(K)Eine gespaltene Wahrnehmung: Antisemitismus und der NSU

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von Heike Kleffner

Sowohl ein mörderischer Rassismus als auch ein in direkter NS-Tradition stehender Antisemitismus mitsamt der offenen Verherrlichung der Schoa gehören zum ideologischen Fundament des Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Dessen Selbstbezeichnung ist politisches Programm und verweist auf das Selbstverständnis als „politische Soldaten“ in der Tradition der historischen Waffen-SS und Avantgarde einer neuen nationalsozialistischen (Jugend-)Bewegung, in der sich das Netzwerk um den Kern aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger Gerlach sowie mindestens drei Dutzend enge Weggefährt*innen ab Mitte der 1990er Jahre in Thüringen und Sachsen selbst verorteten.

Als das Netzwerk des NSU sich radikalisierte, war die Auseinandersetzung um die Verbrechen der Wehrmacht – und deren Leugnung durch Medien, Politik und familiäre Diskurse – ebenso öffentlich präsent wie die „Asyldebatte“ und deren mörderische Konsequenzen. Die offensive Bezugnahme auf den nationalsozialistischen Völkermord war für Neonazis der „Generation Terror“ der 1990er Jahre programmatisch – das zeigt sich auch in den zahlreichen Anleitungen zum Aufbau von Terrorstrukturen für den „führerlosen Widerstand“ wie den „Turner Diaries“ oder dem „Field Manual“ von Blood&Honour.[1] Der mörderische Rassismus des NSU entstammt ebenfalls der direkte Bezugnahme auf die Wahnvorstellung einer „arischen Volksgemeinschaft“ und „weißen Vorherrschaft“.

Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie ihre engen politischen Weggefährten aus der Kameradschaft Jena und dem Thüringer Heimatschutz sowie die Aktivisten des Blood&Honour Netzwerks, die den drei Jenaer Neonazis ab Januar 1998 das Leben als polizeilich gesuchte Neonazis in Sachsen ermöglichten, machten schon als Jugendliche keinen Hehl aus ihrem nationalsozialistischen Selbstverständnis: Die regelmäßigen Schändungen von antifaschistischen Mahnmalen in Jena und Umgebung gehörten ebenso dazu wie ein „Besuch“ der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald im Frühjahr 1995, der mit einem lebenslangen Hausverbot für die in SA-Montur gekleideten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt endete. In einem BBC-Interview im Sommer 1998 mit vermummten Mitgliedern des Thüringer Heimatschutzes bezeichnete deren Anführer, der langjährige V-Mann des LfV Thüringen, Tino Brandt, Adolf Hitler als „großen Deutschen“, dem wie Friedrich dem Großen ein Ehrenplatz in der deutschen Geschichte gebühre. Ehemalige Freund*innen und Weggefährt*innen des NSU-Kerntrios aus dem nahen Umfeld der Kameradschaft Jena wie etwa Christian Kapke, der Bruder von André Kapke oder André Kapkes langjährige enge Freundin Jana J. beschrieben als Zeug*innen im Prozess gegen Beate Zschäpe vor dem OLG München, wie konstitutiv Antisemitismus und die Verherrlichung des Nationalsozialismus für die Kameradschaft Jena waren: Als politische Alternative habe man sich „auf jeden Fall ein nationalsozialistisches System vorgestellt“, so Jana J. Man sei rassistisch und systemfeindlich gegen die bundesdeutsche Demokratie eingestellt gewesen, „wie es im Osten üblich war“, habe sich gegen Zuwanderung gewandt und die Kapitalismuskritik in der Szene sei „immer antisemitisch“ gewesen, „das wurde beides gleichgesetzt“, so die Zeugin.[2] Die inzwischen aus der Neonazi-Szene ausgestiegene Sozialwissenschaftlerin hatte als 16-Jährige gemeinsam mit Ralf Wohlleben für eine im Stil der „Bild-Zeitung“ gelayoutete so genannte „Geburtstagszeitung“ für André Kapke im August 1998 einen die Schoa verherrlichenden Text verfasst, in dem die „Umfunktionierung der KZ-Gedenkstätte als Tankstelle für Gas“ vorgeschlagen wurde – neben Lobliedern für und Fotos von den wenige Monate zuvor aus Jena verschwundenen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.[3] Auch Christian Kapke, der als jüngerer Bruder von André Kapke dessen enge Freundschaft mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie dessen politische Führungsrolle in der Kameradschaft Jena intensiv miterlebt hatte, betonte bei seiner Zeugenaussage im März 2015 den antisemitischen und völkisch-rassistischen Charakter sowie den Bezug auf den Nationalsozialismus. Auch “verbale Gewalt gegen Ausländer “ bis hin zur Vernichtung sei rhetorischer Standard gewesen. Böhnhardt und Mundlos hatten den Bezug zu den historischen NS-Vorbildern bewusst demonstrativ hergestellt und immer öfter bei RechtsRock-Konzerten im Winzerla-Jugendclub und zu anderen Gelegenheiten SA-ähnliche Uniformen mit Koppel, schwarzen Hemden, schwarzen Kniebundhosen, Lederriemen und Springerstiefeln getragen. Der Zeuge gestand, einmal sei auch ein Dönerstand zerstört worden. Auch über den Tag X – den Tag einer nationalsozialistischen Machtergreifung – habe man öfter gesprochen. Ein Schulfreund von Uwe Mundlos, der bis zu dessen 23. Lebensjahr mit dem späteren NSU-Kerntrio und der Kameradschaft Jena Kontakt hatte, schilderte in seiner Vernehmung, dass bei Mundlos schon Anfang der 1990er Jahre vieles sichtbar war, was nach der Gründung des NSU wichtig werden sollte. Das reichte von dessen Vorliebe für Paulchen Panther, über den zutiefst rassistischen so genannten „Kanakensong“ der Neonaziband „Landser“ und dessen völliger „Empathielosigkeit für in Konzentrationslagern ermordete Juden“ bis hin zum ersten Zielschiessen und Sprengversuchen im Steinbruch bei Jena. Der Jugendfreund schilderte auch, wie sich die Einstellung von Mundlos für alle sichtbar zur offenen Verherrlichung des Nationalsozialismus entwickelte: Dessen Vorliebe für Reichskriegsflaggen, Hitler- und Goebbels-Reden sowie Computerspiele, bei denen „man Juden erschießen konnte“, seien allen in Jena ebenso bekannt gewesen wie die offenen Hetzjagden auf Linke und vietnamesische Zigarettenhändler der Gruppe um Mundlos, Böhnhardt, André Kapke und Ralf Wohlleben. Mundlos habe zudem immer versucht, andere ebenfalls von seiner nationalsozialistischen Einstellung zu überzeugen.[4] »Wenn es um die politische Einstellung gegangen ist, dann veränderte sich [Mundlos’] Gesichtsausdruck. Bei ihm gab es Null-Toleranz und keine Kompromisse. Er hatte ernste Absichten und mir war damals klar, dass es bei ihm nie aufhören würde,“ bestätigte auch Tom T., ein ehemaliges Mitglied der Kameradschaft Jena, als Zeuge. „Er war davon überzeugt, dass man den Nationalsozialismus wieder einführen könne. Rudolf Heß war sein großes Vorbild. Für ihn stand die Reinhaltung der Rasse im Vordergrund. Den Multikulti-Schmelztiegel in Deutschland hat er gehasst.« Tom T. führte weiter aus: »Die gleiche Einstellung hatten meiner Meinung nach auch Ralf Wohlleben und André Kapke. Diese Einstellung hatte Mundlos schon in der Zeit, als ich ihn kennenlernte. Kapke und Wohlleben mussten sich zu dieser Einstellung erst hin entwickeln.« Mit Uwe Böhnhardt hatte Uwe Mundlos einen ideologischen Zwillingsbruder gefunden, der den nationalsozialistisch verwurzelten Antisemitismus und Rassismus und als Konsequenz die massenhafte Vernichtung von Menschenleben bedingungslos teilte. Einer der frühen Unterstützer aus Jena und ein Jugendfreund von Uwe Böhnhardt, Jürgen H. hat beschrieben, wie Uwe Böhnhardt vor seinem Abtauchen nicht nur ihm, sondern auch anderen Personen gegenüber von seinen Vernichtungsphantasien gegenüber Migranten gesprochen und seinem Ausländerhass freien Lauf gelassen hatte, auch wenn andere Personen mit dabei waren. »Ausländer« gehörten nicht ausgewiesen, sondern in Konzentrationslager interniert und vergast.“[5]

