📨 NSU-Watch: Aufklären und Einmischen. Der Newsletter #2

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Wir melden uns einmal im Monat mit unserem Newsletter „Aufklären & Einmischen“ bei euch. Passend zum Titel des Newsletters findet ihr im ersten Teil – Aufklären – Berichte zu unserer Arbeit. Außerdem werfen wir einen Blick auf aktuelle Ereignisse im Themenfeld rechter Terror und seine Aufarbeitung. Im zweiten Teil des Newsletters wird es praktisch: Einmischen. Wir sammeln für euch aktuelle Termine beispielsweise für Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, an denen ihr euch beteiligen könnt. Hier könnt ihr euch für den Newsletter anmelden.

Wenn ihr genauer wissen wollt, was euch erwartet, könnt ihr hier die aktuelle, zweite Ausgabe des Newsletters in der Webversion nachlesen. (Aus technischen Gründen wird der Newsletter hier grafisch leicht abweichend von der Mail-Version dargestellt.)

Willkommen zur zweiten Ausgabe unseres monatlichen NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“!

Hallo,

willkommen zur zweiten Ausgabe unseres monatlichen NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“! Zu Beginn jedes Monats geben wir euch einen Überblick darüber, was gerade in den Themenbereichen NSU-Komplex und rechter Terror wichtig ist. Unser Newsletter ist kostenlos und wird es auch bleiben. Trotzdem sind wir für unsere Arbeit auf eure Unterstützung angewiesen, mehr dazu findet ihr auf unserer Spendenseite.

Auch letzten Monat haben wir unsere Prozess- und Untersuchungsausschuss-beobachtungen fortgesetzt. Davon berichten wir euch im ersten Teil des Newsletters: Aufklären!

  • Der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus hat sich dem unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş am 5. April 2012 zugewandt. Können die Abgeordneten hier endlich für mehr Aufklärung sorgen?
  • Auch in Mecklenburg-Vorpommern steht ein neues Thema auf der Agenda des dortigen NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses: Der Nordkreuz-Komplex. Sachverständige machten klar, dass die Ermittlungen in diesem Komplex so auseinandergezogen und verschleppt wurden, dass es kaum Konsequenzen für das rechte Terrornetzwerk gab, das sich selbst als „Prepper“ verharmloste.
  • Im Prozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund haben zwei der fünf angeklagten Polizist*innen ausgesagt. Von Reue keine Spur. Die tödliche Gewalt bleibt für sie Teil eines „normalen“ Einsatzes.
  • In der Nacht vom 10. auf den 11. September 2010 detonierte vor dem Eingang der Caritas-Unterkunft in Graz ein Sprengsatz. Nun, über 13 Jahre später, standen drei Männer vor Gericht und wurden diesbezüglich freigesprochen. Von der erhofften Aufklärung des rassistischen Anschlags ist man nach dem dreitägigen Prozess weiter entfernt als zuvor.
In „Gut zu wissen“ geht es wie immer um Aktuelles aus den Themenbereichen rechter Terror und Antifaschismus:

+++ Endlich: Combat18 vor Gericht +++
+++ Erster Prozess gegen die Patriotische Union gestartet +++
+++ Urteile im Stuttgarter Prozess zur Gruppe S. +++

Im zweiten Teil des Newsletters wird es wieder praktisch: Einmischen! Wir sammeln für euch aktuelle Termine beispielsweise für Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, an denen ihr euch beteiligen könnt.

Wir gedenken im Mai dem Brandanschlag von Solingen in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 und Dr. Walter Lübcke, der am 1. Juni 2019 ermordet wurde.

Die Termine des Monats findet ihr am Ende des Newsletters.

Kein Schlussstrich!
Eure Antifaschist*innen von NSU-Watch

Endlich mehr Aufklärung zum Mord an Burak Bektaş? 

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus beschäftigte sich bis April 2024 mit der Vernehmung von Polizeibeamt*innen zu der jahrelangen neonazistischen Tatserie, die der Ausschuss untersucht. Einen Überblicksartikel über die Aussagen findet ihr auf unserer Webseite: „Also wir waren alle toll“ – Die Aussagen von Polizeibeamt*innen im Neukölln-Untersuchungsausschuss.

