Der vergessene Anschlag des NSU

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von Patrycja Kowalska, Sprecherin der Kampagne Kein Schlussstrich

Vor 20 Jahren, am 23. Juni 1999, verübte der„Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) in Nürnberg ein Rohrbombenattentat. Bis Juni 2013 war völlig unbekannt, dass der NSU diesen Anschlag verübte. Bis heute gibt es keine juristische Aufarbeitung des Anschlags. Bis vor kurzem war auch die Geschichte des Überlebenden Mehmet O. nicht erzählt. Das Rohrbombenattentat vom 23. Juni 1999 ist der vergessene Anschlag des NSU.

Doch es gibt Menschen, die das verändern möchten: Dank der Recherchen und Berichte eines Teams aus Bayrischem Rundfunk und Nürnberger Nachrichten, sowie später der Unterstützung durch die Nürnberger Sozialwirtin Birgit Mair, beginnt der Überlebende Mehmet O. im Sommer 2018 aktiv an die Öffentlichkeit zu gehen. Am 06. April 2019 sprachen Mehmet O. und die beiden Investigativ-Journalisten Jonas Miller (Bayrischer Rundfunk) und Robert Andreasch (NSU-Watch) bei einer Veranstaltung des Münchner Bündnis gegen Naziterror und Rassismus zum Thema „Der NSU in Bayern“. Diese Schilderungen sind die Grundlage für den folgenden Bericht gegen das Vergessen.

Der Anschlag: Nürnberg, 23. Juni 1999
Müde, aber glücklich schließt Mehmet O. Mittwoch nachts um drei Uhr den Laden. Seinen Laden, die Pilsbar „Sonnenschein“ in der Nürnberger Scheurlstraße. Die Eröffnungsfeier seiner allerersten Bar ist ein voller Erfolg. Die letzten Gäste von Mehmets „internationaler Kundschaft“ verlassen kurz vor ihm den Laden. Viele seiner Freunde, Familie, Leute aus der Nachbarschaft und Laufkundschaft sind zu diesem Zeitpunkt schon zufrieden nach Hause gegangen. Die Kasse hat er eben noch ausgezählt, aber fürs gründliche Aufräumen ist es jetzt zu spät. Auf dem Weg nach Hause wird Mehmet klar: Er hat es geschafft. Mit nur 18 Jahren erfüllt sich sein Traum vom eigenen Lokal in seiner Stadt. Der Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist. Der Pächter – ein ebenfalls türkeistämmiger Bekannter – hat Mehmet die Möglichkeit gegeben, etwas aus der Bar zu machen. Er übergibt ihm den Laden. Mehmet weiß, es wird viel Arbeit auf ihn zukommen, aber das ist sein Ding und sein Traum: Die „Pilsbar Sonnenschein“ — mitten in der Nürnberger Südstadt, in den migrantisch geprägten Straßenzügen zwischen Allersberger- und Scheurlstraße — zum Laufen zu bringen.

Nach wenigen Stunden Schlaf macht sich Mehmet mit seiner Mutter an diesem Mittwochvormittag wieder auf den Weg zum Laden. Eigentlich wollte er die nötigen Besorgungen für die kommenden Tage erledigen, doch Mehmet beschließt kurzer Hand: „Nein ich mach den Laden sauber. Mama, geh du einkaufen.“ Da ihm die Sauberkeit seines Ladens wichtig ist, macht er sich, kurz nachdem seine Mutter losfährt, ans Reinigen der Sanitäranlagen. Im Herren-WC bemerkt Mehmet hinter dem Mülleimer eine große Taschenlampe. Seit zwei Wochen bereitete er jeden Winkel des Ladens für die Eröffnung vor. Mehmet wundert sich: Woher kommt das Ding auf einmal? Hat ein Gast die Taschenlampe vergessen oder der Vorbesitzer? Warum hat er sie vorher nicht gesehen? „Neugierig wie ich war, hab ich den Knopf gedrückt. Danach weiß ich nichts mehr. Danach war schon alles —“. Mehmet bricht ab. Beim Erzählen dieser Geschichte am 06. April 2019, fast 20 Jahre später, fallen seine Hände in diesem Moment auf den Tisch des Vortragssaales. Ein dumpfer Aufschlag ist zu hören.

