Hört den Überlebenden zu! – Schlussworte von Nebenkläger*innen im Halle-Prozess.

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Vor der Urteilsverkündung im Prozess zum antisemitisch, rassistisch und misogyn motivierten Attentat in Halle (Montag, 21. Dezember 2020) stellen wir gemeinsam mit dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V., dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. , OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung sowie den weiteren prozessbegleitenden Dokumentations- und Rechercheplattformen Zentrum Demokratischer Widerspruch – democ.de und Belltower News die Forderungen der Überlebenden des Attentats durch die gemeinsame Veröffentlichung ihrer Schlussworte in den Mittelpunkt.

Die Pressemitteilung zur Veröffentlichung findet ihr hier.

„Warum habe ich seit über einem Jahr Alpträume davon, dass er mich töten wollte und alles so schmerzhaft ist?“

Schlusswort von İsmet Tekin

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, Bundesanwaltschaft, Damen und Herren … außer einer Person!

Ich bedanke mich heute sehr herzlich bei der Vorsitzenden. Das ist der erste Prozess in meinem Leben und für mich sehr wichtig.

Bei allem Respekt, ich akzeptiere nicht, was die Bundesanwaltschaft gegen mich gesagt hat. Ich frage die Bundesanwaltschaft: Wenn der Feigling mich nicht töten wollte, dann wäre ich sicherlich zu ihm gegangen und hätte ihn gestoppt. Ich hätte dafür gesorgt, dass er nicht hätte weitermachen und auch noch andere Menschen verletzten konnte.

Warum habe ich seit über einem Jahr Alpträume davon, dass er mich töten wollte und alles so schmerzhaft ist? Außerdem war es ein Polizeibeamter, der gesagt hat, er sei seit 1988 Polizeibeamter und dass er über sieben Monate lang schwer dadurch psychisch verletzt war und noch nicht gesund ist.
Wenn ein gelernter Profi vorbereitet zu einem Einsatz kommt – mit kugelsicherer Weste, mit Waffen – und dann so traumatisiert wird: was können wir als Nebenkläger dann noch sagen? Dann brauchen wir kein Wort zu sagen!

Ich danke für Eure Aufmerksamkeit, außer einer Person.

„Die Idee des „Nie wieder“ ist schon gebrochen.“

Schlusswort einer Überlebenden aus der Synagoge

Es gab zwei Anschläge auf zwei Synagogen in Halle und auf die zu ihnen gehörenden Jüdinnen und Juden. Jeweils am 9. Tag eines Herbstmonats.
Der erste war im November 1938, während des Novemberpogroms.
Der zweite war im Oktober letzten Jahres am jüdischen Feiertag Jom Kippur.
Wegen dieser beiden sind wir hier.

Es gibt eine historische Verbindung zwischen diesen Anschlägen. Die zweite Synagoge steht heutzutage nur, weil die erste Synagoge am 9. November 1938 zerstört wurde. Dies kann man schon daran erkennen, dass ein Friedhof zwischen der Synagoge und der Straße liegt. Synagogen werden nicht neben Friedhöfen errichtet.

Es gibt auch eine ideologische Verbindung zwischen den beiden Anschlägen: Sie heißt Antisemitismus. Zuvörderst betrifft Antisemitismus Jüdinnen und Juden. Seine zentrale Wirkungsweise ist es, Jüd*innen als die Fremden zu markieren. Es gibt Zeiten, in denen sich die Vorstellung, alles für Fremdgehaltene vernichten zu müssen, ausbreitet. Dies ist in Halle geschehen. Es wurden alle und alles angegriffen, was als „fremd“ definiert wurde, dazu gehörte auch der Kiezdöner.

Der Täter hat sogar auf die Kontinuität in der seine Tat steht hingewiesen, als er am Anfang des Livestreams den Holocaust leugnete und sich zu seinem Antisemitismus bekannte.

Während ich in der Synagoge war und versuchte, mich irgendwie zu schützen und zu verstecken, konnte ich nicht wissen, was er sagte. Ich habe den Livestream nicht gesehen. Doch habe ich ihn auch nicht gebraucht, um zu wissen, dass es immer noch Personen gibt, die gerne in einer – nach ihren Maßstäben definierten – homogenen Gesellschaft leben würden. Diese Idee hat Europa im 20. Jahrhundert geprägt. Sie war der Grund dafür, dass Verwandte von mir in die USA fliehen mussten. Dafür kann ich nur dankbar sein; deswegen bin ich am Leben.

L’dor Va’dor ist ein hebräischer Ausdruck, der in der jüdischen Tradition einen hohen Stellenwert hat. Er bedeutet „von Generation zu Generation.“ Als Kind habe ich mir nie vorgestellt, ich müsste als Jüdin selbst irgendwann einmal um mein Leben fürchten. So etwas gehört der Vergangenheit an, – dachte ich. Was ich nicht verstanden habe ist, dass die Vergangenheit ein Teil unserer Gegenwart ist.

L’dor Va’dor wird oft im Sinne von Lernen benutzt. Die ältere Generation lehrt die Jüngere. Wir sind verpflichten, die Vergangenheit weiterzugeben, damit wir die Zukunft besser machen können.

Als ich mehr über das Konzept der Erinnerungskultur gelernt habe, habe ich das mit der Idee von L’dor Va’dor verglichen. Obwohl die Ideen aus zwei verschiedenen Perspektiven stammen, geben beide Antworten auf die Frage: Wie geht eine Gruppe mit den Ereignissen der Vergangenheit um?

Man könnte sagen, dass die KZ-Gedenkstätten konkrete Antworten auf diese Frage aus der Erinnerungskulturperspektive sind.

Als Austauschschülerin und dann im vergangenen Jahr als FSJlerin in einer KZ-Gedenkstätte, lernte ich vieles über diese deutsche Erinnerungskultur. Zwei Sätze hörte ich fast täglich während meiner Arbeit: “Nie wieder” und “Nie vergessen.”

“Nie wieder” – nie wieder soll Deutschland zur Diktatur werden. Nie wieder soll ein Völkermord geschehen. Nie wieder sollen Menschen, die nicht zur “Volksgemeinschaft” gehören, in Lager eingesperrt werden. Und vor allem sollen nie wieder Jüd*innen und andere Minderheiten um ihre Leben fürchten.

Die Idee des „Nie wieder“ ist schon gebrochen.

Als ich im Januar 2020 bei der Gedenkstunde des Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus teilgenommen habe, sagte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier etwas Bemerkenswertes in seiner Rede:

“Meine Sorge ist, dass wir [Deutsche] die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart. Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand.”

Zwei Anschläge gehören jetzt zur Vergangenheit. 75 Jahren trennen sie, aber sie sind durch eine auf Hass gegründete Ideologie verbunden.

Nach dem Anschlag habe ich viele Fragen gehabt. In der Zwischenzeit wurden einige beantwortet, aber ich habe noch viele und eine davon lautet: Wie viele Menschen müssen sterben und wie viele Menschen müssen um ihr Leben fürchten, bevor die Mehrheitsgesellschaft versteht, dass Hass auf Minderheiten nicht verschwunden ist?

Unmittelbar nach dem Krieg gab es schon wieder Diskriminierung gegen Jüd*innen! Aber nach dem Krieg gab es auch Jüd*innen, die wieder leben und feiern und genießen wollten, nachdem sie aus dem Leben und der Welt gerissen worden waren.

Für das Judentum ist die Vergangenheit und die Erinnerung daran wichtig. Viele jüdische Feiertage erzählen, was in der Vergangenheit geschehen ist; die Zichronot, Hebräisch für Erinnerungen, bleiben mit uns. Wir müssen uns erinnern, egal ob es etwas Gutes oder Schlechtes ist, damit die zukünftigen Generationen davon lernen können.

Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der deutschen Erinnerungskultur und dem Verständnis von Zichronot im Judentum. Dieser Unterschied ist nicht nur einer von tausenden Jahren, sondern hauptsächlich einer der zeitlichen Perspektive. Deutsche Erinnerungskultur versucht an die Vergangenheit zu erinnern. Die Idee von Zichronot betrifft gleichzeitig die Vergangenheit und die Zukunft. Deswegen sagen wir uns jedes Jahr an Yom HaShoah, dem Holocaust Gedenktag, Yizkor.