Seit der 28. Sitzung beschäftigt sich der Ausschuss nun mit den Ermittlungen zum Mord an Burak Bektaş. Der 22-jährige Burak wurde in der Nacht des 5. April 2012 auf der Straße vor dem Klinikum Neukölln erschossen. Burak unterhielt sich dort mit vier Freunden und Bekannten. Die Gruppe war zufällig zusammengetroffen. Ein Mann trat hinzu, zog wortlos und unvermittelt eine Waffe und schoss. Burak Bektaş starb im Krankenhaus an den Folgen der Schussverletzungen, seine Freunde Jamal und Alex wurden schwer verletzt. Die folgenden Ermittlungen der Polizei hatten keinen Erfolg, der Täter ist bis heute unbekannt. Ein rassistisches Motiv für die Tat – begangen ein halbes Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU – ist sehr wahrscheinlich.

Seit Jahren kämpft die Familie Bektaş juristisch und politisch um Aufklärung und setzt sich für ein würdiges Gedenken an Burak ein. Mittlerweile gibt es einen Gedenkort an der Rudower Straße, Ecke Möwenweg. Dort gibt es eine Gedenktafel und eine Stele. Der Gedenkort wurde bereits mehrfach von Neonazis geschändet. An der Seite der Familie steht die Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş.

Buraks Mutter, Melek Bektaş, sprach am 11. März 2024 bei einer Pressekonferenz des Solidaritäts-Netzwerks von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer, antisemitischer Morde und Gewalt. Sie sagte: „Ich will von den verantwortlichen Behörden den Mörder meines Sohnes. Das ist das Einzige, was ich zu sagen habe.“ Und sie forderte: „Wer gedenken will, soll aufklären!“ [Pressemitteilung des Solidaritäts-Netzwerks]

In der 28. Sitzung des PUA sagten der leitende Ermittler Alexander Hübner, der zuständige Staatsanwalt Dieter Horstmann und der Anwalt der Familie Bektaş, Lukas Theune, aus. Vor allem durch die abschließende Befragung von Lukas Theune wurde deutlich, dass das positive Bild, das Hübner und Horstmann zuvor von den Ermittlungen gezeichnet hatten, so nicht stimmen kann. Theune machte deutlich, dass im Ermittlungsverfahren wegen des Mordes an Burak Bektaş lange Jahre keineswegs übermäßig ermittelt wurde.

Insbesondere die Möglichkeit eines rassistischen Motivs wurde nicht ausreichend geprüft, obwohl auch Hübner dieses Motiv in seiner Aussage vor dem Ausschuss als naheliegend bezeichnete. Viele frühe Hinweise der Familie und ihrer anwaltlichen Vertretung wurden erst acht oder neun Jahre nach der Tat bearbeitet, als eine andere Beamtin die Ermittlungen übernommen hatte.

Dazu kommt, dass gegen Hübner aktuell ermittelt wird, weil ein Sachbearbeiter 2020/21 in einem zu dieser Zeit von Hübner geleiteten Staatsschutzkommissariat beinahe 400 Vorgänge unbearbeitet liegengelassen haben soll. Laut Polizei soll es bei den Vorgängen keinen Bezug zum Untersuchungsgegenstand des Ausschusses geben. Dennoch stellen sich, wie Theune aussagte, der Familie Bektaş hier Fragen: „Wenn jemand solche Verfahren liegenlässt, da fragt man sich: ‚Hat der das Verfahren um die Tötung unseres Sohnes ordentlich geführt?‘

In der 29. Sitzung sagte zunächst Helga Seyb aus. Seyb arbeitete bis zu ihrer Pensionierung bei ReachOut (Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Bedrohung in Berlin). Sie begleitet die Familie Bektaş seit Jahren. Ihre einleitenden Bemerkungen bezeichnete Seyb selbst als „ein bisschen eine Abrechnung“. Nach Monaten, in denen meist Zeug*innen aus dem Polizeiapparat befragt wurden, war Seybs pointierte Einschätzung eine für den Ausschuss notwendige und für Zuhörer*innen wohltuende Unterbrechung der Routine.