Für alle sichtbare antisemitische „Taten statt Worte“

In ihrem Schlussplädoyer beschrieb die Nebenklagevertreterin der Familie des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, Antonia von der Behrens, wie die NS-Ideologie in der Frühphase der Radikalisierung der Kameradschaft Jena und des Thüringer Heimatschutzes das spätere NSU-Motto „Taten statt Worte“ vorwegnahm – durch eskalierende antisemitisch und nationalsozialistisch motivierter Gewalttaten: „Zum Jahrestag der antisemitischen Pogrome wurde am 9. November 1995 eine erste Puppe mit einem Davidstern an einem Rohr der Stadtwerke Jena aufgehängt. Einen Tag später wurde in einem Wohnheim für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge in Jena ein mit einem Selbstlaborat gefüllter Sprengkörper aufgefunden. Auch außerhalb von Jena tauchten Bombenattrappen auf. Rosemann bekannte sich zu einer Bombenattrappe, die er anlässlich der Heß-Gedenkwoche 1995 an der Heidecksburg bei Rudolstadt platzierte; eine Aktion, über die er nach eigenen Angaben auch mit Böhnhardt und Mundlos sprach. Wenig später, am 10. September 1995, wurde eine Bombenattrappe am Mahnmal der Opfer des Faschismus in Rudolstadt anlässlich einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald platziert. Zu der Tat bekannte sich damals das THS-Mitglied Danny S. Noch am selben Tag wurden das Mahnmal aus Autos heraus mit Eiern beworfen und Flugzettel mit nationalistischen und antisemitischen Parolen abgeworfen. Als Täter wurden u.a. André Kapke, Holger Gerlach, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und Sven Rosemann festgestellt. Am 13. April 1996 wurde an einer Autobahnbrücke nahe Jena eine zweite Puppe aufgehängt – mit einer Schlinge am Hals, versehen mit einem Davidstern und der Aufschrift »Jude«. Mit der Puppe verbunden war eine Bombenattrappe. Am nächsten Tag sollte Ignatz Bubis auf dem Weg zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald unter der Brücke durchfahren. Im August 1996 mietete dann die Angeklagte Zschäpe die Garage Nr. 5 An der Kläranlage an. Diese Garage – wie von Anfang an beabsichtigt – diente nicht nur der Deponierung von Unterlagen und Material, das vor Durchsuchungen und Beschlagnahmungen geschützt werden sollte, sondern in erster Linie der Durchführung konspirativer Aktivitäten – dem Bau von Bombenattrappen und später auch von grundsätzlich zündfähigen Rohrbomben. Am 6. Oktober 1996 wurde eine Kiste mit schwarzen Hakenkreuzen und der Aufschrift »Bombe« im Ernst-Abbe-Sportfeld in Jena abgelegt. In der Kiste befand sich eine Bombenattrappe. Ende 1996 wird durch Uwe Mundlos über die Chemnitzer Kontakte – die »Blood & Honour«-Aktivisten Starke, Winter und Giso T. – mindestens 1,4 Kilogramm zündfähiges TNT besorgt. Nach Sprengversuchen wird seitens Mundlos versucht, über diese Kontakte auch Zünder zu bekommen. Um den Jahreswechsel 1996/1997 werden Briefbombenattrappen an die Polizei, die Stadtverwaltung von Jena und an die Lokalredaktion einer Thüringer Zeitung verschickt. Das Begleitschreiben an die Lokalredaktion lautete: »Von Lüge und Betrug haben wir genug! Das wird der letzte Scherz jetzt sein ab 97 haut es richtig rein.« Das Begleitschreiben an die Polizei und Stadtverwaltung enthielt folgende Worte: »Mit Bombenstimmung in das Kampfjahr 97 – Auge um Auge Zahn um Zahn – dieses Jahr kommt Dewes [bzw. Bubis] dran !!!« Dann am 2. September 1997 wird auf dem Vorplatz des Theaterhauses in Jena ein Koffer abgelegt; in roter Farbe, in der Mitte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis. Der Koffer enthielt eine selbstgebaute, allerdings nicht zündfähige Rohrbombe, diese gefüllt mit Schwarzpulver und 10 Gramm TNT. Schließlich der 26. Dezember 1997. Wiederum wird ein Koffer abgestellt – wiederum rot, bemalt mit einem schwarzen Hakenkreuz in einem weißen Kreis – diesmal vor der Gedenkbüste des Widerstandskämpfers Magnus Poser auf einem Friedhof in Jena.“[6]
Der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, war mehrfach Ziel von Bedrohungen und Aktionen der Sektion Jena des Thüringer Heimatschutzes. Bei einer Veranstaltung in Jena wurde er offensiv ausgespäht, die Kameradschaft plante offensichtlich einen Hinterhalt und lud Ignatz Bubis in einem Schreiben zu einem öffentlichen Schlagabtausch nach Jena ein. Der LKA-Beamte Mario Melzer, der nach 2011 von allen Ermittlungen abgezogen wurde, erkannte die Gefahr sofort und warnte Ignatz Bubis. Am 26. März 1999 wurde eine Briefbombenattrappe an Bubis geschickt mit einer schriftlichen Drohung »Um 11.00 Uhr geht die Bombe hoch«. Das BKA ging damals in einem Vermerk vom 30. März 1999 davon aus, dass die Briefbombenattrappe eine Ähnlichkeit mit den Attrappen aufwies, die in Jena aus der Zeit vor der Flucht von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe aufgefunden worden waren.“[7] Wenige Wochen zuvor, am 9. März 1999, hatten bis heute unbekannte Täter*innen in Saarbrücken einen Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung verübt: Die Sprengkraft der Bombe war so gewaltig, dass ein Sachschaden von einer knappen halben Million Euro entstand. In den wenige Wochen später folgenden Briefbombenattrappen, die an Ignatz Bubis sowie einen Mann in München versandt wurden, der aufgrund einer Namensgleichheit offenbar mit dem Ausstellungsmacher von „Verbrechen der Wehrmacht“, Hannes Heer, verwechselt wurde, nahmen die anonymen Absender auch direkt Bezug auf den Anschlag.[8]
Ignatz Bubis hatte sich als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen die rassistischen Mobilisierungen nach der Wiedervereinigung gestellt und dabei auch die damalige CDU/CSU-FDP Koalitionsregierung für deren Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und Asylsuchende kritisiert. Ignatz Bubis in DIE ZEIT am 2. Oktober 1992: „Es ist, als würde man die Leute ermuntern, mehr Brandsätze zu werfen: Täglich können sie ihre Erfolge an immer verrückteren Vorschlägen zur Asylpolitik ablesen.“ [9]