Die Bedeutung von Yizkor ist: „Man wird erinnern.“ Das Wort ist etymologisch mit Zichronot verwandt. Aber Yizkor ist grammatikalisch ein Wort der Zukunft und nicht der Vergangenheit, weil es im Futur steht. Es ist ein Versprechen, das jedes Jahr erneuert werden muss. Es ist wie ein Weckruf, der regelmäßig ertönt, damit wir es uns nicht zu bequem machen und anfangen zu vergessen.

Die Idee scheint wie ein Paradox, weil sie gleichzeitig Zeit trennt und Zeit vereint. Genau deshalb hat sie solch eine Wirkung. Erinnerung funktioniert nur wenn man sich erlaubt, die Schreie der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft zu hören. Keine Zeit existiert für sich ohne den Einfluss der anderen.

Ich bin jung und habe mein ganzes Leben vor mir. Ich kann nicht vergessen, was während des Anschlags passierte. Der Anschlag wird ein Teil meiner Erinnerungen bleiben. Solange ich am Leben bin, kann ich darüber schreiben, was ich erlebt habe. Aber ich leihe meine Stimme nicht nur den sechs Millionen, die nicht mehr sprechen können, sondern auch den Opfern und Überlebenden, die nach dem Kriegsende nicht ernst genommen wurden. Dies kann ich nur tun, weil ich überlebt habe.

Das Schweigen zu Antisemitismus und Rechtsextremismus muss gebrochen werden. Dazu muss die Mehrheitsgesellschaft beitragen.

Zwei Anschläge sind schon zu viel. Lassen Sie es nicht mehr sein.


„Mindestens ein Mensch ist hier schuldig. Aber Verantwortung trägt die ganze deutsche Gesellschaft.“

Schlusswort von Jeremy Borovitz

Der berühmte amerikanische Rabbiner Abraham Joshua Heschel schrieb im 20. Jahrhundert einmal über seine Arbeit für die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten: „In einer freien Gesellschaft sind einige schuldig – aber alle tragen Verantwortung.“ Während dieses Prozesses habe ich zunehmend ein Verständnis dafür entwickelt, was das bedeutet.

Vor dem Anschlag in Halle hatte ich Sorge, auf der Straße die Kippah zu tragen. Seit dem Anschlag in Halle trage ich die Kippah fast überall. Und ich werde jeden Monat mehrfach mit Antisemitismus konfrontiert: meist in Form hasserfüllter Kommentare unter Bezugnahme auf Stereotypen oder Israel oder – am häufigsten – den Widerhall des Nationalsozialismus, gelegentlich auch in Form von offen gezeigter Aggression.

Dabei muss ich sagen – es sind gar nicht diese Bemerkungen, die mir am meisten zu schaffen machen. Ja, es zermürbt mich. Manchmal zehrt es an den Kräften. Aber was mir wirklich keine Ruhe lässt, ist die Tatsache, dass mir nur ein Mal nach einer solchen Bemerkung jemand zu Hilfe gekommen ist.

Ja, natürlich, manchmal ist niemand in der Nähe, der solche Äußerungen hören kann. Aber in den meisten Fällen habe ich doch das Gefühl, dass die Umstehenden so etwas gar nicht wahrnehmen wollen. Sie wollen nicht hineingezogen werden, schließlich ist es nicht ihr Problem. Außerdem ist ja gar nichts passiert. Denn es waren ja nur Worte – niemand wurde körperlich verletzt.

In seinem Schlussvortrag stellte der Staatsanwalt die Frage: Was ist in der Erziehung des Täters schiefgelaufen? Ich möchte das so beantworten: Hat ihm denn jemals jemand deutlich gemacht, dass die Dinge, die er sagte, falsch waren? Ist ihm irgendjemand aus seiner Familie oder seinem Freundeskreis jemals im Hinblick auf seinen Hass, seine menschenverachtenden Überzeugungen entgegengetreten? Gewalt entsteht nicht einfach so aus dem Nichts – sie schwelt im Inneren, baut sich auf. Je mehr dieser Täter mit seinen Bemerkungen durchkam, desto näher kam er der aktiven Umsetzung seiner schrecklichen Ideologie und abscheulichen Überzeugungen.

In meiner Zeugenaussage habe ich mich zum Teil auf das Vorgehen der Polizei an jenem Tag in Halle konzentriert – und zwar deshalb, weil es genau diese ganz normalen Deutschen – Polizeibeamte, Fahrgäste in der U-Bahn oder Besucher in einem Café – sind, die die Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus und Hass beenden müssen.

Als an jenem Tag die Polizei kam und uns eher als Verdächtige denn als Opfer behandelte, machte sie aus den Ereignissen dieses Tages einen außerhalb ihrer Vorstellungswelt liegenden Ausreißer. Es war eine Erweiterung einer klassischen deutschen Strategie: „So etwas kann hier nicht passieren.“ – Genau in dem Moment, als es tatsächlich hier passierte. Die bloße Vorstellung des Anschlags an Jom Kippur war für die deutsche Gesellschaft unvorstellbar – vor, während und nach Halle. Dies steht in Verbindung mit der Weigerung der deutschen Gesellschaft, IHRE Verantwortung zu übernehmen.

Mindestens ein Mensch ist hier schuldig. So viel ist offenkundig. Aber Verantwortung trägt die ganze deutsche Gesellschaft. Die Rechtsanwälte, Richter, Polizeibeamten in diesem Gerichtssaal, die Politiker, ja sogar, die Nebenkläger – wir alle sind verantwortlich dafür, eine bessere, gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, die Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und Hass nicht nur politisch, sondern jederzeit bekämpft. Jeden Tag, jede Minute müssen wir unsere Stimme erheben: Wann immer wir etwas sehen, wann immer wir etwas hören, müssen wir uns äußern, müssen wir handeln.

Ein weiteres Halle, ein weiteres Hanau können wir nur verhindern, wenn die guten und anständigen Menschen der deutschen Gesellschaft so etwas nicht noch einmal geschehen lassen.

(Übersetzung aus dem Englischen)

„In diesem Prozess wurden wir ein ums andere Mal enttäuscht.“

Schlusswort von Jessica Wax-Edwards

Was ist der Zweck dieses Prozesses?

Wir haben ein Video, das das Verbrechen beweist, wir haben es gesehen. Ohne den geringsten Zweifel zu lassen hat der Angeklagte eingeräumt, dass er das Verbrechen begangen hat, ja sogar stolz darauf ist.

Da die „Beweislast“ aus der Gleichung gestrichen ist, herrscht in diesem Gerichtssaal ganz offensichtlich ein Gefühl von „Bringen wir es hinter uns“, es geht nicht um weitere Nachforschungen und darum, welche Fragen noch zu beantworten wären.

Doch dieser Prozess hat einen höheren Zweck und eine weiterreichende Bedeutung: die Bedingungen und Hintergründe zu verstehen und zu hinterfragen, die dieses Verbrechen überhaupt möglich gemacht haben – Bedingungen, die, wenn sie nicht thematisiert werden, weitere Verbrechen dieser Art nach sich ziehen.

Als Nebenklägerinnen und Nebenkläger versuchen viele von uns seit dem Tag des Anschlags, das Geschehene zu verstehen. Wir haben uns in aller Tiefe mit den Wurzeln der Online-Radikalisierung auseinandergesetzt, mit der drohenden und wiederauflebenden Präsenz des Rechtsextremismus in Deutschland (und der Welt), dem darin eingebetteten Sexismus, Rassismus und der hegemonialen Männlichkeit, mit allem, was hier eine Rolle spielt.

Wir sind zu unfreiwilligen Expertinnen und Experten für diese Themen geworden – trotz unserer persönlichen Betroffenheit, trotz unserer anderen Verpflichtungen. Arbeit, Studium, Familie, Freunde, von der Pandemie ganz zu schweigen. Es hätte nicht unsere Aufgabe sein sollen. Doch je weiter der Prozess voranschreitet, desto klarer wird, dass die Aufgabe dennoch bei uns verbleibt. Und wir sind müde.

Zu sehen, wie die sogenannten wahren Experten – die Staatsanwaltschaft, Teile der Nebenklagevertretung, die das Thema Ideologie nicht weiter verfolgen wollten, und allen voran Ermittlerinnen und Ermittler wie das BKA – die Möglichkeit an sich vorbeiziehen lassen, zu untersuchen, was hier genau passiert ist, nicht nur das Wie, sondern auch das Warum – es wirkte herablassend, naiv und schmerzlich kurzsichtig.