Überleben
Die Taschenlampe ist eine Rohrbombe. Sie explodiert auf Knopfdruck. Mehmet O. wird von einem Ende des Lokals bis kurz vor die Eingangstür geschleudert. Dass er überlebt, liegt an einem technischen Fehler. Die als Taschenlampe getarnte Bombe explodiert nicht richtig. Die von beiden Seiten angebrachten Verschlusskappen an den Enden der „Taschenlampe“ halten nicht. Der Druck kann seitlich entweichen, so dass der für eine hohe Splitterwirkung präparierte Schaft der „Taschenlampe“ nicht in alle Richtungen zerbirst. Jahre später wird ein Fachmann feststellen: „Schwerwiegende Verletzungen bis zur Todesfolge wären möglich gewesen.“ [1] Die Fehlzündung verhindert letztlich das Eindringen größerer Splitterteile in Mehmets Kopf und Oberkörper. Trotzdem erleidet er Schnitt- und Schürfwunden am ganzen Körper. Die umherfliegenden Splitter verletzten insbesondere sein Gesicht, die Arme und Brust. Mehmet erklärt: „Durch den Druck war mein Körper — alles war von unten bis oben aufgegangen. Also ich konnte acht Wochen nichts tun. Ich musste gefüttert werden. Ich konnte gar nichts wegen den Bandagen und hatte Schmerzen ohne Ende.“ Er trägt nicht nur oberflächliche Narben davon. Schlimmer als die furchtbaren Schmerzen und die zwei Monate intensiver Pflege sind die jahrelangen Angstzustände, die folgen. Sein Leben verändert sich durch den Anschlag komplett. Mit den Kumpels abends feiern zu gehen und unter vielen Leuten unbeschwert zu sein — das ist fortan vorbei. Das Nicht-Wissen wird zur Qual: Wer hat die Bombe abgelegt und warum? Diese Fragen lassen Mehmet O. nicht los. Mehmet muss Konsequenzen ziehen: „Wenn ich wissen würde, was das ist. Dann, okay, weiß ich darauf muss ich jetzt aufpassen oder von solchen Szenen weg gehen. Aber wenn man nichts weiß. Und dann hab ich mich halt entschieden. Ich hab’ gesagt: Mit solchen Angstzuständen will ich nicht mehr in der Stadt leben. So sehr ich Nürnberg mag, aber so konnte es nicht weiter gehen.“  So beschließt er 2004, fünf Jahre nach dem Anschlag, seiner Heimatstadt den Rücken zu kehren. Seine Familie, seine Freunde, den Job – all das muss er aufgeben. Denn um die Angst vor den unbekannten Täter*innen hinter sich zu lassen, braucht er einen Neuanfang.

Einstellung nach 7 Monaten
Einer der Hauptgründe, warum Mehmet O. sich nicht sicher fühlen kann, ist die klägliche Ermittlungsarbeit der Polizei. Zwar wird das Münchner LKA sogar per Helikopter zum Tatgeschehen eingeflogen, doch schnell lässt das Interesse der Ermittler*innen nach.Rund ein halbes Jahr nach Beginn der Ermittlungen werden diese bereits wieder beendet. Grund soll die fehlende Beweislage sein. Schon in der ersten internen Polizeimeldung steht für die Ermittler*innen fest: „ein politischer Hintergrund ist nicht erkennbar“. Wie auch bei allen späteren Ermittlungen um den NSU-Terror verdächtigten die Beamten stattdessen auch in diesem Fall den Betroffenen selbst, Mehmet O., für den Bombenanschlag verantwortlich zu sein. Er berichtet: „Die haben dann gesagt: Okay es geht hier um Schutzgeld. Haben Sie oder hat jemand von Ihnen Schutzgeld eingefordert? Oder ob es irgendwas aus meiner Vergangenheit gibt, wofür mich jemand hasst? Also ich wurde so dargestellt, als wäre ich nicht das Opfer, sondern der Beschuldigte. Ob ich Versicherungsbetrug gemacht habe? Solche Sachen wurden mir vorgeworfen.“

