Blickpunkt Kassel: Alte Fälle, neue Fragen

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Am Abend des 06. August 2001 war der linke Wagenplatz am Kasseler Hafen an der Fulda hell erleuchtet, einige Bewohner_innen, darunter auch Kinder, saßen draußen zusammen, hörten Musik. Plötzlich knallte es dreimal und Geschosse rauschten durch die Blätter der Bäume nah bei den Anwesenden. Glücklicherweise wurde niemand getroffen. Lange Zeit hatten die Betroffenen keine Anhaltspunkte, wer hinter dem Attentat gesteckt haben könnte. Nach den Morden an Halit Yozgat und Walter Lübcke und den damit verbundenen Einsichten in die Kasseler Naziszene konkretisiert sich der Verdacht, dass die Bewohner_innen des Wagenplatzes Ziel eines rechten Anschlags gewesen sein könnten.

Was war passiert?

Als die Anwesenden an dem Abend am 6.August 2001 durch einen Knall aufschreckten, war einem Bewohner augenblicklich klar, dass es sich um einen Schuss handelte. Die Geräusche waren war ihm aus seiner Kindheit bekannt, sein Großvater war Jäger gewesen. Er rannte aus der als Küche dienenden Backsteinbaracke und schrie in diese Richtung: „Stopp! Hör auf! Spinnst du!“. Er gab mit einer Presslufthupe Alarm und gab mit einer Taschenlampe Lichtsignale, die anderen löschten die Lichter und gingen in Deckung. Es knallten noch zwei Schüsse, danach blieb es still.

Heutiger Blick über die Fulda vom Standort des/der Schütz_in. Quelle: privat.

Die Gewissheit, dass sie mit scharfer Munition beschossen worden waren, bekamen die Bewohner_innen am nächsten Morgen. Einer von ihnen paddelte auf die andere Flussseite und fand nahe des Ufers auf dem Parklatz eines heute stillgelegten Baumarkts und in der Sichtachse zum Wagenplatz drei Patronenhülsen des Kalibers 9mm. Den Bewohner_innen war klar, dass der Schütze oder die Schützin mindestens in Kauf genommen hatte, Menschen zu treffen, und gar zu töten. Sie entschlossen sich zu einer Anzeige, zwei Tage später übergaben sie die Patronenhülsen der Kasseler Polizei und hinterließen ihre Kontaktdaten. Polizeibeamte kamen ein einziges Mal zum Wagenplatz, um nach den Geschossen zu suchen, blieben dabei aber erfolglos. Weder wurden die Bewohner_innen genau befragt, noch wurden sie jemals über den Stand der Ermittlungen informiert. Bis heute ist unklar, von welcher Deliktlage die Polizei damals ausging.

Wagenleben in Kassel

Der Wagenplatz am Hafen bestand von 1998 bis 2004 und war Teil der langen und bewegten Geschichte alternativen Wohnens in Kassel, das seit den frühen 80er Jahren fester Bestandteil des Stadtbildes war. In Kassel gab es über lange Zeit drei Wagenplätze. Einer davon wurde 1997 polizeilich gewaltsam geräumt, der andere musste aufgegeben werden, weil eine Kindertagesstätte auf dem Gelände gebaut werden solle. Die Bewohner_innen der Wagenplätze fanden auf dem Gelände am Hafen ihr neues Zuhause.

Der Platz lag an der Einmündung des Hafenbeckens direkt an der Fulda, die an dieser Stelle gut 20 Meter breit ist. Auf dem Gelände befand sich zudem eine alte Baracke, die nun als Gemeinschaftsküche diente. Auf der anderen Uferseite befindet sich ein leerstehender Baumarkt mit einem großen Parkplatz, an der Fulda führt ein beliebter Rad- und Spazierweg entlang, von dem aus der Wagenplatz gut einsichtig war.

Der Wagenplatz war in der Stadtöffentlichkeit gut bekannt, nicht nur durch die lange und teilweise konflikthafte Geschichte der Vorgängerprojekte. Regelmäßig luden die Bewohner_innen zu kulturellen Veranstaltungen, Kinoabenden und Flohmärkten auf den Wagenplatz ein und machten damit den Wagenplatz zu einem wichtigen Ort für nicht-kommerzielle Alternativkultur in Kassel.

Postkarte vom Wagenplatz am Hafen. Quelle:privat.

Linke im Visier der Naziszene

Immer wieder wurde den Bewohner_innen des Wagenplatzes mit Vorurteilen begegnet. Wegen der Auseinandersetzungen, die es um die Wagenplätze gegeben hatte, galten sie manchen als linke Unruhestifter. Auch wurde ihnen immer wieder vorgeworfen, sich einfach so öffentlichen Raum zu nehmen. Die politische Rechte echauffierte sich darüber hinaus über die Lebensweise der Bewohner_innen bzw. über das, was sie sich darunter vorstellte. Es ist klar, dass der Wagenplatz am Hafen auch in der neonazistischen Szene in Kassel als Ort linken und alternativen Lebens bekannt und ihr ein Dorn im Auge war.