Wir haben unsere Zeit darauf verwendet, das Verbrechen zu verstehen, während sich beschämenderweise zeigte, wie die Ermittlerinnen und Ermittler die Arbeit auf ihre Kolleginnen und Kollegen abschoben, wie sie behaupteten, für so etwas nicht verantwortlich zu sein und sich weigerten, auch nur einen Deut über ihr eng gestecktes Aufgabenfeld hinaus zu ermitteln. Offensichtliche und deutliche Verbindungen zu anderen Anschlägen wie dem von Christchurch wurden abgetan.

Wenn die Beamten des BKA über ihre Ermittlungsarbeit berichteten und die Fragen des Gerichts beantworteten, war als Grundtenor ein „Ich habe nur Befehle befolgt“ zu hören. Nicht einmal ansatzweise wurde Verantwortung übernommen, die Herangehensweise ließ keinerlei Initiative oder ein breiteres Verständnis durchschimmern. Ich bin mir absolut sicher, dass ihre Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber Rechtsextremismus nicht geeignet ist, sich weiteren Verbrechen dieser Art entgegenzustellen; diese Haltung ist bezeichnend für die Ignoranz, die es dieser Art Terror ermöglicht hat, in unserer Gesellschaft zu gedeihen.

Wir haben uns ihre Entschuldigungen, ihre Versäumnisse und ihre unbeholfene Inkompetenz geduldig und schweigend angehört.

Es ist noch milde ausgedrückt, dass uns ihre unverblümte Nachlässigkeit noch mehr Schmerzen zugefügt hat; den deutschen Institutionen sollte dies Anlass zur Scham sein.

In diesem Prozess wurden wir ein ums andere Mal enttäuscht. Enttäuschend war die Unfähigkeit, die rassistische Sprache zu mäßigen, derer sich der Angeklagte bediente und die auch von einigen der Anwälte in diesem Prozess wiederholt wurde, enttäuschend war die gänzlich fehlende Verantwortlichkeit seitens des BKA, enttäuschend war der Ausschluss einiger Stimmen / Nebenklagen, und die jüngste Enttäuschung war der Kampf darum, hoch relevante Sachverständige vor diesem Gericht zu hören. Wir, die Nebenklägerinnen und Nebenkläger, haben unsererseits so viel Druck wie möglich ausgeübt, damit diese Stimmen Gehör finden, und natürlich wurden einige, nämlich die, die sich mit den weiterreichenden Folgen des rechtsextremen Terrors und dem Internet beschäftigen, nicht zugelassen.

Trotz all der Sinnwidrigkeiten, mit denen wir uns herumschlagen mussten, geht es hier nicht um uns. Aber in vielerlei Hinsicht geht es auch nicht wirklich um ihn. Ihn kann man vergessen, und tatsächlich wird er, wenn das Urteil einmal gefällt ist, mit größter Wahrscheinlichkeit vergessen werden – sogar von seinen Online-Freunden. Vielmehr geht es hier um das große Ganze, und das wird willentlich ignoriert.

Dieser Anschlag war nur einer von einer immer länger werdenden Reihe von Angriffen in Deutschland und im Westen. Es ist nur eine von vielen Gewalttaten gegen Minderheiten, die im letzten Jahrzehnt verübt wurden, und genau wie die Anschläge von Christchurch, Oslo und Poway zielte auch dieser darauf ab, bejubelt und nachgeahmt zu werden. Er war zielgerichtet in der Planung, in der Verunglimpfung der Opfer, der Ermittler, des Gerichts. Er richtete sich direkt an eine globale Community, die für ihre toxische Männlichkeit und ihren Rassismus bekannt ist. Es war ein Anschlag wie aus dem Lehrbuch und ein klares Produkt der Imageboard-Kultur. Das Versagen des deutschen Staates, all dies zu erkennen, macht alles noch verwerflicher und ist schlicht und einfach erbärmlich.

Wie kann es sein, dass die zahlreichen Verbindungen zu Christchurch abgetan werden, nur weil der Angeklagte sich zu seiner Ideologie weniger umfangreich äußerte, oder, wie der BKA-Beamte sich ausdrückte:

Hier lässt sich feststellen, dass der Attentäter von Christchurch umfangreich schreibt… Das ist im pre- action report nun nicht der Fall…

Als würde dieselbe rassistische Ideologie weniger Schaden anrichten, wenn sie knapper oder weniger wortgewandt ausgedrückt wird.

Wie kann es sein, dass Ermittler ohne Kenntnisse der Gaming-Kultur eingesetzt wurden, um genau diese zu untersuchen?

Dieser Anschlag wurde weithin als einer der schlimmsten antisemitischen Angriffe der Nachkriegszeit begriffen, und soweit ich das beurteilen kann, bestand die Antwort des BKA darin, unerfahrene Hochschulabsolventen auf den Fall anzusetzen.

Bezüge auf Memes und Insider-Witze wurden nicht verstanden, weil eine oberflächliche Einschätzung laut Vertretern des BKA „ausreichend“ zu sein schien.

Die Inkompetenz des BKA ist so offensichtlich, dass der Angeklagte den Beamten und ihrem mangelnden Verständnis direkt ins Gesicht lachte.

Wie kann ein Mann sein eigenes Waffenarsenal bauen, zwei Menschen umbringen, zahlreiche weitere verletzen und zu ermorden versuchen, ohne dass seine Motivation, das Umfeld, das ihn geprägt hat, minutiös analysiert werden?

Ganz ehrlich: Die Nebenklägerinnen und Nebenkläger und das Recherche-Team, die die Timemap zum Anschlag von Halle zusammengestellt haben, haben bessere Arbeit geleistet – mit ehrenamtlicher Arbeit, Zeit und Ressourcen.

Dieser Prozess hat nur offengelegt, wie veraltet das Verständnis darüber ist, wie Einzelne sich radikalisieren und wie die extreme Rechte sich organisiert – sichtbar daran, wie das Gericht sich darauf fixiert hat, eine persönliche Interaktion außerhalb des Internet zwischen dem Täter und Neonazi-Gruppen aufzuspüren. Als sich nichts dergleichen feststellen ließ, wurden keine weiteren Anstrengungen unternommen, die Community zu verstehen, die den Täter hervorgebracht und ermutigt hat.

Jetzt, wo wir alle unsere Leben in den Online-Raum umsiedeln – wie kann es diesem Saal so unverständlich sein, dass ganze Gemeinschaften und soziale Identitäten ausschließlich online existieren und schon lange vor Corona auf diese Art existiert haben?
Er ist ganz offensichtlich Teil einer Gemeinschaft.

Diese Gemeinschaft hat eine definierte Sprache und Kultur, einen definierten Code. Sie trifft sich regelmäßig online, tauscht Ideen, Wissen und Ressourcen aus und ist gut organisiert. Es ist eine Gemeinschaft, die diesen Mann nach dem Anschlag als einen der ihren erkannt hat. Sie haben eine klare Vorstellung davon, wer dazugehört und wer nicht, und wieder und wieder haben sie bewiesen, dass sie bereit sind, ihren Ansichten Taten folgen zu lassen.

Dieser Prozess hätte die internationalen Netzwerke des Rechtsextremismus aus dem Schatten zerren können, die weiterhin in Deutschland agieren. Der Prozess hätte uns helfen können, als Gesellschaft eine Antwort auf extremistische Gewalt zu finden. Eine Antwort, die über „nie wieder“ hinausgeht. Es passiert, immer und immer und immer wieder, und es sind keine isolierten Einzelfälle, auch wenn sie als solche behandelt werden.

Wir haben hier gesehen, dass sich das System lieber auf das bequeme Bild der Juden als Opfer und des isolierten Neonazis am Rande der Gesellschaft zurückzieht. Schwarze und muslimische Stimmen werden nur widerstrebend gehört, nur widerstrebend werden sie mit derselben Wichtigkeit und derselben Geltung behandelt, wird der Rassismus erkannt, den sie erleben.

Dieser Prozess hätte die Chance sein können, dem Rassismus in unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Den rechtsextremen Terror endlich einmal nicht kleinzureden, sondern zuzugeben, dass seine Wurzeln weit über diesen einen Mann, diesen einen Gerichtssaal, dieses Land hinausreichen.

Dieser Prozess war eine Chance, doch wie sich nach vier Monaten herausstellt, wurde diese Chance nicht ergriffen.