Das „Pogromly-Spiel“ und dessen mangelnde Wahrnehmung

Als das LKA Thüringen am 28. Januar 1998 die Garage Nr. 5 in Jena durchsucht, die von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe als Werkstatt genutzt wurde, finden die Beamten neben Rohrbombenrohlingen und zwei fertigen Rohrbomben – darunter eine mit Schrauben und Muttern gespickte – sowie 1,4kg TNT Sprengstoff, die ausreichen, um ein Wohnhaus zu sprengen – auch ein selbstgebasteltes Brettspiel im Stil von „Monopoly“ sowie eine Diskette mit dem Gedicht „ALIDRECKSAU WIR HASSEN DICH“.

Bei dem Brettspiel, das Uwe Mundlos laut Zeugenaussagen während seines Studiums am Kolleg der TU Ilmenau in den Jahren 1996/1997 entworfen hatte, handelte es sich um das „Pogromly“-Spiel: Vom Aufbau angelehnt an das bekannte Spiel „Monopoly“ verfolgt das „Spiel“ nur einen einzigen Zweck: Die „Spieler*innen“ versetzen sich in die Rollen von SA- und SS-Mitgliedern und „spielen“ die Schoa und die Vernichtung der politischen Gegner. Als Währung für das Spielgeld ist Reichsmark ausgegeben. Anstelle von Straßen erwerben die Spieler*innen Städte, die dann „judenfrei“ gemacht werden sollen. Dies entspricht dem Kauf von Häusern und Hotels bei Monopoly. Das Startfeld ist durch ein Hakenkreuz gekennzeichnet. Das Gefängnisfeld und die „Gehe in das Gefängnis“-Karte wurde durch „Beim Juden“ und „Gehe zum Juden“ ersetzt. Das Feld „Frei Parken“ wurde durch „Beim Führer“ ersetzt und anstelle von Bahnhöfen kann der Spieler die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald, Dachau und Ravensbrück kaufen. Die jeweils 16 SA- und SS-Karten enthalten Anweisungen wie „Wiedergutmachungszahlung: Juden müssen für Verbrechen am deutschen Volk zahlen. Du erhälst 400 RM“, „Mache eine Inspektion im KZ Buchenwald“ oder „Der Führer bedankt sich für deine Treue zum Vaterland. Du erhälst eine Prämie von 4.000 RM“ und „Dir ist es gelungen, eine Horde roter Zecken mit Hilfe eines MGs abzuwehren. Du erhälst eine Prämie von 2.000 RM.“[10] Vor dem OLG München und in ihren polizeilichen Vernehmungen hat u.a. die damalige Lebensgefährtin und zeitweilige „Informantin“ des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Juliane W., bei ihrer Vernehmung im März 2014 beschrieben, wie sie einen gemeinsamen „Pogromly-Spieleabend“ mit Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe vor deren Flucht aus Jena verbrachte. Ihr sei von dem Abend nichts Ungewöhnliches in Erinnerung geblieben, so Juliane W. „Es ist halt ein Gesellschaftsspiel gewesen, man stachelt sich da gegenseitig auf, wie wenn ich ein normales Spiel spiele.“[11] Einer breiteren Öffentlichkeit wurde die Existenz des „Pogromly-Spiels“ in der Berichterstattung über die Durchsuchung sofort bekannt. In fast allen Fotos und Aufnahmen, die von der Pressekonferenz des LKA Thüringen zur Durchsuchung und deren fatalen Ausgang – der Flucht von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe – entstanden, ist das Pogromly-Spiel neben den anderen markanten Asservaten zu sehen. Ein Journalist, der im Sommer 1998 die bereits benannte BBC-Dokumentation über die Kameradschaft Jena drehte, wurde von Tino Brandt und André Kapke nahezu genötigt, das „Pogromly-Spiel“ zu kaufen. Da diente das „Spiel“ schon längst mit