Das „System NSU“ geht schon beim ersten Anschlag voll auf: Diejenigen, denen der Anschlag gilt, sind mit rassistischem Ausschluss, Gewalt, Angst, Isolation und Verdrängung konfrontiert. Der Rest der Gesellschaft schweigt oder befeuert die rassistischen Verdächtigungen der Polizei. Auch Mehmet O. wird Drogenhandel, Schutzgelderpressung und sein „Türkisch-sein“ zum Vorwurf gemacht. Die rassistisch motivierte Täter-Opfer-Umkehr ist ein roter Faden im NSU-Komplex.

Die späte Aussage des „Carsten S.“ und die Suche nach Antworten
Am 11. Juni 2013, dem achten Verhandlungstag im NSU-Prozess, bittet der Angeklagte Carsten Schultze vor der Befragung durch den Senat darum, seine Aussage erweitern zu dürfen. Dann berichtet er umfassend von Details, die er bei vorherigen Verhandlungstagen und früheren Aussagen verschwiegen hatte. Bei der Übergabe der Česká — der Tatwaffe, mit der die rassistischen Morde des NSU begangen wurden — sollen die beiden Uwes laut Schultzes Aussage damit geprahlt haben, eine Taschenlampe in einem Geschäft abgestellt zu haben. Schultze weiß später, dass es wohl um eine Sprengstoffpräparation gegangen sein muss. Trotzdem beschließt er zu schweigen. 14 Jahre bleiben die Hintergründe des Anschlags auf Mehmet O. auch deshalb unentdeckt.

Noch am Abend der Aussage Schultzes finden Journalist*innen heraus, dass es sich um einen bis dato ungelösten Anschlag in der Nürnberger Scheurlstraße im Jahre 1999 handeln muss. Einen Tag nach der Aussage bestätigt die Generalbundesanwaltschaft, dass nun wegen eines „Anfangsverdachts“ des versuchten Mordes ermittelt würde. Kurze Zeit später stehen zwei lokale Polizist*innen an Mehmets Haustür und bitten ihn, einen Termin mit dem LKA München zu vereinbaren. „Keine Sorge, sie sind Opfer!“, sagte ihm eine Beamtin.

Mehmet O. erscheint zum vereinbarten Termin bei der lokalen Polizeidienststelle. Nun sitzt er mit den selben beiden Kriminalbeamten, die ihn damals vor 14 Jahren, direkt nach dem Anschlag, befragten, im Revier. Mehmet soll seine „Aussage auffrischen“, wie die Beamten ihm sagen. Sechs Stunden lang werden ihm ordnerweise Bilder von 115 Rechtsextremist*innen vorgelegt. Ob er jemanden kenne? Mehmet O. ist aufgebracht: „Ich habe nie etwas mit solchen Leuten zu tun gehabt!“ Die Kriminalkommissare erklären ihm nicht, warum er sich stundenlang Fotos von Nazis anschauen muss. Niemand klärt ihn darüber auf, dass neue Erkenntnisse darüber vorliegen, dass er mutmaßlich Betroffener rechten Terrors ist. Niemand erklärt ihm, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach einen Anschlag des NSU überlebte, eben jenes Netzwerkes, über das zur gleichen Zeit in München verhandelt wurde. Mehmet erinnert sich noch genau: „Wir haben Pausen eingelegt, denn es war halt schwer für mich. In meiner jetzigen Umgebung habe ich alles geheim gehalten. Ich wollte keinem davon erzählen. Dort im Revier habe ich mir die Bilder angeguckt. Danach haben Sie gesagt: Das war’s. Wenn Sie Fragen haben oder wenn Sie etwas wissen wollen, können Sie sich jederzeit bei uns melden. Dann haben Sie mir wieder ihre Visitenkarten gegeben. Wie damals, 1999. Und wie damals habe ich seitdem von denen auch wieder nichts gehört. Ich wusste nicht, warum ich mir die Bilder angeguckt habe.“ Mehmet O. verlässt das Polizeirevier ohne Informationen und wird so viele weitere Jahre mit der Angst vor den unbekannten Täter*innen allein gelassen.