„In diesem Gerichtssaal, werde ich beständig daran erinnert, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind.“

Schlusswort von Talya Feldman

Mittlerweile haben wir die Plädoyers der Bundesanwaltschaft und einiger Nebenklagevertreterinnen und -Vertreter gehört, von dem Kiez-Döner, aus Wiedersdorf, Kai’s Garage, von denen, die ins Visier genommen und auf der Straße angefahren wurden, aus der Synagoge. Wir alle sind hier, um Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Formen zu finden, für diesen Tag, dieses Böse, das wir alle auf unterschiedliche Art erlebt haben.

Ich habe mich der Nebenklage zu diesem Fall angeschlossen, als mir klar wurde, dass die Bundesanwaltschaft nicht beabsichtigt hatte, die jüdischen Überlebenden aus der Synagoge, also die vorsätzlichen Ziele dieses Anschlags, als Opfer von versuchtem Mord in die Anklageschrift aufzunehmen. Zumindest anfangs nicht.

Und jetzt, nachdem dieser Mann monatelang rassistische und antisemitische Ideologien von sich gegeben hat, wurden Aftax I., Ibrahim und İsmet Tekin immer noch nicht als Opfer versuchten Mordes anerkannt – obwohl es offensichtlich ist, dass sie wegen ihrer Hautfarbe zum Ziel wurden, wegen ihrer Herkunft und wegen ihres Glaubens. Es ist unfassbar entmutigend und niederschmetternd, das zu sehen – zu sehen, dass diese Gerechtigkeit sich noch nicht eingestellt hat.

Hier, in diesem Gerichtssaal, werde ich beständig daran erinnert, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind. Wir wissen, was dieser Mann getan hat, seine Motive waren von Anfang an klar. Ich hoffe und vertraue darauf, dass sie ihn für den Rest seines Lebens einsperren. Aber er ist das Symptom einer rechtsextremen, „white supremacist“ Ideologie, die unsere Gesellschaft mit rasanter Geschwindigkeit durchdringt, in die Worte unserer Politikerinnen und Politiker und die Mainstream-Medien sickert – nicht nur hier in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Wie Conrad R., einer meiner Mit-Nebenkläger, gesagt hat: Dieser Mann hat vielleicht an diesem Tag in Halle alleine gehandelt, aber er hat nicht alleine gedacht. Und auch jetzt denkt er nicht allein.

Keine der hasserfüllten Verschwörungstheorien, die dieser Mann von sich gegeben hat, ist neu. Wir haben jede einzelne schon gehört. Und wir wissen, wohin sie führen. Wir wissen, was passiert, wenn diese Propaganda und diese Sprache sich ungehemmt ausbreiten kann. Deutschland weiß es. Ich weiß es.

Den 9. Oktober habe ich überlebt, weil die Gemeinde in Halle so gut reagiert hat, sie und niemand sonst. Im Moment des Anschlags wusste ich, dass wir tun würden, was getan werden muss, um uns gegenseitig Sicherheit zu bieten, und deswegen hatte ich keine Angst.

Aber seit ich diesem Prozess beiwohne, habe ich Angst bekommen. Und ich bin wütend geworden. Wütend über die vielen Zeuginnen und Zeugen, die völlig unbehelligt ihre beiläufigen Einstellungen zum Thema Rassismus von sich geben, wütend über ihre Weigerung, aufzubegehren, wenn herabwürdigende Begriffe gegen Minderheiten benutzt werden, wütend über ihre eigene Beteiligung in Hassgruppen und an der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts.
Wütend auf das BKA – das behauptet, es sei nicht seine Aufgabe, den Kontext zu verstehen, die offensichtliche Verbindung zwischen diesem Anschlag und anderen Formen der online und offline stattfindenden Radikalisierung herzustellen und dass damit letztendlich sagt, es glaubt nicht daran, uns alle in Zukunft vor Gewalt dieser Art zu schützen. Dass sie nicht glauben, dass White-Supremacy-Extremisten, die rassistisch und ethnisch motiviert sind, eine tödliche und beständige Bedrohung in unseren Regierungen, unseren Vollzugsbehörden, unserer Zivilgesellschaft sind – weil das nicht zu ihrer Aufgabe gehört. Und ich bin wütend auf die Polizeibeamten, die in ihren Zeugenaussagen achtlos mit rassistischen Beleidigungen und Stereotypen um sich werfen – und unverschämterweise alles aufzählen, was wir, die Überlebenden, falsch gemacht haben, statt die Schuld einzugestehen, die sie selbst daran hatten, dass so etwas passieren konnte. Wir haben nicht darum gebeten, dass uns das passiert. Und diese Wut, diesen Schmerz, diese Trauer können oder sollten wir nicht alleine ertragen. Diesen Schmerz müssen wir und sie alle ertragen.

Jana Karin Lange. Kevin Schwarze. Sagt ihre Namen. Möge der Verlust und der Schmerz ihrer Familien schwer auf euren Herzen und eurem Gewissen lasten.

An dieser Stelle möchte ich mich direkt an die Presse und die Medien wenden. Dieser Mann nutzt den Prozess als Plattform, um Hass zu verbreiten und zu weiterer Gewalt gegen uns alle aufzurufen. Er wird seine letzten Worte hier als Gelegenheit nutzen, andere zu inspirieren, so wie auch er inspiriert wurde. Machen Sie sich nicht zu Komplizen. Zitieren Sie ihn nicht. Nennen Sie seinen Namen nicht. Zeigen Sie sein Gesicht nicht. Wenn Sie es dennoch tun, tragen Sie die Schuld zu einem Kreislauf der Brutalität beizutragen, der hier und jetzt zu Ende sein muss.

Genug ist genug.

„Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem.“

Schlusswort von Christina Feist

Hoher Senat,
liebe Nebenkläger und Nebenklägerinnen, sehr geehrte Damen und Herren,

Erlauben Sie mir einen kleinen Rückblick:
Ich habe in den letzten fünf Monaten seit Prozessbeginn immer wieder Nachrichten über Social Media erhalten. Am Anfang und über den Sommer hin, waren das Nachrichten, die die Ereignisse des 9. Oktober 2019 verharmlosten, meine Wahrnehmung und Einschätzung der aktuellen politischen Situation in Deutschland in Frage stellten.
Es waren aber auch ehrlich erstaunte Nachfragen von Menschen, die in Deutschland leben und einfach nicht glauben können, dass es um die Demokratie und die offene Gesellschaft in diesem Land wirklich so schlimm bestellt ist. Das sind Menschen, die nicht wahrhaben wollen, dass rechte Ideologien in Deutschland nach wie vor Verbreitung finden, dass Antisemitismus und Rassismus auch nach der Shoah noch immer tief in dieser Gesellschaft verwurzelt sind.
Vor wenigen Wochen dann, erhielt ich die erste offen antisemitische und frauenfeindliche Hassnachricht. Aus „Was wollt ihr eigentlich, euch Juden ist doch eh nichts passiert?“ wurde ganz schnell „Fick dich, scheiß Jüdin“.
Im Juli, nach dem ersten Verhandlungstag, hatte mir eine Userin auf Facebook die Frage gestellt, ob es denn in Deutschland wirklich so schlimm sei? Diese Frage möchte ich heute noch einmal beantworten: „Ja, ist es.“

Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem. Das ist eine Realität, die wir nicht länger verweigern können. Das ist eine Erkenntnis, die spätestens dieser Prozess gebracht hat. Obwohl es diese rechten Ideologien nun schon lange gibt, wird deren Existenz dennoch immer wieder in Frage gestellt und deren Gefahr und Ausmaß verharmlost.

Auch das immer wiederkehrende Narrativ vom sogenannten armen irren Einzeltäter wurde in diesem Prozess ein für alle mal widerlegt. Allerdings nicht durch die Aussagen der Beamten und Beamtinnen des Bundeskriminalamts (BKA) und der Polizei, sondern durch die geladenen Sachverständigen Karolin Schwarze, Journalistin; Benjamin Steinitz, Vorsitzender der Recherche- und Informationsstelle für Antisemitismus; und Matthias Quent, Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena.

Anfang September hatte ich in meiner Zeugenaussage darüber gesprochen, dass ich wegen des Umgangs der Polizei mit uns Betroffenen am Tag des Attentats selbst, jegliches Vertrauen in Deutschland und den Rechtsstaat verloren habe. Daran hat sich im Verlauf dieses Prozesses bisher auch nichts geändert.