dazu, den Lebensunterhalt des in Chemnitz bei Freunden aus dem Blood&Honour-Netzwerk wohnenden NSU-Kerntrios zu sichern. Der langjährige Neonazi-Anführer und V-Mann des LfV Thüringen, Tino Brandt, beschrieb im Mai 1998 gegenüber seinen V-Mann Führern, wie die Unterstützer*innen und das Kerntrio mit Hilfe des „Pogromly-Spiels“ Geld bei „Kameraden“ eintreiben wollten. André Kapke habe ihm gesagt, „dass dieses Spiel 100 Mark kosten würde, wobei 50 DM Materialkosten wären und der Rest als Spende für unsere Flüchtlinge gedacht ist.“ Auf Nachfrage, woher die Spiele kämen, habe Kapke geantwortet: „Von den dreien, die haben doch momentan für die Herstellung genug Zeit“. Kapke habe dann abends fünf „Spiele“ zum „THS-Stammtisch“ mitgenommen und dort verkauft. Unter dem Stichwort „Drilling“ und mutmaßlich mit dem Ziel, über die Spur des Spiels den Aufenthaltsort der Gesuchten zu erfahren, übergaben V-Mann-Führer des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz dann sowohl 1.000 Euro an Tino Brandt, der sie dem Kerntrio für die Beschaffung von Ausweispapieren über André Kapke zukommen lassen sollte, als auch „Spesen“ in Höhe von mehreren hundert Euro, um insgesamt sieben Pogromly-Spiele zu kaufen.[12] Anders ausgedrückt: Mit Steuergeldern und in dem Wissen, damit drei Rechtsterroristen den Aufenthalt in der Illegalität zu ermöglichen, förderte das Landesamt für Verfassungsschutz die Herstellung von Propagandamaterial, in dem auf brutalste und menschenverachtendste Art und Weise die Schoa verherrlicht wird. Dass das Geld mutmaßlich von André Kapke unterschlagen und zweckentfremdet wurde, konnten die Beamten des Verfassungsschutzes dabei nicht vorhersehen.[13] Als Zeugen vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss und dem OLG München erklärten sie, sie hätten mit Tino Brandt nicht über den Inhalt oder die politische Botschaft des Spiels gesprochen.[14] Auch bei schon ab dem Sommer 1998 bekannten Unterstützer*innen der Gesuchten fanden Strafverfolger Exemplare des „Pogromly-Spiels“. Beispielsweise bei Jan Werner aus Chemnitz, bei dem im Zuge einer Durchsuchung wegen des Vertriebs für die Neonaziband „Landser“ im Januar 1999 Polizeibeamte den Fund eines „Pogromly-Spiels“ in der Liste der beschlagnahmten Asservate vermerkten.[15] Neben den Medien, der Öffentlichkeit sowie der thüringischen Polizei und dem Verfassungsschutz kannte auch das Bundesamt für Verfassungsschutz das „Pogromly-Spiel“ [16] und wusste bestens Bescheid darüber, dass die gesuchten Neonazis aus Jena gewaltsame Vernichtungsphantasien gegenüber Juden und Jüdinnen verbreiteten. Im zweiten Bundestagsuntersuchungsausschuss hat der langjährige Leiter der Abteilung II2 Rechtsextremismus des BfV von 1996 bis 2004, Wolfgang Cremer, als Zeuge bestätigt, dass auch er das „Pogromly-Spiel“ kannte.[16] Die Unterstützer des Kerntrios hatten in polizeilichen Vernehmungen mit den Zielfahndern des LKA und gegenüber Informanten der Verfassungsschutzämter im Sommer und Herbst 1998 freimütig eingeräumt, die Drei könnten sich nicht stellen, weil sie sich längst auf der Stufe des Terrorismus bewegten, sie eine Strafe von mindestens zehn Jahren zu erwarten hätten und dass sie auf der Suche nach Waffen für einen „weiteren Überfall“ seien.