Im Hinblick auf die Beratung der Familie Bektaş kritisierte Seyb , dass sie erst spät mit ihrer Beratungstätigkeit habe beginnen können. Sie ging auch auf diffamierende Berichterstattung über Burak im Boulevardblatt „Berliner Kurier“ ein, die laut der Zeitung auf Informationen aus der Polizei basierte.

Helga Seyb wies darauf hin, dass Melek Bektaş, die in der 28. Sitzung noch als Besucherin anwesend war, an der aktuellen Sitzung nicht teilnehmen könne. Die letzte Sitzung sei, so Seyb, insbesondere wegen der Aussage des Staatsanwaltes Horstmann zu belastend gewesen. Frau Bektaş könne es auch bis heute nicht verwinden, wie sie vom Mord an ihrem Sohn erfahren hat. Die Familie habe nicht von der Polizei, sondern von einem Verwandten erfahren müssen, dass Burak etwas Schlimmes passiert ist. Melek Bektaş habe auf dem Polizeiabschnitt am frühen Morgen eine Dreiviertelstunde warten müssen, ohne Informationen zu erhalten.

Nach Einschätzung der Familie, so Seyb, komme Rolf Z., der verurteilte Mörder des am 20. September 2015 getöteten Luke Holland, auch als Mörder von Burak in Betracht. Es stelle sich die Frage, warum die Polizei ihre Arbeit nicht richtig mache, warum sie eine Mauer gegen die Familie errichtet habe. Der Untersuchungsausschuss wiederum agiere, so Seyb, spontan und ungeplant.

Geprägt wurde die Sitzung neben der Aussage von Helga Seyb besonders durch die Ausführungen des Polizisten Christian S, der die Auswerteeinheit (AE) OFA [= Operative Fallanalyse] leitet. S. behauptet zwar, dass er ein rassistisches Motiv für möglich halte, in der von der Einheit erstellten Analyse spielt die Frage eines rassistischen Motivs aber keine Rolle. Das ist bereits vor dem Hintergrund, dass keineswegs so intensiv in Richtung eines rassistischen Motivs ermittelt wurde, wie die Polizei behauptet, eine fragwürdige Vorannahme.

S. legte sehr viel Wert auf die „Objektivität“ der Arbeitsweise bei einer OFA, verhedderte sich aber während seiner Aussage immer wieder in solche nur schwer nachvollziehbare, teilweise auch widersinnige Überlegungen zur Subjektivität oder Objektivität von Anhaltspunkten. Wenn die AE OFA einen der wenigen weiteren objektiven Anhaltspunkte – nämlich die Zusammensetzung der Gruppe der Betroffenen – einfach aus der Betrachtung herausnimmt, stellt sich die Frage, wie sie in ihrer Analyse überhaupt andere mögliche Motive ausmachen konnte. So ist die Analyse jedenfalls nutzlos und es wäre möglicherweise tatsächlich besser gewesen, wenn sie nicht erstellt worden wäre.

In den nächsten Sitzungen des Untersuchungsausschusses wird es weiter um den Mord an Burak Bektaş gehen. Die nächsten Sitzungstermine findet ihr weiter unten im Newsletter bei den Terminen.

Auf unserer Homepage findet ihr weitere Informationen, die offenen Briefe und Berichte zu den Ausschusssitzungen.

Die Aufarbeitung des Nordkreuz-Komplex geht endlich weiter!

Der 2. NSU/Rechter Terror Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern hat sich am 15. April dem Nordkreuz-Komplex zugewandt. Um sich einen Überblick zu verschaffen, lud der Ausschuss zunächst zwei Sachverständige: den Journalisten Dirk Laabs und den Wissenschaftler Prof. Dr. Matthias Quent. Die Sachverständigen verdeutlichten, dass es sich bei dem Untersuchungsgegenstand eigentlich um ein bundesweites Netzwerk handelt, das von Behörden und Justiz nicht angemessen aufgedeckt und aufgearbeitet wurde. Im Nordkreuz-Komplex finden sich bekannte ideologische Versatzstücke der extremen Rechten und des rechten Terrors, er gehört also zur Kontinuität rechten Terrors in Deutschland.