Der unglaubliche Unwille, mit dem die meisten der geladenen PolizeibeamtInnen sowie MitarbeiterInnen des BKA hier in den Zeugenstand getreten sind; und deren erschreckendes Unwissen hinsichtlich online Radikalisierung, das hier zu Tage getreten ist, haben mir die Hoffnung genommen, dass es auch besser oder zumindest anders geht.

Ich habe in den letzten Monaten sowohl hier im Gerichtssaal als auch davor immer wieder über Verantwortung gesprochen.
Der Anspruch, dass Sie, hohes Gericht, wie auch Sie alle, die Sie in diesem Saal sitzen, stellvertretend für Deutschland – und zwar für PolitikerInnen und Gesellschaft – Verantwortung übernehmen, ist fast schon unverhältnismäßig. Aber eben nur fast.

Denn genau so wie wir, sind auch Sie ein Teil Deutschlands. Wir, die Betroffenen, die Nebenkläger und Nebenklägerinnen in diesem Prozess, haben es auf uns genommen, trotz Trauma, trotz Müdigkeit und Erschöpfung, auszusprechen, was die Mehrheit da draußen nicht wahrhaben will: Der Angeklagte ist kein Einzeltäter.

Das Attentat vom 9. Oktober 2019 war kein Einzelfall.
Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit sind keine neuen Erscheinungen und erst recht keine Missverständnisse, sondern Teil einer rechtsradikalen Ideologie, die die Demokratie fortwährend gefährdet.

Wer sich diesen Realitäten nicht stellt, bagatellisiert Gefahr und Ausmaß rechter Ideologie.
Wer diese Realitäten weiterhin stur verneint, verharmlost die Niederträchtigkeit eines Attentats, wie dem in Halle, und verhöhnt damit in letzter Konsequenz auch die Betroffenen und Hinterbliebenen. So kann es nicht weiter gehen.

בס“ד
„Was aus dem Elend jenes Tages erwuchs, ist Solidarität.“

Schlusswort von Naomi Henkel-Guembel

„Es gibt eine Bedeutung jenseits der Absurdität“ – ich wünschte, diese Worte wären meine – aber es sind die von Rabbiner Abraham Joshua Heschel, einem der vielen großen jüdischen Denker und Rabbiner, die aus Deutschland fliehen mussten, um der Shoah zu entkommen. Jemand, der zu einem vehementen Kämpfer für die Menschenrechte wurde. Diese Worte – sie wurden schließlich zu meinen.

Was an diesem Tag, am 9. Oktober 2019 geschah, ist unverständlich. Es ist nicht verständlich, nicht für Sie, Senat. Nicht für uns die Betroffenen. Und nicht für die Familien der Verstorbenen. Nicht einmal für den Typen dort drüben. Oder um es anders zu sagen: Was an jenem Tag geschah, ist absurd – es widerspricht jeglicher Vernunft oder dem gesunden Menschenverstand.
Niemand, aber auch wirklich niemand, sollte um sein Leben fürchten – weder aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Identität, Glaubens oder wen diese Person liebt. Und in der Phantasie der Angeklagten wären wir alle ohnehin tot – und doch sind wir noch am Leben.

Wir. Wir sind am Leben. Und wir trauern um die verlorenen Leben von Kevin Schwarze und Jana Karin Lange. Diese verlorenen Leben – sie sind Teil der Narben, die wir von diesem Tag mit uns tragen.
Aber was tun wenn die Absurdität weitergeht? Wie eine Spirale windet sich die Absurdität immer tiefer und tiefer und die Zahl der Fragen wird immer größer und größer. Die Ereignisse von jenem Tag – sie prägen nun unseren Blick auf die Welt von jetzt an. Wie wir in den Zeugenaussagen gehört haben, hat jeder von uns diesen Tag anders erlebt – und doch haben wir alle gemeinsam, dass dieser Tag uns geprägt hat. Er hat uns gekennzeichnet. Und das tut er bis heute.
„Wie konnte es nur zu diesem Angriff kommen?
Wie konnte es überhaupt einen Zweifel daran geben, dass ich Opfer eines Mordversuchs war?
Wie kann ich von hier aus weitermachen?
Kann ich diesen Ort wirklich „mein Zuhause“ nennen?
Wie kann weniger als fünf Monate später ein weiterer Anschlag stattfinden, der neun Menschen das Leben kostete – ist die Kontinuität des Hasses und Rassismus nicht offensichtlich?
Wie kommt es, dass mein Schmerz nicht gesehen wird?“

Diese Fragen. Das sind nur einige wenige ausgewählte Fragen. Einigen von Ihnen werden sie vielleicht bekannt vorkommen. Wir sollten nicht nur danach streben, Antworten auf diese Fragen allein zu finden, sondern darüber hinaus nach Bedeutung suchen. Nach einem Sinn.

Aber wie macht man das?


„(…) Hüte Dich und pass gut auf Dich auf, damit Du die Dinge, die deine Augen gesehen haben, nicht vergisst und sie Dir nicht aus deinem Herzen Zeit Deines Lebens; vielmehr teile sie mit deinen Kindern und deinen Kindeskindern.
(Deuteronomium 4,9)“.

Ich zitiere hier diesen Vers aus der Torah, weil ich der Meinung bin, dass er allgemein wahr ist – unabhängig davon, woran Sie glauben, woher Sie kommen und wirklich unabhängig von jeglichen biographischen Merkmalen. Wir alle tragen die Verantwortung, nicht zu vergessen.
Nicht zu vergessen, was in diesem Gerichtssaal im Zuge unseres Strebens nach Gerechtigkeit geschehen ist. Und für diejenigen, die diesen Tag miterlebt haben sind es die Ereignisse, die uns hier in diesem Saal haben versammeln lassen.
Jedoch muss man, um nicht zu vergessen, ihnen eine Bedeutung geben. Man muss einen Sinn finden.
Dieser Vers. Er zeigt im Wesentlichen, warum ich mich entschlossen habe, Nebenklägerin zu werden: Aus einem Gefühl der Verantwortung heraus – gegenüber der Marginalisierten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Gegenüber meinen Großeltern, die zu eingeschüchtert waren, um ihr Recht einzufordern. Gegenüber den Menschen in meinen Communities und außerhalb von ihnen: Ich möchte, dass sie es wagen, Gerechtigkeit ein zu fordern, wo es Gerechtigkeit bedarf.
Es war zunächst nicht klar, ob die 50 Personen, die an diesem Tag mit mir in der Synagoge waren, ob wir, als Opfer eines Mordversuchs betrachtet werden würden. Über Monate waren wir in der Schwebe und in dieser Ungewissheit. Jetzt sind es İsmet Tekin und Aftax I., die sich in dieser Ungewissheit befinden – auch wenn die Beweise offensichtlich sind. Es zu bezweifeln, erscheint absurd, jenseits aller Vernunft, wie Illil Friedman, Onur Özata und İsmet Tekin selbst während des Prozesses und in ihren Schlusserklärungen immer wieder dargelegt haben.
Ich bin jedoch auch aus einem Gefühl der Verantwortung mir selbst gegenüber der Nebenklage beigetreten – ich möchte nicht, dass die Ereignisse des 9. Oktober 2019 über mich herrschen. Und mein Leben diktieren. Vielmehr wollte ich alle Facetten des Angriffs verstehen und wissen, was ihn ermöglicht hat – all das, um zu heilen. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, das Narrativ dessen, was an diesem Tag geschah, mitzugestalten.
Ich habe deshalb an fast allen Verhandlungsterminen teilgenommen. Ich habe dadurch gesehen, wie Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus sich hier, in diesem Gerichtssaal, abgespielt haben. All diese unverblümten und offensichtlichen Äußerungen, aber auch die kleinen Handlungen, Interaktionen und Wortwechsel.
Diese Momente. Sie waren schmerzhaft, qualvoll und Kräfte zerrend. Nicht selten hinterließen sie ein Gefühl der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Sie weckten Erinnerungen an diesen Tag. Und die Frage, ob sich die ganze Mühe überhaupt lohnt. An solchen Tagen konnte man mich sehen, wie ich dem Verfahren zuhörte, während ich meine Seele mit den Worten des Buches Esh Kodesh, das heilige Feuer, von Rabbi Kalonymus Kalman Shapira beruhigte, der versuchte, in Zeiten großen Elends im Warschauer Ghetto bei seinen Anhängern Hoffnung zu wecken.