Warum weder bei den Strafverfolgungsbehörden noch bei den Verfassungsschutzämtern vor diesem Hintergrund und Wissensstand über den manifestiert eliminatorischen Antisemitismus der Gesuchten alle Alarmglocken schlugen, als Informationen darüber eintrafen, dass Beate Zschäpe in unmittelbarer Nähe der Synagoge Rykestraße in Berlin gesehen wurde, bleibt völlig unverständlich.

Späte Aufklärungsversuche: Die Ausspähung der Synagoge in der Rykestraße

Der Umstand, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Beate Zschäpe gemeinsam mit Uwe Mundlos und dem Blood&Honour Aktivisten und Chemnitzer Unterstützer Jan Werner kurz vor dem 8. Mai 2000 – also dem 55. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus – in unmittelbarer Nähe der Ost-Berliner Synagoge in der Rykestraße 53 im Stadtteil Prenzlauer Berg in einem Biergarten aufhielten, um mutmaßlich eines der bekanntesten Symbole jüdischen Lebens und die größte Synagoge in Deutschland nach 1945 auszuspähen, ist erst am Ende des dritten Prozessjahres am OLG München durch einen Beweisantrag des Nebenklagevertreters der Ehefrau von Theodoros Boulgarides, Yavuz Narin, ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Narin stützte sich dabei im Wesentlichen auf die Beweisaufnahme des ersten Bundestagsuntersuchungsausschusses. In dessen Abschlussbericht heißt es dazu: „Nach Ausstrahlung der Sendung Kripo Live am 7. Mai 2000 ging beim LKA Sachsen ein Hinweis eines Security-Mitarbeiters aus Berlin ein, der angab, das Trio am 7. Mai 2000 zwischen 13 und 14 Uhr in einem Biergarten in Berlin-Prenzlauer Berg gesehen zu haben. Durch das LKA Berlin, welches durch das LKA Thüringen um sofortige Abklärung gebeten worden war, wurde der Security-Mitarbeiter am Nachmittag des 8. Mai 2000 vernommen und gab an, als Objektschützer der Synagoge in der Rykestraße in einem der Synagoge gegenüber in der Knaackstraße gelegenen Restaurant eine Personengruppe wahrgenommen zu haben, die aus zwei Frauen, zwei Männern und zwei Kindern bestand. Auf einer ihm vorgelegten Wahllichtbildvorlage erkannte der Beamte Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt wieder, wobei er angab, sie gegen 16 Uhr nochmals in der Imanuelkirchstraße vor dem Polizeiabschnitt 77 gesehen zu haben.“[17] Aus Erkenntnissen einer G-10-Maßnahme zu Jan Werner wussten die Verfassungsschutzämter in Sachsen und Thüringen, dass der weitere Mann aus der Gruppe Jan Werner gewesen sein musste, der vermutlich auch Zschäpe und Mundlos noch am 7. Mai 2000 in seinem Auto mit zurück nach Chemnitz genommen hatte. Dem Wachmann wurden jedoch nie, obwohl es sich aufgedrängt hätte, Bilder von Jan Werner vorgelegt, um dessen Kontakt zu Mundlos und Zschäpe zu verifizieren.[18] In der Hauptverhandlung des OLG München wurde der Wachmann dann im Oktober und November 2017 zwei Mal vor Gericht als Zeuge gehört. Er bestätigte im Wesentlichen die Aussagen, die siebzehn Jahre zuvor von den Fahndern in Thüringen und Sachsen nicht ernst genug genommen wurden, und fügte hinzu, dass er den Eindruck hatte, die Gruppe habe sich über Stadtpläne oder Kartenmaterial gebeugt. Beate Zschäpe hingegen leugnete wenig überraschend in einer ihrer schriftlichen Einlassungen gegenüber dem Gericht, die Synagoge ausgespäht zu haben. Sie sei lediglich zu einem Bummel im KaDeWe und zu anderen Sehenswürdigkeiten mit den beiden Uwes circa zwei Jahre nach dem Untertauchen mit dem Zug für ein Wochenende nach Berlin gefahren.[19]

