„In Magdeburg wie in München: Das Urteil darf kein Schlussstrich unter die Aufklärung sein!“ – Unser Redebeitrag zur Urteilsverkündung im Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle

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Am 21. Dezember 2020 wurde das Urteil im Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle verkündet.Der Angeklagte wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. In der mündlichen Begründung des Urteils stellte die Vorsitzende Richterin Mertens zwar die Geschichten der Betroffenen in den Vordergrund, die Forderungen der Nebenkläger*innen, dass die Mordversuche an İsmet Tekin und Aftax I. juristisch anerkannt werden und dass der Anschlag selbst sowohl gesellschaftlich, als auch ideologisch und in die Kontinuitäten rechten Terrors eingeordnet werden muss, wurden nicht erfüllt. So blieb die Urteilsbegründung „mutlos, harmlos und entpolitisierend“, fasste Nebenklage-Vertreterin Kristin Pietrzyk bei der Pressekonferenz nach Ende des Verhandlungstages zusammen.

Wir dokumentieren hier den Redebeitrag, den wir in den Tagen vor der Urteilsverkündung geschrieben haben und der am Tag der Urteilsverkündung auf der Kundgebung „Solidarität mit den Betroffenen – keine Bühne dem Täter!“ vor dem Gerichtsgebäude in Magdeburg gehalten wurde.

„Wir vom bundesweiten antifaschistischen Bündnis NSU-Watch senden euch solidarische Grüße. Mit euch gedenken wir Jana L. und Kevin S., die beim antisemitischen, rassistischen und frauenfeindlichen Anschlag von Halle ermordet wurden. Wir sind mit den Gedanken auch bei ihren Angehörigen und bei den Überlebenden, die den Anschlag in der Synagoge, im Kiez-Döner, auf den Straßen von Halle und in Wiedersdorf überlebten.

Als unabhängige antifaschistische Beobachtungsstelle haben wir den Münchener NSU-Prozess beobachtet sowie diverse Untersuchungsausschüsse in den Ländern. Wir haben über das zurückliegende halbe Jahr den Halle-Prozess beobachtet und wir beobachten den wahrscheinlich im Januar endenden Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. in Frankfurt.

Vergleichen wir die drei genannten Prozesse stellen wir fest, wie unterschiedlich Gerichte mit rechten Taten und deren Betroffenen umgehen und umgehen können. Es ist unbedingt nötig, Kritik am Senat im Halle-Prozess zu üben. Etwa – um nur ein paar Beispiele zu nennen – an seinem Unwillen, die Ermöglichungsstrukturen des Attentäters, sowohl on- als auch offline, ernsthaft in den Blick zu nehmen. Oder an der lang anhaltenden Weigerung des Senats, die Tat angemessen ideologisch und in die Kontinuität des Antisemitismus und des rechten Terrors einzuordnen. Diese Einordnung mussten Sachverständige vornehmen, die auf Initiative der Nebenklage geladen wurden. Oder wir können Kritik daran üben, dass Senat Kritik an den Ermittlungen von Bundesanwaltschaft und BKA immer wieder abgewehrt hat. Oder an den zum Teil ins Groteske abdriftenden pädagogisierenden Fragen an den Angeklagten.

Wenn wir andere Prozesse in den Blick nehmen, lassen sich beim Halle-Prozess dennoch vereinzelt Verbesserungen feststellen. Die Nebenkläger*innen hatten in diesem Prozess mehr Raum als etwa in München. Im Prozess zum Anschlag von Halle bestimmen die Betroffenen, ihre anwaltlichen Vertreter*innen und solidarische Menschen viel stärker die Atmosphäre im Gerichtssaal, als dies in München möglich war. Sie wurden bei ihren Aussagen nicht harsch unterbrochen oder zurechtgewiesen, hatten Raum für berührende und kraftvolle Statements, politische Einordnungen, Solidaritätsbekundungen und Forderungen. Auf viele der Statements folgte Applaus oder – nachdem die Vorsitzende Richterin Mertens diesen untersagt hatte – stumme Ovationen im Stehen. In Magdeburg klatschen nicht die Neonazis, wie in München nach dem mündlichen Urteil.