„Im Angesicht von Tod und Trauer habe ich die Kraft gefunden, Glückseligkeit zu finden und habe auch andere zur Freude inspiriert. Als andere meine Fassung und Seligkeit trotz so großer Schwierigkeiten beobachteten, fanden auch sie durch mein Beispiel innere Stärke angesichts ihrer eigenen Schwierigkeiten. Diese innere Stärkung wird selbst die Wirkung haben, Böses in Gutes zu verwandeln“.
– R‘ Kalonymus Kalman Shapira, Esh Kodesh, Predigt vom 21. September 1940.

Auch wenn wir unterschiedlichen Umständen befanden, so komme ich doch immer wieder auf diese Worte zurück. Diese Worte – sie treffen nicht nur auf mich zu, sondern sie spiegeln vielmehr die Stärke, die Entfaltung und die Solidarität wider, die viele der Mitkläger in den vergangenen Monaten an den Tag gelegt haben. Allen Widrigkeiten zum Trotz.
Wir haben einander zugehört und sind näher zusammengerückt. Wir haben Allianzen gebildet und stehen füreinander ein.
Was aus dem Elend jenes Tages erwuchs, ist Solidarität.
Wir lernen immer noch, wie wir mit diesen Narben leben können – an manchen Tagen gelingt es uns besser als an anderen.
Dieser Lern- und Heilungsprozess – er wird mit diesem Gerichtsprozess nicht zu Ende sein. Ich möchte bei dieser Gelegenheit meinen guten Freundin und Mitklägerin, Talya Feldman, zitieren:
„Einige von uns hatten die Chance, unserem Angreifer vor Gericht gegenüberzutreten, andere nicht. Einige von uns haben sich dafür entschieden, direkt mit diesem Übel zu sprechen, und einige haben sich dafür entschieden, auf unterschiedliche Weise zu sprechen – durch Familie, durch Musik, durch Schreiben, durch Kunst. (…) Einige von uns haben Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Facetten gefunden, und einige von uns kämpfen immer noch für diese Facetten.
Die Gewalt, deren Zeuge wir geworden sind, sie lastet auf unseren Herzen, aber auch auf unseren Gemeinschaften und auf unserem Land.

Aber wir sind hier, wir bleiben hier, und wir werden weitermachen“.

Ich möchte da enden, wo ich begonnen habe:

Es gibt einen Sinn jenseits der Absurdität. Seid Euch sicher, dass jede kleine Tat zählt, dass jedes Wort Kraft hat und dass wir alle unseren Teil dazu beitragen können, die Welt zu verbessern, trotz aller Absurditäten, aller Frustrationen und aller Enttäuschungen. Und vor allem denkt daran, dass der Sinn des Lebens darin besteht, das Leben so zu leben, als wäre es ein Kunstwerk“.

Diese Worte waren einst Heschels, doch nun wurden sie zu meinen.
Und ich hoffe aufrichtig, dass sie auch zu Ihren werden.
Dass sie zu Ihren werden – während wir versuchen dieses Böse in etwas Gutes zu wandeln und uns weiterhin für eine gerechtere und offene Gesellschaft einsetzen.

„Bei dem Attentat hat es mich als Jüdin getroffen. Aber die vom Angeklagten repräsentierte Gesinnung trifft mich auch als Migrantin, als Frau und als Teil der deutschen Gesellschaft (…).“

Schlusswort von Anastassia Pletoukhina

Sehr geehrte Damen und Herren,
Verehrte Richterinnen und Richter,
Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage
Betroffene
Sehr geehrte Vertreter_innen der Öffentlichkeit

Seit dem 9. Oktober 2019 habe ich verschiedene Phasen des persönlichen Zustandes, öffentlichen Verhaltens und Vertrauens in unsere Demokratie und meiner Einstellung zu dem kollektivierenden Begriff „WIR“ durchlaufen.

Die erste Phase war durch das Überleben gekennzeichnet. Wir haben den Anschlag überlebt und haben noch Monate danach das Adrenalin in unseren Adern gespürt, das immer wieder mich persönlich dazu getrieben hat, lauthals zu schreien: „Uns zermürbst du nicht, verfluchter Antisemitismus“, „Uns kriegst du nicht klein“ „Wir gehen stärker daraus, als wir davor waren“, „und nein! Wir haben keine Angst“- haben wir und auch ich laut in jedes uns vorgehaltene Mikrophon fast wie ein Mantra immer wieder gesagt. Dann im persönlichen Setting unter einander waren es die gängigen Fragen: „Und, wie sieht es aus mit den Panikattacken? Ist es immer noch schwer in engen Plätzen zu sein? Kannst du inzwischen wieder gut schlafen? Hast du schon eine gute Therapeutin oder Therapeuten gefunden? Passt du denn auf dich gut auf?“ Zusammen haben wir geschwiegen und gelegentlich zusammen schweigend geweint.

Doch dann traten andere Phasen ein. Ein emotionales Tief, Realisierung dessen, was mit uns geschehen ist, Wiedereingliederung in den Alltag, die immer noch schrittweise vorangeht, Reaktionen der Nächsten und der Öffentlichkeit.

Ich habe es beobachtet, wie für einige Betroffene und auch für mich es persönlich schwer wurde, mit Freund_innen und auch mit den Eltern über die Geschehnisse vom 9. Oktober zu reden. Alle haben so unterschiedliche Gefühle gehabt, mit denen wir dann doch jeweils alleine waren. Ich suche immer noch Worte für meine Gefühlslage und wie sie sich in meinem Alltag manifestiert.

Doch am meisten verstörend fand ich den Versuch vieler meiner Bekannten so zu tun, als ob der Anschlag sich nicht ereignet hätte oder er nicht etwas war, was Menschen mit echtem Leben, echten Plänen für die Zukunft betroffen hätte. Als ob er nicht Personen betroffen hätte, die sie persönlich kennen. Irgendwann wurde mir klar, dass es die Angst ist, die diese Menschen stumm macht. Angst zu fühlen, Angst zu fragen, Angst zu hinterfrage: sich, die eigene Familiengeschichte, die Gesellschaft und das berühmte „Nie wieder“. „Ist das „Nie Wieder“ doch zu einem „Schon Wieder“ mutiert, während wir geschlafen haben?

Auch ich habe Angst vor dieser und vor allem vor der letzten Frage. Ich bin aber schon geübt, um genau diese Angst zu artikulieren. Ich habe eine Sprache dafür und Erfahrung sie zu benutzen. Ich weiß diese Fragen an mein Umfeld und die Gesellschaft zu stellen. Nun ist es an der Zeit, dass auch anderen diese Sprache für sich finden, sich ihren Ängsten stellen und es lernen, diese zu artikulieren, bevor sie zu Verleugnung und Hass mutieren.

Die Gruppe der Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge ist im vergangenen Jahr medial und gesellschaftlich sowohl in Deutschland, aber auch darüber hinaus sehr aktiv und präsent gewesen. Auch ich habe dieses Sprachrohr genutzt, um genau über die soeben erwähnten Ängste zu sprechen. Doch nicht nur zu reden ist mir wichtig, sondern nach Handlungsansätzen zu suchen und Vorschläge zu machen, wie wir das Schulsystem optimieren können, wie die Polizei sich noch bessern kann, was von der Politik zu erwarten wäre. Es waren uns allen unterschiedliche Themen wichtig, doch eines hatten wir gemeinsam: die Wahrnehmung des Unrechtes zu verstärken, das sowohl uns als Juden und Jüdinnen widerfahren ist, aber auch uns als Migrant_innen, Frauen, Personen, die von Rassismus betroffen sind und als Mitgliedern der Gesellschaft, in der es möglich war. Für mich persönlich reihte sich dieses Ereignis in bereits seit Jahren bestehende Muster des rechten Terrors, das in Wellen mal aggressiver mal subtiler doch immer in meiner Wahrnehmung präsent war. Sowohl für mich als Jüdin aber auch für eine Person mit einem unmissverständlich slawisch klingenden Namen.

Ja, wir sind leider Expert_innen in Fragen Benachteiligung und Ausgrenzung. Wir haben als Bürger_innen dieser Gesellschaft schon 1000 Mal überlegt, was sich ändern kann, doch wer hörte uns wirklich zu?