„Sie ist mir nicht aus dem Kopf gegangen.“
Dabei war die sechsstündige Vernehmung alles andere als ergebnislos. Ein weiteres brisantes Detail wurde Mehmet O. verschwiegen. Bei der Identifizierung der Fotos bleibt Mehmet mehrfach bei einer Person hängen. Der Journalist Jonas Miller zitiert im Rahmen der Veranstaltung im April 2019 Mehmets Aussage aus dem Vernehmungsprotokoll: „Ich bin mir sicher. Ich weiß nicht woher ich sie kenne, aber ich kenne sie.“ Auch 2019 bestätigt er abermals: „Sie ist mir nicht aus dem Kopf gegangen.“

Sie ist Susann Eminger. Die beste Freundin Beate Zschäpes. Zusammen mit ihrem Mann ist sie die engste Unterstützerin des Kern-Trios Böhnhart, Zschäpe und Mundlos. Susann Eminger ist häufig zwei, drei Mal die Woche mit ihren Kindern zu Besuch in der Zwickauer Frühlingsstraße, wo das Kern-Trio ab April 2008 wohnt. Sie leiht Zschäpe ihre Identität, zum Beispiel für eine Bahncard oder bei der Buchung von Urlauben. Auch als Zschäpe 2006 auf der Zwickauer Polizeiwache zum Wasserschaden in der Nachbarwohnung aussagen muss, geht die spätere Hauptangeklagte im NSU-Prozess als Susann Eminger zur Wache. Als sie sich 2011 nach dem Anzünden ihrer Wohnung und tagelanger Fahrt durch Deutschland der Polizei stellt, trägt Zschäpe Emingers Kleidung. Durch ihre Unterstützung hilft sie Zschäpe und den anderen, eine bürgerliche Fassade nach außen hin aufrechtzuerhalten und ermöglicht dem untergetauchten Kerntrio Momente der „Normalität“. Gemeinsam mit ihrem Mann André Eminger hängt sie sich nach dem Tod der Uwes eine glorifizierende Zeichnung der beiden mit dem Schriftzug „Unvergessen“ ins Wohnzimmer. Ihr Mann zeigte sich auch als Angeklagter im NSU-Prozess als treuer Unterstützer: In fünf Jahren äußert er sich nicht einmal, ausgenommen in der Erklärung seines Verteidigers, dass er mit „Haut und Haaren Nationalsozialist sei“ (Plädoyer RA Hedrich vom 08.05.2018). André Eminger wird schließlich lediglich zu zweieinhalb Jahren Haft als Unterstützer der terroristischen Vereinigung NSU verurteilt. Gegen seine Ehefrau Susann läuft seit Jahren ein Ermittlungsverfahren der Generalbundesanwaltschaft – jedoch wurde sie bis heute nicht angeklagt.

Am Ende der Vernehmung rät die Kriminalpolizei Mehmet O. dasselbe, was sie ihm auch bei seiner Vernehmung 1999 ans Herz gelegt hatte. „Meiden Sie die Öffentlichkeit. Gehen Sie nicht an die Medien. Das könnte die Ermittlungen stören.“ Bis heute hat er nichts mehr von den Ermittlungsbehörden gehört.

