind, haben sich im Laufe des Verfahrens eng zusammengeschlossen. Die Nebenkläger*innen wollten, dass in diesem ersten und bis heute einzigen Gerichtsverfahren zum NSU-Komplex gemeinsam mit der Feststellung der persönlichen Schuld der Angeklagten auch das Netzwerk des NSU, die Kenntnisse der Verfassungsschutzbehörden und die strukturell rassistisch geführten Ermittlungen aufgeklärt werden. Die Vertreter*innen der Nebenkläger*innen eint dieser Auftrag ihrer Mandant*innen sowie ihr eigener, in diesem Zusammenhang notwendig politischer Anspruch an ihre Arbeit.“

Der von Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens herausgegebene Band umfasst die bewegenden und kämpferischen Plädoyers der Nebenkläger_innen Elif Kubaşık, Gamze Kubaşık, Arif S. und Muhammet Ayazgün sowie die Plädoyers der Anwält_innen Carsten Ilius („Der Mord an Mehmet Kubasık in Dortmund als Beispiel für rassistische Ermittlungen und unzureichende Ermittlungen hinsichtlich lokaler NSU-Netzwerkstrukturen“), Sebastian Scharmer („Aufklärungsanspruch nicht erfüllt – ein Schlussstrich kann nicht gezogen werden“), Peer Stolle („Die Entstehung des NSU. Jugendcliquen, Diskurse, Ideologie, ‚Heimatschutz'“), Alexander Hoffmann („Nebenkläger*innen aus der Keupstraße und die Ideologie des NSU-Netzwerkes“), Stephan Kuhn („Der Anschlag auf die Keupstraße und die Ermittlungen gegen die Betroffenen, ‚Bombe nach der Bombe'“), Berthold Fresenius („Die Keupstraße und das Verhalten des Innenministers Otto Schily“), Björn Elberling („Die Raubüberfälle des NSU„) und zum Abschluss des Bandes von Antonia von der Behrens („Das Netzwerk des NSU, staatliches Mitverschulden und verhinderte Aufklärung“). Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des „European Center für Constitutional und Human Rights“ in Berlin, stellt in seinem Vorwort richtig fest: „Sowohl bei der Zurückweisung von Verschwörungstheorien bei gleichzeitigem Aufrechterhalten der Forderungen nach umfassender Aufklärung wie politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung wird uns die Veröffentlichung der Plädoyers einer Gruppe von Nebenklägeranwält*innen im vorliegenden Band helfen.“

Zur Gruppe von Nebenklagevertreter_innen, deren Plädoyers in „Kein Schlusswort“ versammelt sind, gehörte auch die Münchner Anwältin und Antifaschistin Angelika Lex. Leider konnte sie das Ende des Prozesses nicht mehr erleben. Angelika Lex ist am 9. Dezember 2015 gestorben. In jedem der Plädoyers ihrer Kolleg_innen wird sie zitiert und ihre Arbeit gewürdigt. Der vorliegende Sammelband enthält eine Rede, die sie am 13. April 2013 in der Nähe des Münchner Strafjustizzentrums auf der großen antifaschistischen Demonstration zu Prozessbeginn hielt. Angelika Lex beendete ihre Rede mit den Worten: „Denn auf dieses Gericht alleine wollen wir uns nicht verlassen, denn einen Vertrauensvorschuss für diesen Rechtsstaat, dass er dieses dunkle Jahrzehnt alleine aufarbeitet, den gibt es von uns nicht!“ Ein Satz, der auch nach fast fünf Jahren NSU-Prozess nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt hat.

„Kein Schlusswort“ ist eines der bisher wenigen echten Standardwerke zum NSU-Komplex. Antonia von der Behrens schloss ihr Plädoyer mit den Worten: „Das hiesige Verfahren hat also nicht die nötige Aufklärung erbracht. Dieser Umstand ist zu kritisieren, aber nicht überraschend. Die Machtverhältnisse zwischen unseren Mandanten und uns auf der einen und den Sicherheitsbehörden auf der anderen Seite sind zu ungleich. Die Aufklärung von Verbrechen mit staatlicher Verstrickung braucht Jahrzehnte, wenn sie denn jemals gelingt. Sie braucht eine aktive, die Geschädigten und die Forderung nach Aufklärung nicht vergessende Öffentlichkeit, sich diesen verpflichtet fühlende Parlamentarier, Journalisten und Anwälte. Sie braucht Whistle Blower aus dem System oder das Aufbrechen von Interessengegensätzen im Sicherheitsapparat, die Leaks von relevanten Informationen zur Folge haben. Die Forderung nach Aufklärung darf mit dem Ende dieses Verfahrens nicht verstummen und sich von den der Staatsräson geschuldeten Widrigkeiten nicht beirren lassen.“ Soviel ist bereits jetzt klar: Eine aktive, die Betroffenen und die Forderung nach Aufklärung nicht vergessende Öffentlichkeit, kann an diesem Sammelband nicht vorbei.

Antonia von der Behrens (Hrsg.): Kein Schlusswort. Nazi-Terror – Sicherheitsbehörden – Unterstützernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. VSA: Verlag Hamburg, 328 Seiten, Hardcover, Preis: 19,80 EUR (erscheint im März 2018)

Schon jetzt sind mehrere Veranstaltungen mit Autor_innen des Buches angekündigt. So werden Antonia von der Behrens und Sebastian Scharmer am Dienstag, den 8. Mai 2018, um 19 Uhr in der Akademie der Künste in Berlin (Pariser Platz 4) unter dem Titel „Kein Schlusswort: Der Nationalsozialistische Untergrund und der Stand der Aufklärung“ im Gespräch mit der Schriftstellerin und Publizistin Kathrin Röggla und der Journalistin Heike Kleffner Auskunft über den Stand der Dinge geben. Eingeleitet wird die Veranstaltung von Jeanine Meerapfel und Imran Ayata.

Nebenklagevertreter Eberhard Reinecke hat auf seinem Weblog eine Liste mit den Online-Fundstellen für u.a. Nebenklage-Plädoyers erstellt:
http://www.blog-rechtsanwael.de/ueberblick-ueber-plaedoyers-der-bundesanwaltschaft-und-der-nebenklage/

Bereits im November erschien von Nebenklagevertreter Mehmet Daimagüler: „Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess“ (Lübbe), das wir hiermit ebenfalls empfehlen.