Immer wieder gab es in Kassel rechte Anschläge auf linke Personen, Einrichtungen und Strukturen. In der Nacht zum 28. Februar 1994 wurde aus einem Auto heraus eine scharf gemachte Übungshandgranate auf das Autonome Zentrum „Bazille“ geworfen, nur durch Glück versagte der Zünder. Auf der Granate klebte ein Aufkleber mit der Parole „Organisiert die nationale Selbsthilfe! Anti- Antifa“.

Nicht nur aus den Ermittlungen und Untersuchungsausschüssen zur Aufklärung des NSU-Mordes an Halit Yozgat weiß man, dass die Szene in Kassel um die Jahrtausendwende äußerst gewaltbereit war und eine starke Nähe zu Schusswaffen und militanter Gewalt hatte. Ausgestiegene berichten, dass führende Personen der militanten Kasseler Neonaziszene in Schützenvereine gingen oder zumindest gehen wollten, einzig zu dem Zweck, um dadurch an die begehrten Waffenscheine und Waffenbesitzkarten zu kommen, um sich ganz legal Schusswaffen beschaffen zu können. Genannt wird in diesem Zusammenhang vor allem der Kasseler Dirk W., ehemaliger lokaler Anführer der 1995 verbotenen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei FAP, der nach dem Parteiverbot 1994 eine Kameradschaftsstruktur anführte. Auch Markus H., der heute der Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke angeklagt ist, zählte zu der Struktur. Ein Ausgestiegener erzählt weiter, dass im Rahmen von Treffen der NPD Ende der 1990er Jahre darüber geraunt worden sei, dass Dirk W. eine „Untergrundorganisation“ aufbauen wollte und dass hierzu Schusswaffen in Bankschließfächern lagern würden. Überprüfen lässt sich diese Behauptung heute nicht. Doch man muss davon ausgehen, dass diese Gespräche über Untergrund und Waffen zumindest dem Verfassungsschutz bekannt waren, der zu dieser Zeit schon die Kasseler Neonaziszene mit Spitzeln durchsetzt hatte.

Lagekarte des Wagenplatzes am Hafen, Standort des/r Schütz_in und Wohnort des wegen Beihilfe angeklagten Kasseler Neonazis Markus H.

Brisant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass es von dem Platz an der Fulda, von dem aus die Schüsse abgegeben wurden, nur ca. fünf Fußminuten zum Haus sind, in dem Markus H. wohnte. Zwar war er zum Zeitpunkt der Schüsse dort nicht gemeldet, wohnte aber mindestens davor und danach in der Wohnung. Von dort sind es nur gute fünf Minuten zu Fuß bis zum Spazierweg am Fuldaufer, von dem aus geschossen wurde.

Zwei Jahre nach den Schüssen auf den Wagenplatz gab es in Kassel einen weiteren Anschlag mit einer Schusswaffe. Ein linker Lehrer und exponierter, engagierter Antifaschist wurde am frühen Morgen des 20. Februar 2003 durch sein Küchenfenster beschossen, die Kugel verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Bereits damals gab es keine Zweifel, dass es ein rechter Anschlag gewesen war, weil kein anderes Motiv denkbar schien. Die Ermittlungen blieben aber ergebnislos. Bei Stephan Ernst wurde 2019, als wegen des Mordes an Walter Lübcke sein Haus durchsucht wurde, ein USB-Stick mit Daten über potenzielle Anschlagsziele gefunden, darunter unter anderem die Adressen von Politikern, der Kasseler Synagoge und die Daten über den betroffenen Lehrer. Wie die Staatsanwaltschaft mitteilte, wurden die Akten und das Projektil jedoch nach zehn Jahren vernichtet. Die Bewohner_innen des Wagenplatzes wurden über das Attentat auf den engagierten Lehrer/2003 weder informiert, noch wurden sie dazu vernommen. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen, die nur etwas über 1,5 Jahre auseinander liegen, wurde scheinbar nicht hergestellt, obwohl sich die Taten ähneln.