Und doch schien der Anschlag vom 9.Oktober ein Wendepunkt zu sein. Leider wurde die Brisanz des rechten Terrors erst durch den Anschlag in Hanau vom 19.2.2020 wirklich deutlich und konnte nicht mehr auf die Einzelfälle reduziert werden.

Ich bin zwar Sozialwissenschaftlerin, aber auch sehr praktisch orientierte Sozialpädagogin und die wichtigsten Fragen sind für mich immer: Und jetzt? Was machen wir damit? Wie wenden wir die Erfahrung an, welche Schlüsse ziehen wir daraus und machen unsere Gesellschaft zu einem gerechteren Miteinander?

Dieser Prozess ist für mich eine Möglichkeit, geschlossen gegen die Unmenschlichkeit aufzustehen; eine Gelegenheit, einige verantwortungstragenden Systeme des Staates zu Empathie aufzufordern, gegen die Objektivierung der Betroffenen entgegenzuwirken, Kontinuität der Gewalt, des Wegschauens und des Relativierens auf allen gesellschaftlichen Ebenen aufzuzeigen.

Mir als in Deutschland lebende Person ist es bei dem Prozess nicht nur die Verurteilung des Angeklagten wichtig, sondern auch die Aufdeckung von strukturellen Schieflagen und Schwachstellen, die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Alltäglichkeit des Antisemitismus, Rassismus, Chauvinismus und vor allem für den leider allgegenwärtigen Mangel an Empathie für einander, Mangel an Kritikfähigkeit und Reflexionsvermögen über das eigene Handeln, und beständige Angst zu fühlen und mitzufühlen, die eigene Familiengeschichte zu reflektieren. Ein ständiger Versuch sich hinter politisch korrekten Aussagen zu verbarrikadieren und just im selben Moment sie zu verraten, indem nicht entsprechend gehandelt wird.
Ja, es ist schmerzhaft, aber da müssen wir als Gesellschaft durch, wenn wir unsere demokratischen Werte erhalten wollen.

Wir sprachen von Erinnerungskultur, Lippenbekenntnissen der Politik und Dominanz der Gehorsamkeit der Obrigkeit gegenüber, die häufig an Stelle des Mitgefühls dem Individuum tritt.
Diese Erscheinungen sind maximal entfernt von dem Menschen und vom „Sehen“ eines Menschen. Dabei haben wir im Laufen des Prozesses feststellen können, wie komplex die Biografie eines Menschen ist und wie viele Ereignisse, Personen und Umstände dazu führen, dass einer zur derartigen Handlung greift, die im Zentrum dieses Prozesses steht. Ich bin Biografieforscherin und betrachte die Biografien der Einzelnen als eine individuelle Entwicklung im Kontext der Gesellschaft in der die Biografieträger_in lebt, sich bewegt und handelt. Eine Biografie kann ein Lackmusstreifen für die gesellschaftlichen Entwicklungen sein und uns genau zeigen, woran wir in der Gesellschaft in der wir leben, sind. Jede Biografie ist wichtig und auch die vom Angeklagten hat Regelmäßigkeiten aufgezeigt, die seine Handlung, seine Entwicklung, aber auch Einflüsse von außen und die Rahmenbedingungen erklären, die letztendlich zum Attentat führten. Die Rahmenbedingungen und die strukturellen Einflüsse sind aus meiner Sicht genau die Stellen, an denen wir gesellschaftlich ansetzen können und müssen.

Ich werde regelmäßig gefragt, was es für mich als Person mit einer jüdischen Biografie bedeutet jüdisch zu sein. Es bedeutet für mich jeden Tag mich zu entscheiden nach dem jüdischen Gesetz zu leben und im öffentlichen Raum als Jüdin aufzutreten. Ich entscheide mich jeden Tag Jüdin zu sein, was schöne Traditionen und eine starke Gemeinschaft bedeutet, aber auch diversen Ausprägungen von Ressentiments und Hass entgegenzutreten.

Mehrfach wurden die Nebenkläger_innen nach ihren Aussagen im Gericht gefragt, ob sie denn auch weiterhin in Deutschland leben bleiben möchten. Die Frage richtete sich dabei in erster Linie an jüdische Nebenkläger_innen, so als ob es nur für die Juden und Jüdinnen eine Frage der Möglichkeit ist. Beinahe eine Erwartung, dass sie es sich noch einmal überlegen. Oder die Angst, dass sie es sich noch einmal überlegen? Die berühmten gepackten Koffer.

Ich habe von diesem Prozess erwartet, dass er berührt. Menschen, die ihn entweder eng verfolgen oder auch nur ab und zu etwas in den Nachrichten oder auf Social Media mitbekommen, zum Mitfühlen und Nachdenken bringt, in welcher Gesellschaft wir leben, und welche Verantwortung jede und jeder von uns in dieser und für diese trägt.

Bei dem Attentat hat es mich als Jüdin getroffen. Aber die vom Angeklagten repräsentierte Gesinnung trifft mich auch als Migrantin, als Frau und als Teil der deutschen Gesellschaft, die so vielfältig und divers ist, dass jede und jeder von uns irgend einer Minderheit gehören kann, die unter Umständen für Benachteiligung markiert werden kann. Fragen wir dann alle Angehörige der Gesellschaft: „Wollt ihr nach dem Attentat in Deutschland bleiben“?

Ich spreche für mich und sage: Ja, ich will hier in diesem Land bleiben. Ich stelle aber einige Bedingungen. Und sie lauten: Zuhören, Ernstnehmen, reflektieren, Fehler bekennen und im Sinne der Demokratie handeln. Doch in erster Linie den Menschen sehen und keine Angst vor dem Mitfühlen haben.

„Wir glauben, dass die Seelen von beiden Mordopfern – Jana und Kevin – bei diesen Festen des Lichtes uns von Himmel leuchten werden.“

Schlussstatement von Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle

Hohes Gericht, sehr geehrte Damen und Herren,

in den Plädoyers der Bundesanwaltschaft sowie der zahlreichen Nebenkläger wurde bereits Vieles über die abscheuliche Tat sehr zutreffend gesagt. Ich möchte gern Wiederholungen vermeiden, obwohl das nicht einfach ist. Ein Mord ist ein Mord und ein Mörder ist und bleibt ein Mörder.

Für mich persönlich war es wichtig zu verstehen: Worin liegt die Quelle dieses bestialischen Hasses gegen die Juden bei dem Angeklagten? Und: War er wirklich ein Einzeltäter oder hatte er Mitwisser, geistige Unterstützer oder sogar Komplizen?

Ich meine jetzt Antworten zu haben. Es wird behauptet, dass er sich im Internet in anonymen Online-Foren radikalisiert habe und, wie er selbst einmal sagte, im Jahr 2015 verstanden habe, dass man „die weiße Rasse schützen müsse“. Nach meiner Überzeugung liegt der Ursprung für diesen Hass weder im Internet noch in den Ereignissen vor fünf Jahren. Die Quelle ist die Familie des Angeklagten. Sicherlich steht der Mutter und dem Vater ein Zeugenaussageverweigerungsrecht zu. Es ist schade, dass die Eltern, insbesondere die Mutter, von diesem Recht Gebrauch gemacht haben. Somit haben sie möglicherweise verhindert, zumindest bisher, eine detaillierte Aufklärung zu bieten, wie ein Kind in familiärer Umgebung zu einem Mörder voller Hass und Verschwörungsmythen werden konnte. Ich hoffe dennoch, dass der Rechtsweg für die Klärung der Rolle der Eltern und dementsprechend das einschließende Ahnden nicht ausgeschöpft ist.

Der Attentäter wollte in seinem Hassgewand eine „weiße Rasse“ schützen – was auch immer er unter diesem Begriff verstehen möge. Dabei hat er eine unverzeihliche Spur des Leidens hinterlassen.

Es ist wichtig für ihn zu wissen: Die von ihm gehassten deutschen Juden haben für die zwei von ihm ermordeten deutschen Nichtjuden – Jana und Kevin – ein Denkmal auf dem Synagogengelände errichtet und zwei Gedenktafeln an der Mauer vor der deutschen Synagoge und vor dem deutschen Kiez-Döner angebracht, finanziert gemeinsam mit vielen weiteren deutschen Organisationen und Privatpersonen. Er soll wissen, dass sehr viele deutsche Christen, Muslime und Nichtgläubige, deutsche Weiße und deutsche Schwarze, deutsche Kinder, deutsche Frauen und deutsche Männer nach seinem Attentat den deutschen Juden ihre grenzenlose Solidarität geschenkt haben. Ihm soll bewusst sein, dass er weder jemanden geschützt noch etwas Gutes in seinem Leben vollbracht hat. Mehr noch soll ihm klar sein, dass die deutschen und nichtdeutschen Steuerzahler bisher seine Existenz finanziert haben und, wie zu erwarten ist, es auch bis zu seinem Ableben tun werden.