Erst auf Antrag des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts wurde das BKA dazu veranlaßt, die so genannte 10.000er Liste, die im Brandschutt des Wohnhauses des Kerntrios gefunden wurde, nach möglichen Anschlagsorten hin auszuwerten, die auf jüdische Einrichtungen abzielten: Insgesamt 233 Adressen wurden gefunden. Offenbar kein Tatbestand, der das BKA eigenständig zum Ermitteln angeregt hatte.[20] Der NSU hatte in dieser Liste sowohl die Adressen der Synagoge in der Rykestraße als auch der Synagoge in der Oranienburger Straße und des jüdischen Friedhofs an der Heerstraße in Berlin vermerkt. Dort wurden in den Jahren 1989 und 2002 zwei bis heute unaufgeklärte Sprengstoffanschläge auf das Grab von Heinz Galinski verübt.[21] In der 10.000er-Liste hatte das NSU-Netzwerk neben einigen der späteren Mord- und Anschlagstatorte weitere potenzielle Anschlagsziele – überwiegend zahlreiche von türkischen Vereinen, Moscheen und anderen sichtbaren Orten und Einrichtungen türkeistämmigen-migrantischen Lebens über Politiker von SPD und CDU bis hin zu mehreren Einrichtungen deutscher Sinti und Roma – zusammengetragen und zum Teil mit handschriftlichen Notizen versehen.[22] Die Entscheidung des NSU-Netzwerks, ungeschützte, gesellschaftlich und auch durch die Strafverfolgungsbehörden stigmatisierte türkeistämmige Männer – und nicht die wenigen sichtbaren Repräsentant*innen jüdischen Lebens in Deutschland zu ermorden, könnte dem Täterkalkül entsprungen sein, dass eine offensichtliche Mordserie an Juden und Jüdinnen in Deutschland unter Umständen eine andere Reaktion bei Strafverfolgungsbehörden und Öffentlichkeit nach sich gezogen hätte.

Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus als einem zentralen Leitmotiv neonazistischer Ideologie und daraus folgenden Anschlägen und Gewalttaten gegen jüdisches Leben nimmt noch immer viel zu wenig Raum ein: bei Strafverfolgungsbehörden ebenso wie in den Medien und in einer breiteren Öffentlichkeit. Im mündlichen Urteil des OLG München wird das Ausspähen der Synagoge in der Rykestraße mit keiner Silbe erwähnt . Im gleichen Zeitraum – ab den späten 1990er Jahren und bis nach der Jahrtausendwende – in dem das Netzwerk des NSU seine ersten Anschläge und die rassistische Mordserie begann, wurden zehn jüdische Zuwanderer*innen aus den ehemaligen GUS-Staaten in Düsseldorf-Wehrhahn am 27. Juli 2000 bei einem Sprengstoffanschlag lebensgefährlich verletzt, am 8. Januar 2001 verübte die aus dem Umfeld von „Blood&Honour“ stammende „Nationale Bewegung“ einen Brandanschlag auf die Trauerhalle des jüdischen Friedhofs in Potsdam[23] und im April 2002 sprengten Unbekannte – wie erwähnt – die Marmorplatte am Grabmal von Heinz Galinski in Berlin. Für alle diese Taten ist bislang niemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Sie sollten in der Wahrnehmung neonazistischen Terrors nicht vergessen werden. Ebenso wenig wie der Auftritt der ganz in Schwarz gekleideten Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und André Eminger und ihrer Beifall klatschenden „Kameraden“ am Tag der Urteilsverkündung im OLG München, mit der für jeden sichtbar die NS-Anmutung ebenso aufgerufen wurde wie die gemeinsame Trauer um Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos und unmittelbar an das Motto der Waffen-SS anknüpfende Botschaft von André Eminger im Prozeß: „Brüder schweigen“.