Screenshot des Tweets des Journalisten Dirk Laabs vom 29.11.2019

Im Zuge der Recherchen zu potenziellen Anschläge auf Linke durch Neonazis in Kassel fällt ein weiteres Detail auf: Auf dem Stadtplan von Kassel, der im Brandschutt der Wohnung des NSU-Kerntrios in der Frühlingsstraße in Zwickau geborgen wurde, war neben vielen aus rassistischen oder antisemitischen Motiven ausgewählten Zielen auch ein linkes Kulturzentrum in der Kasseler Nordstadt verzeichnet. Das „Haus“ in der Mombachstraße, direkt gegenüber vom Halitplatz, war 23 Jahre lang bis zu seinem Aus im Jahr 2016 ein wichtiger Ort nicht-kommerzieller Kultur in Kassel. Es fanden regelmäßig Lesungen, Parties und Konzerte statt. Der Verein wurde davon weder in Kenntnis gesetzt, noch scheint es eine Ermittlungsspur in diese Richtung gegeben zu haben. Weiter noch: Während bei anderen Objekten auf dem Stadtplan eine Einordnung passierte, was sich dort befindet und warum sie in dieser Feindesliste bzw. auf den Stadtplänen gelandet waren, fehlt beim „Haus“ jeder Hinweis darauf, dass die Ermittler_innen wussten, was mit dieser Markierung gemeint war.

Das „Haus“ in Kassel.Quelle:privat

Während das für auswärtige Behörden ggf. noch nachzuvollziehen ist, wenn sie die Markierung „Haus“ nicht als Kulturzentrum interpretieren, ist es nur schwer vorstellbar, dass die Kasseler Beamt_innen nicht wussten, dass es es sich dabei um den linken Laden handelte.

Fehlende Ermittlungen, keine Zusammenhänge

Erst kürzlich warf eine Veröffentlichung der Rechercheplattform Exif offene Fragen zu den Ermittlungen rund um den Mord an Halit Yozgat auf. Es ist in Kassel immer wieder auffällig, dass Ermittlungsstränge mit Bezug zu Neonazis nicht konsequent verfolgt oder erst gar nicht aufgenommen wurden und werden. Rassismus wird als Motiv nicht in Betracht gezogen, und ebenso gibt es kein Verständnis für die Perspektive derer, die von Nazis als politischer Gegner_innen gesehen werden.

Jahrelang hatten die Bewohner_innen des Wagenplatzes nicht mehr an den zum Glück glimpflich ausgegangenen Anschlag gedacht. Als aber nach der Selbstenttarnung des NSU und dem Mord an Walter Lübcke das Ausmaß der Gefahr klar wurde, die von der Kasseler Neonaziszene ausging und -geht, kamen die Erinnerungen an die Nacht des 06. August 2001 wieder ins Bewusstsein. Die Betroffenen von damals setzen eine letzte Hoffnung in den neuen Untersuchungsausschuss in Hessen, der noch im Sommer 2020 eingesetzt werden. Hier könnten zumindest einige der Fragen geklärt werden, die nicht nur die Bewohner_innen umtreiben:

Wusste/Weiß der Verfassungsschutz etwas zum Anschlag auf den Wagenplatz? Befand sich der Wagenplatz auf Feindeslisten der extremen Rechten in Kassel? Was wussten die Behörden über die Beschaffung von Schusswaffen seitens Kasseler Neonazis, was wussten sie über jene „Untergrundorganisation“, die Dirk W. aufbauen wollte? Gibt es Indizien für eine Beteiligung von Markus H. an den Schüssen 2001 und 2003? Und welche Rolle im militanten Untergrund spielte zu dieser Zeit Stephan Ernst, der ab dem Jahr 2000 der militanten Szene in Kassel angehörte? Und vor allem: Wieso zeigte die Polizei offenkundig keinen Willen, die Mordanschläge von 2001 und 2003 aufzuklären? Warum wurde seitens der Polizei kein Zusammenhang zwischen den beiden Attentaten hergestellt? Wieso wurde nie Ermittlungsergebnisse bekannt oder mitgeteilt? Ließ man die Szene an der langen Leinen laufen und nahm die Ermordung von Linken in Kauf, weil V-Personen und / oder Geheimdienstoperationen geschützt werden sollten? Wie kürzlich bekannt wurde, verhinderte der hessische Verfassungsschutz aktiv, dass Markus H. der legale Besitz von Schusswaffen verweigert werden konnte. Es stellt sich die Frage, welches Wissen der Geheimdienst über die Bewaffnung der militanten Naziszene in Kassel zurück hält.

Womöglich hätten auch die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke verhindert werden können, hätten man damals die Anschläge konsequent verfolgt und den bewaffneten Kern der Kasseler Neonaziszene aus dem Verkehr gezogen.

Ob es noch Akten zu dem Anschlag auf den Wagenplatz am Hafen gibt, soll jetzt eine anwaltliche Anfrage bei der Kasseler Staatsanwaltschaft klären. Zu erwarten ist jedoch, dass auch diese Akten und die Patronenhülsen, wie im Fall des antifaschistischen Lehrers, vernichtet wurden. Damit bleibt die parlamentarische Aufklärung als eine der wenigen Möglichkeiten, um die Gefährlichkeit der rechten Szene in Kassel und ihre Zusammenhänge zu ergründen und den Betroffenen Antworten auf ihre Fragen zu geben.

Für Rückfragen steht NSU Watch als Kontakt zur Verfügung: mail@nsu-watch.info