23. Prozesstag, 22. Oktober 2020 – Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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Am 23. Prozesstag stand die Befragung des mittelhessischen Naziaktivisten Alexander Sch. im Mittelpunkt. Der enge Freund Hartmanns hatte gemeinsam mit ihm und Ernst rechte Demonstrationen besucht und den Tag nach dem Mord an Walter Lübcke mit Markus Hartmann verbracht. Neben Sch. wurden zwei weitere Zeug*innen vernommen, bei denen es um die Frage ging, ob Ernst am Tag vor dem Mord nach Wolfhagen-Istha gefahren war. Dabei handelte es sich zum einen um einen Mobilfunkforensiker des LKA Hessen, der zur Auswertung einer Wärmebildkamera befragt wurde, sowie eine Anwohnerin aus Istha, die ihre Beobachtungen des Freitagabends schilderte.

Sch., der seine Adresse nicht öffentlich verlesen wissen wollte, gab an, von 2008 bis 2014 aktiv in der nordhessischen Naziszene gewesen zu sein. Er habe sich aber seit 2014 von der Szene „gelöst“ und könne „mit der Ideologie nichts mehr anfangen“. So sei er nicht mehr zu politischen Veranstaltungen gegangen. Als Grund dafür gab er seine neue Beziehung und andere Veränderungen im Privaten an. Mit Hartmann verbinde ihn eine enge Freundschaft; beide hätten sich regelmäßig geschrieben, sich zwei bis dreimal pro Jahr gesehen, seien zusammen im Urlaub gewesen. Auch am Tag nach dem Mord an Walter Lübcke hätten sie sich, laut Sch., auf einem Kassler Flohmarkt getroffen. Um diese Begegnung zu verabreden, hätten sie am Vortag telefoniert. Hartmann sei es auch gewesen, der ihn von der Tat mittels eines Links zu einem Medienbericht informiert habe. Die beiden kommunizierten über den Messenger-Dienst Threema. Auch mit Ernst hatte Sch. über Threema Kontakt. Diese Kommunikation löschte er nach der Festnahme. Dies begründete Sch. damit, dass er von der Festnahme Ernsts überrascht gewesen sei und nichts mit einem Mörder zu tun haben wollte.

Obwohl der Zeuge angab, sich von der Szene distanziert zu haben, war er auch nach 2014 auf rechten Demonstrationen unterwegs. Am 01.05.2017 reiste er mit Markus Hartmann, Stephan Ernst sowie dessen Sohn nach Erfurt zur Demonstration der AfD. 2018 fuhr er zum sogenannten „Trauermarsch“ nach Chemnitz, wo er nach eigenen Angaben Hartmann und Ernst nur kurz traf. Auf Nachfrage des Nebenklageanwalts Hoffmann und der Staatsanwaltschaft gab er an, dass er mit dem einschlägig bekannten mittelhessischen Neonazi Jonas S. dort war; an den Namen des anderen Begleiters wollte er sich nicht erinnern. Ebenfalls nicht erinnern wollte er sich an den Namen des Youtube-Accounts, auf dem er die vielzähligen Videos veröffentlicht haben soll, die er über Jahre hinweg auf Nazidemonstrationen angefertigt hatte. Nebenklageanwalt Hoffmann befragte Sch. zu seiner Aktivität in der Naziszene sowie seinem Verhältnis zu Gewalt als Mittel gegen politische Gegner*innen. Hintergrund war, dass Sch. in der Vergangenheit zu den „Freien Kräften Schwalm-Eder“ gehörte, die für einen Übergriff auf ein Zeltlager der „Linksjugend solid“ verantwortlich waren. Bei Alexander Sch. hatte es damals eine Hausdurchsuchung gegeben, bei der auch Anleitungen zum Bombenbau gefunden worden waren.

Sch. habe Stephan Ernst nur flüchtig über Markus Hartmann gekannt. Er habe noch ein weiteres Mal mit Ernst Kontakt gehabt, als er ihn darum bat, ein Bauteil zu fertigen, das er für eine Prüfung im Studium brauchte. Auf Fragen nach seiner Gesinnung antwortete er einsilbig. Mit Hartmann habe er sich vor allem über Privates, sowie aktuelle politische Themen unterhalten. Auf die Frage, ob ihm die NS-Devotionalien in Hartmanns Wohnung aufgefallen seien, antwortete Sch., dass er eine große DDR Fahne bemerkt habe. Staatsanwalt Killmer fasste nach, ob ihm Zinnfiguren aufgefallen seien, die den Arm zum Hitlergruß erhoben, oder die einschlägige NS-Literatur. Hartmann sei historisch interessiert gewesen, so Sch., und Zinnfiguren seien sein Hobby gewesen.

Als zweiter Zeuge wurde ein Mobilfunkforensiker des hessischen LKA vernommen, der mit der Auswertung der Wärmebildkamera befasst war, die bei Stephan Ernst gefunden wurde. Konkret ging es um die zeitliche Einordnung eines Fotos des Hauses der Familie Lübcke. Die Uhr der Wärmebildkamera war falsch eingestellt und ist außerdem nicht präzise, so dass sich die Differenz zur realen Zeit weiter vergrößert. Daher war der Forensiker mit der Aufgabe betraut, die Abweichung der Zeit festzustellen und den Aufnahmezeitpunkt des Fotos zu bestimmen. Er datierte die Aufnahme auf den 01.06.2019 um 01:02, also auf die Nacht von Freitag auf Samstag vor dem Mord an Walter Lübcke.

Als letzte Zeugin des Tages wurde eine Anwohnerin aus Wolfhagen-Istha vernommen, die sich bei einem ihr bekannten Polizisten mit Beobachtungen in der Nacht vom 01. auf den 02.06.2019, also von Freitag auf Samstag, gemeldet hatte. Sie beschrieb, dass sie kurz vor dem Zubettgehen von ihrem Fenster aus beobachtete, wie ein Auto parkte, ein Mann ausstieg, einen Rucksack aus dem Auto holte und in Richtung Dorfausgang lief, was ihr ungewöhnlich vorkam, da an diesem Abend der Kirmes ein Diskoabend stattfand und die Menschen eher in Richtung des Dorfes gingen. Nach einer kurzen Zeit sei der Mann zurückgekommen und in Richtung des Dorfes gegangen. Eine nähere Personenbeschreibung konnte sie nicht abgeben, das geparkte Auto beschrieb sie als „Caddy“ oder „Kangoo“.

Der Prozesstag bei NSU-Watch Hessen