In zwei Tagen beginnt das Chanukka-Fest, das jüdische Lichterfest. Zwei Wochen nach Chanukkabeginn werden alle Christen Weihnachten, auch ein Lichterfest, feiern. Wir freuen uns auf beide Feste und grüßen unsere Freunde. Denn wir, die absolute Mehrheit der Menschen, mögen Licht und Helligkeit und glauben an G‑tt, der diese Welt hell und fröhlich erschaffen hat. Wir glauben auch, dass die Seelen von beiden Mordopfern des Angeklagten – Jana und Kevin – bei diesen Festen des Lichtes uns von Himmel leuchten werden.

Der Angeklagte hat einen anderen Glauben: Er glaubt an die Verschwörungen, an Hass, an Mord. Er glaubt an Dunkelheit und Finsternis. Jedem steht es frei nach seinem Glauben oder seiner Weltanschauung zu leben. Wir haben das Licht gewählt, der Angeklagte die Dunkelheit. So wird er auch in Zukunft in Dunkelheit leben müssen.

„Du darfst nicht Teil von unserer Gesellschaft sein. Wir schließen dich aus.“

Schlusswort von Conrad Rößler

Hier sind die Worte, die ich gerne dem Angeklagten, den anderen Anwesenden und jedem, der meine Ansichten zum Prozess hören möchte mitgeben will.

Es liegt in der menschlichen Natur zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden. Der eigenen und der Fremden. Beide werden ja nach Situation angepasst. Die eigene Gruppe kann die Familie, die Arbeitskollegen, der lokale Sportverein oder der Freundeskreis sein und jeder von uns versucht, seine Gruppe zu unterstützen und zu schützen. Es gibt einem das Gefühl von Sicherheit zu wissen, dass man nicht allein ist.

Du bist viel allein und hast dir von all den Gruppen, die so ziemlich größten ausgesucht. Deine Nationalität und Hautfarbe. Diese Gruppen wolltest du vor allem schützen, was dir fremd ist. Aber das Attribut, eine weiße Hautfarbe oder Deutsch als Muttersprache zu haben, ist genauso bedeutungslos wie Links- oder Rechtshänder zu sein.

Geschlecht, Sexualität, Nationalität nichts davon kann man sich aussuchen, warum misst Du ihnen also Bedeutung bei? Nur die Handlungen eines Menschen lassen Bewertung zu. Und deine Handlungen lassen uns wie folgt urteilen: Du darfst nicht Teil von unserer Gesellschaft sein. Wir schließen dich aus. Wir wollen deinen Hass nicht teilen. Wir trauern geschlossen um die Opfer deiner Ideologie, aber wir lassen uns nicht auf dein Niveau herab. Wir gestehen dir die Rechte zu, die du anderen verweigern willst. Du hast das Recht zu leben. Nur nicht mehr mit uns. Du wirst viel Zeit haben über dich und deine Ideologien zu nachzudenken. Du wirst deine Taten verarbeiten müssen. Ich hoffe ernsthaft, dass du es bereuen wirst, was du getan hast. Dass du es bereuen wirst, nicht mehr Teil von uns sein zu dürfen.

Dieser Prozess hat gezeigt, welche Ideale wir in unserer Gesellschaft leben wollen. Daher danken ich allen, die den Betroffenen ihre Kraft und Zeit geschenkt haben.

„Wer von denen, mit denen ich aufgewachsen bin, wäre auch zu so einer Tat im Stande?“

Schlussstatement von I. B.

Ich habe mich der Nebenklage angeschlossen, weil ich verstehen wollte, wie es zu so einer Tat kommen konnte. Ich wollte verstehen, wie so ein durchschnittlicher Dorfjunge zu einem hasserfüllten Mörder werden konnte.

Als die Richterin mich bei der Zeugenvernehmung gefragt hat, ob ich mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert bin, habe ich geantwortet: „Nicht, dass ich wüsste“.

Denn die Wahrheit ist, unmöglich wäre das nicht. Die Familie von meinem Vater kommt aus dem Osten, viele leben noch da. Ein paar meiner glücklichsten Kindheitserinnerung sind bei Familienbesuchen in Wallendorf bei Merseburg entstanden. Oft habe ich mich während des Prozesses gefragt, ob wir uns vielleicht als Kinder über den Weg gelaufen sind. Die Welt ist ja bekanntlich oft kleiner als man denkt.

Ab meinem 12. Lebensjahr bin ich selber auf dem Land aufgewachsen, in Niedersachsen. Viele der Beschreibungen von dem Umfeld, in dem der Angeklagte aufgewachsen ist, kamen mir extrem bekannt vor.

In einem ähnlichen Umfeld bin auch ich aufgewachsen.

So oft während des Prozesses habe ich mich an meine eigene Jugend erinnert, an die ausgrenzenden Kommentare und Witze, die so alltäglich und normal waren, dass sie einem noch nicht mal mehr aufgefallen sind. Dieser sogenannte Alltagsrassismus hat sich durch alle Gesellschaftsgruppen gezogen, ob Punks, überzeugte Antifa oder bekennende NPD-Wähler: in ihrer Sprache haben sie sich alle nicht sonderlich unterschieden.

Und so habe ich mich während des Prozesses auch oft gefragt, wer von meinen Bekannten und früheren Freunden von damals wohl letztes Jahr vielleicht den Angeklagten unterstützt hat? Hätte einer von ihnen auch hier auf der Anklagebank sitzen können? Wer von denen, mit denen ich aufgewachsen bin, wäre auch zu so einer Tat im Stande? Kenne ich vielleicht den nächsten Attentäter schon? Und folglich: was hätte ich damals besser machen können, um es zu verhindern? Wann habe ich geschwiegen, wenn ich meine Stimme hätte erheben müssen? Habe auch ich stumm schweigend daneben gestanden, während der Nährboden für solche Taten kreiert wurde?

Hätte es überhaupt einen Unterschied gemacht, wenn ich öfters widersprochen hätte? Ich weiß es nicht.

Nach dem Abitur bin ich nach Israel gezogen. Nicht überraschend hat das zum Kontaktabbruch mit vielen geführt und auch Schwierigkeiten für meine Mutter bereitet, die sich plötzlich so vielen antisemitischen Kommentaren ausgesetzt sah, dass sie bestimmte Nachbarn nicht mehr besuchen konnte.

Wenn ich nach Hause fahre, habe ich kaum Kontakt zu jemanden außer meiner Mutter.
Das ist einfach die Realität heutzutage in Deutschland.
Vielleicht ist das ein Fehler, vielleicht sollte ich mich bewusst dem aussetzten und auch entgegensetzten anstatt mich aus Selbstschutz diesem Umfeld zu entziehen? So oft während dieses Prozess habe ich mich gefragt, was das Umfeld des Angeklagten hätte besser machen können, um diese Tat zu verhindern. Ich fragte mich auch, was hätte ich damals besser machen können? Was kann ich jetzt besser machen?

Ich wünschte, ich könnte jetzt hier mit Antworten vor Ihnen stehen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich nach diesem langen Prozess verstehen könnte, wie sich der Angeklagte so entwickeln konnte. Ich wünschte, wir hätten seinen point-of-no-return gefunden: den Zeitpunkt, ab dem der Angeklagte soweit seiner Ideologie verfallen war, dass es kein Zurück mehr für ihn gab.

Und seinetwegen hoffe ich, dass er den noch nicht erreicht hat. Seinetwegen hoffe ich, dass er irgendwann fühlen wird, was er getan hat. Viele werden es naiv finden, aber ich hoffe aufrichtig seinetwegen, dass er Reue finden wird, das wünsche ich mir von ganzem Herzen für ihn.

Warum stehe ich dann vor Ihnen, wenn ich doch nur Fragen habe? Weil ich weiß, dass wir nur alle gemeinsam eine Antwort finden können – oder zumindest hoffe ich das.