Schlechte Berichterstattung, gute Recherchen
Jonas Miller, Journalist des Bayerischen Rundfunks und Teil des Recherchezusammenschlusses des Hauses mit den Nürnberger Nachrichten, sucht Mehmet O. im Sommer 2018 auf. Seinem Team wurden die Vernehmungsakten zugespielt. In denen ist zu lesen, dass Mehmet O. eine der aktivsten Unterstützerinnen des NSU-Netzwerks mehrfach auf verschiedenen Bildern wiedererkannt haben soll. Jonas Miller erinnert sich: „Das Interessante daran ist, dass Susann E. nicht einfach im Internet zu finden ist. Es gibt kein aktuelles Bild von ihr. Und vor allem zu diesem Zeitpunkt 2013. Das gab es einfach nicht. Das war für uns ein sehr wichtiges Indiz. Wir dachten, okay, wir müssen mit ihm reden.“ Nach monatelanger Suche findet er Mehmet O. und schreibt ihm einen Brief: Eine Einladung zum Interview. Als Jonas Miller und weitere Kolleg*innen Mehmet O. kennen lernen, stellen sie fest: Mehmet weiß von nichts. „Wissen Sie eigentlich, wen Sie auf den Bildern wiedererkannt haben?“ Mehmet verneint. „Wissen Sie, dass der Anschlag den Sie 1999 überlebten, durch den NSU begangen wurde?“ Mehmet schweigt. Er wusste es nicht.

Zum ersten Mal wird Mehmet O. die Faktenlage erklärt. Er ist nun ein Überlebender des NSU-Terrors. Nach 19 Jahren hat er endlich Gewissheit und eine Antwort auf die quälende Frage: Wer wollte mich umbringen? Es war der „Nationalsozialistische Untergrund.“ Endlich hat Mehmet Gewissheit: „Ab dann war es für mich beruhigend. Da wusste ich endlich einmal, was jetzt Sache war. Nach so vielen Jahren. Da war ich dankbar. Und ich habe gesagt: Ich gehe den Weg mit. Jetzt will ich mich nicht mehr vor der Öffentlichkeit verstecken. Ich gehe in die Öffentlichkeit und erzähle alles: Was ich weiß, was ich nicht weiß. Rede über all das, was mir verheimlicht wurde.“ Zum ersten Mal kann Mehmet O. seine Geschichte erzählen.

Gegen das Vergessen
Die wenigen Berichte, die es über den „Taschenlampenbombenanschlag“ gibt, sind informationsarm und voller Verharmlosungen. Es wird oft betont, dass Mehmet O. nicht schwer verletzt wurde, oder es wird behauptet, er sei eine Reinigungskraft gewesen. Viele Pressevertreter*innen haben sich in ihrer Berichterstattung lediglich auf polizeiliche Angaben gestützt. Allein das Team aus Bayrischer Rundfunk und Nürnberger Nachrichten recherchierte sorgfältig genug, um mit dem Hauptzeugen des Geschehens [2] zu sprechen, und allein sie nahmen seine Perspektive ernst. Das Gericht behandelte den Anschlag am 172. Verhandlungstag Dezember 2014 im Prozess, entschied jedoch letztlich, den “Taschenlampenbombenanschlag” aus „verfahrensökonomischen Gründen“ nicht in die Anklage aufzunehmen. Ein weiterer Anschlag würde nicht ins Gewicht fallen – was die Schuld- und Straffrage der Hauptangeklagten Zschäpe angeht. So konnte Mehmet O. damals nicht als Nebenkläger auftreten. Bis heute kämpft er um die Anerkennung als Betroffener. Mehmet erinnert sich, wie sein heutiger Anwalt Mehmet Daimagüler, der bereits Familienangehörige der Opfer Yaşar und Özüdoğru in der Nebenklage vertrat, zu ihm sagte: „Es kann nicht sein, dass ein Menschenleben so billig auf die Seite geschmissen wird. Es geht nicht ums Geld. Aber Sie haben sich ein neues Leben aufbauen müssen. Sie mussten vierzehn Jahre damit leben. Alles aufbauen: Einen neuen Freundeskreis, neue Arbeit – und all das kann man nicht mit Geld kaufen, aber das Recht muss da sein.“ Mehmet O. hatte nach dem Verlust des Ladens mit Schulden zu kämpfen, irgendwann musste er sogar Insolvenz anmelden. Aufgefangen haben ihn sein neuer Freundeskreis und insbesondere seine Partnerin. Rechtsanwalt Daimagüler erkämpft erst vor wenigen Tagen, im Juni 2019, nach Klageandrohung beim Bundesamt für Justiz, eine Entschädigung für Mehmet O. Zunächst hatte sich die Behörde geweigert Entschädigungen zu zahlen und Mehmet O. aufgefordert, zuerst nachzuweisen, dass er Opfer eines Terroranschlags wurde. [3]