Nachlesen lässt sich die ganz gewöhnliche Verdrängung der Schoa im Übrigen auch – neben einem tief verwurzelten institutionellen Rassismus – in der Operativen Fallanalyse des LKA Baden-Württemberg aus 2007 über den bzw. die mutmaßlichen Täter der „Ceska-Mordserie“: Darin behaupten Beamte des Höheren Dienstes allen Ernstes knapp 70 Jahre nach dem Ende der Schoa: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter (der bis 2011 als Ceska-Mordserie bezeichneten rassistischen Mordserie des NSU, Anm. d. Autorin) hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“[24]

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Fußnoten:

[1] Vgl. Dirk Laabs, „Der NSU, ‚The Order’ und die neue Art des Kampfes“, Antifa Infoblatt Nr. 105, 4.2014
[2] Vgl. Blog der Anwälte Scharmer und Stolle vom 16.4.2014, , Die Vernehmung von Jana J., einer ehemaligen Freundin von Kapke, wurde fortgesetzt, https://dka-kanzlei.de/news-reader/die-vernehmung-von-jana-j-einer-ehemaligen-freundin-von-andre-kapke-wurde-fortgesetzt.html
[3] NSU Nebenklage Blog vom 10.10.2013, https://www.nsu-nebenklage.de/blog/tag/geburtstagszeitung/
[4] vgl. NSU Watch, Protokoll vom 192. Verhandlungstag, 15. März 2015, https://www.nsu-watch.info/2015/03/protokoll-192-verhandlungstag-12-maerz-2015/
[5] zitiert nach: Peer Stolle, „ Die Entstehung des NSU“ in: v.d. Behrens, „Kein Schlusswort“, Hamburg/2018, S. 61
[6] Vgl. v.d. Behrens „Kein Schlusswort“, S. 63f., Hamburg/2018
[7] vgl. BT-Drs. 17/14600, S. 389
[8] vgl. BT-Drs. 17/14600, S. 668
[9] „Wenn die Mehrheit feige schweigt“, https://www.zeit.de/1992/41/wenn-die-mehrheit-feige-schweigt
[10] Beweisantrag der Nebenklägervertreter Schön und Reinecke aus Köln zum „Pogromly-Spiel“ am 79. Prozesstag, 28. Januar 2014 am OLG München
[11] www.nsu-nebenklage.de/blog/2014/03/27/27-03-2014/
[12] vgl. Abschlussbericht des UA 5/1 des Thüringischen Landtags, Drs.-Nr. 5/8080, S. S. 1603 und 1797
[13] vgl. BT-Drs. 17/14600, S. S. 344, 345, 411
[14] Aussage Norbert Wiessner, vgl. BT-Drs. 17/14600, S. 413
[15] vgl. BT-Drs. 18/12950, S. 1264
[16] Im zweiten Bundestagsuntersuchungsausschuss hat der langjährige Leiter der Abteilung II2 Rechtsextremismus des BfV von 1996 bis 2004, Wolfgang Cremer, als Zeuge bestätigt, dass er das „Pogromly-Spiel“ kannte; vgl. BT-Drs. 18/12950, S. 1216
[17] Beweisantrag des Nebenklagevertreters Yavuz Narin vom 6. Oktober 2016, dokumentiert auf: www.nsu-watch.info/2016/10/protokoll-314-verhandlungstag-06-oktober-2016/, BT-Drs. 17/14600, S. 354f.
[18] vgl. v.d. Behrens „Kein Schlusswort“, S. 255
[19] vgl. Protokoll des 317. Verhandlungstags, dokumentiert von NSU Watch: www.nsu-watch.info/2016/10/protokoll-317-verhandlungstag-26-oktober-2016/
[20} www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-synagoge-an-der-rykestrasse-auf-adressliste-a-1132546.html
[21] „Der Marmor zerriss wie Papier“, www.taz.de/!1098824/
[22] vgl. www.morgenpost.de/berlin/article208475869/Der-giftige-Blick-von-Beate-Zschaepe.html
[23] zu den Hintergründen: Dossier „Nationale Bewegung“ von NSU Watch Brandenburg https://brandenburg.nsu-watch.info/dossier-nationale-bewegung/
[24] BT-Drs. 17/14600, S. 991

Zuerst erschienen in INAMO »NSU Kein Schlussstrich Son Söz söylenmedi« Heft Nr. 94, Jahrgang 24, Sommer 2018, 114 Seiten August, 2018