Klar ist aber: Der Raum, den die Nebenkläger*innen hatten, wurde ihnen nicht großzügig gewährt. Dem Senat muss dafür nicht übermäßig gedankt werden. Dieser Raum wurde erkämpft. Dass es diesen Raum gibt, hat auch mit dem unermüdlichen Kampf um Anerkennung und um Aufklärung, den viele Betroffene rechter Gewalt und rechten Terrors – zum Beispiel Überlebende der Taten des NSU und Angehörige der vom NSU Ermordeten oder Überlebende der rassistischen Brandanschläge von Mölln – in den letzten Jahren geführt haben. Und diesen Raum haben sich natürlich ganz konkret die Nebenkläger*innen im Halle-Prozess selbst erkämpft. Wir erinnern daran, dass die Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge zunächst nicht als Betroffene versuchten Mordes gewertet wurden. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Aftax I. und İsmet Tekin bis heute um die Anerkennung als Betroffene eines versuchten Mordes kämpfen müssen. Den Raum im Prozess erkämpften sich viele Nebenkläger*innen, die eine beeindruckende Allianz gebildet haben, gemeinsam mit ihren aktiven und kritischen Anwält*innen.

Diese Standards, die die Nebenklage im Halle-Prozess in Bezug auf den Umgang mit Nebenkläger*innen gesetzt hat, reichen zwar nicht aus, es darf aber auch nicht hinter sie zurückgefallen werden, wenn man rechten Terror aufklären und verhindern will.

Der Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. in Frankfurt zum Beispiel tut dies immer und immer wieder: In Bezug auf den Unwillen zur Aufklärung, die Missachtung der Angehörigen und Überlebenden und das Verharmlosen und Verkleinern des Geschehenen, betrachten wir den Prozess in Frankfurt als eine Art Fortsetzung des NSU-Prozesses.

Rechte Taten lassen sich ebenso wenig isoliert betrachten wie rechte Täter Einzeltäter sind. Es ist daher wichtig, auch die zugehörigen Strafprozesse nicht isoliert zu betrachten und zum Beispiel hier in Magdeburg auch den Blick auf Verfahren wie das in Frankfurt zu richten.

Und es ist wichtig, den Blick zu richten auf eine Gesellschaft, die rechten Terror ermöglicht – auf den gesellschaftlichen Antisemitismus und Rassismus. Diesen Blick forderten auch Nebenkläger*innen hier in Magdeburg in ihren Aussagen und Plädoyers immer wieder ein. Wie Nebenklägerin Sabrina S. bezogen auf den Angeklagten sagte: „Die Gesellschaft, seine Gesellschaft, geht mit ihm gemeinsam bis zu einem Punkt und den Rest geht er dann mit seinen Freunden im Internet.“

Neue Standards wurden aber auch von der kritischen Öffentlichkeit gesetzt. Eigentlich sollte jeder Prozess, in dem Betroffene um die Aufklärung rechten Terrors kämpfen, eine begleitende Kundgebung haben wie hier in Magdeburg. Danke an die organisierenden Menschen und Gruppen dafür – das war ein starkes Zeichen der Solidarität. Die kritische Prozessbeobachtung im Halle-Prozess hat die Forderung der Nebenklage aufgenommen, den Täter nicht beim Namen zu nennen, sein Bild nicht zu zeigen und ihm keine Bühne zu geben. Auch dadurch gab es ein Umdenken in der allgemeinen Berichterstattung.

Nach wie vor ist klar, dass wir uns nicht auf den Staat verlassen können, wenn es um die Verhinderung rechten Terrors und um dessen Aufklärung geht. Deshalb nehmen wir die Solidarität und nicht zuletzt die Aufklärung selbst in die Hand.

Das heutige Ende des Prozesses darf kein Ende der Solidarität mit Betroffenen des Anschlags von Halle und allen anderen Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus und rechter Gewalt sein, kein Ende der Aufmerksamkeit, kein Ende der Aufklärung. Hier gilt wie in München: Das Urteil darf und wird kein Schlussstrich sein.

Hören wir den Überlebenden zu! Zeigen wir Solidarität!

Wir schließen mit den Worten von Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann in dessen Plädoyer: ‚Ein Urteil ist ein Urteil, nicht mehr und nicht weniger. Die Aufgabe, diese Ideologie zu bekämpfen, die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln, wie es im Schwur von Buchenwald formuliert wird, wird außerhalb dieses Gerichtssaals zu erfüllen sein.'“