Das Zweifeln muss Enden und Aufklärung folgen
Die Reaktion des Bundesamtes für Justiz steht exemplarisch für den Umgang des Staates mit Mehmet O. Heute wie damals zeigen die Behörden sich unwillens, den versuchten Mord auf Mehmet O. aufzuklären. Die Verantwortung der Aufklärung wird Mehmet selbst überlassen. Der „Taschenlampenbombenanschlag“ ist der vergessene Anschlag des NSU: Ohne Prozess – ohne nennenswerte Aufarbeitung – aber mit konkreten Anhaltspunkten. Das Münchner Bündnis gegen Naziterror und Rassismus fordert deshalb erneut: Kein Schlussstrich! Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen gegen Susann Eminger und andere noch nicht abgeschlossen. Robert Andreasch, Journalist und NSU-Watch-Experte, verwies während der Veranstaltung „Der NSU in Bayern“ am 6. April 2019 darauf, dass die Chancen auf weitere juristische Aufarbeitung im NSU-Komplex sehr gering sind.

Trotzdem kann die behördliche Aufklärungsblockade nicht hingenommen werden. Im Abschlussbericht des ersten Bayrischen Untersuchungsausschusses „Rechtsterrorismus in Bayern – NSU“ ist auf Seite 154 zu lesen: „Aus zeitlichen Gründen mussten einzelne Fragen, wie z.B. danach, (…) ob dem NSU-Trio weitere Anschläge in Bayern zugerechnet werden müssen, offen bleiben. Insoweit liegt lediglich ein Zwischenbericht vor und es wird Aufgabe des nächsten Landtags sein, auch im Lichte der in dem Verfahren vor dem OLG München gewonnenen neuen Erkenntnisse zu prüfen, ob ein weiterer Untersuchungsausschuss eingerichtet werden muss.“ Dieser Aufgabe ist der bayerische Staat verpflichtet.

Es ist an der Zeit, endlich umfassende Aufklärung und angemessene Entschädigung zu leisten. Mehmet O. und einige solidarische Menschen kämpfen bereits darum. Doch der öffentliche Druck muss erhöht werden. 20 Jahre später gilt weiterhin: Auch versuchter Mord verjährt nicht. Kein Vergeben! Kein Vergessen! Kein Schlussstrich!

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Fußnoten:
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/172-tag-im-nsu-prozess-das-taschenlampen-attentat-vor-gericht/11133008.html
[2] Ibrahim Arslan überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992 prägt den Satz „Wir Opfer sind die Hauptzeugen des Geschehens“, um einen neuen Umgang mit Betroffenen rechter Gewalt zu etablieren.
[3] https://www.br.de/nachrichten/bayern/entschaedigung-fuer-nuernberger-nsu-opfer,RTrSTMG