Dirk Laabs rief in Erinnerung, dass man nach der Festnahme des Bundeswehrsoldaten Franco Albrecht 2017 auf ein „ganzes Wespennest“ gestoßen sei. [Dokumentation der Beobachtung des Prozesses gegen Franco Albrecht durch NSU-Watch Hessen] Denn schnell zeigte sich, dass der rechte Soldat, der plante, mit der falschen Identität eines syrischen Geflüchteten einen Anschlag zu begehen, Teil einer Chatgruppe namens „Südkreuz“ war. Diese verwies wiederum über ihren Organisator André Schmitt alias „Hannibal“ auf weitere Chatgruppen, darunter „Nordkreuz“.

„Nordkreuz“ ist diejenige Chatgruppe aus diesem Geflecht, über die bisher am meisten bekannt ist. Deutlich wurde bei der Auswertung, dass sich hier unter anderem (ehemalige) Soldate*innen, Polizist*innen und Anwält*innen– zum Teil mit guten Kontakten zur AfD oder selbst Mitglied der Partei – sich auf einen „Tag X“ vorbereiteten. Ob dieser „Tag X“ an einem Ereignis festgemacht oder gewaltsam herbeigeführt werden sollte, ist nicht ganz klar. Aber an diesem Tag sollten vermutlich die auf Listen vermerkten politischen Feind*innen abgeholt, in zuvor festgelegte „Safe Houses“ gebracht und dort mit den zuvor gehorteten Waffen exekutiert werden. Geplant war war also anscheinend ein gewaltsamer rechter Umsturz.

Kurz nach den Durchsuchungen bei Nordkreuz-Mitgliedern inszenierten sich diese medial als „besorgte Prepper“, die sich mit Konserven auf Stromausfälle und Naturkatastrophen vorbereiten. Dieses Narrativ wurde in Mecklenburg-Vorpommern medial, behördlich und parlamentarisch zumindest teilweise übernommen. Eine fatale Verharmlosung mit Langzeitfolgen.

Was sich ideologisch im Nordkreuz-Komplex abspielt, stellte Prof. Dr. Matthias Quent klar. Wichtig seien nicht nur Bezüge zum Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus, tragend sei auch die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft im Niedergang befinde. Um diesen zu verhindern, sei ein großer Gewaltschlag und ein darauffolgender Neuaufbau notwendig. Es handele sich um Strukturen, die sich selbst unter Handlungsdruck sehen.

Trotz der engen Zusammenhänge trennte die Bundesanwaltschaft, so betonte es Laabs vor dem Untersuchungsausschuss, die Themenkomplexe Franco Albrecht, Hannibal und Nordkreuz voneinander und gab Teile des zuletzt genannten Verfahrens an die Ermittlungsbehörden Mecklenburg-Vorpommern ab. Übrig blieben Ermittlungen gegen zwei Nordkreuz-Mitglieder wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat unter Federführung der Bundesanwaltschaft, die längst eingestellt sind, und ein Verfahren der Schweriner Staatsanwaltschaft wegen Verstößen gegen das Waffen- Kriegswaffen- und Sprengstoffgesetz gegen den Administrator der Chatgruppe Marco Groß. Dieses endete vor dem Landgericht Schwerin mit einem Urteil auf Bewährung gegen den ehemaligen Elitepolizisten. [Dokumentation der Prozessbeobachtung]

Obwohl die mecklenburg-vorpommerschen Behörden immer wieder versuchten, die Bundesbehörden zu einer Gesamtübernahme zu überreden, blieb es dabei. Landesbehörden können nicht wegen Terrorismus ermitteln und sie bekamen auch keinen Einblick in die benachbarten Verfahren wie das gegen Franco Albrecht.

Da die Ermittlungen im Nordkreuz-Komplex erst verschleppt und dann eingestellt wurden, ist dieser bis heute nicht aufgeklärt und bleibt ohne wesentliche Konsequenzen. Die Aufgabe dies zu ändern fällt nun dem 2. NSU/Rechter Terror Untersuchungsausschuss zu.

Am 27. Mai wird die vorerst letzte Sitzung des Untersuchungsausschusses zum NSU-Komplex nachgeholt. Weitere Infos findet ihr weiter unten im Newsletter bei den Terminen.

„Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie“ – Prozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé

Im Prozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé, der am 8. August 2022 in Dortmund durch Polizeischüsse starb, waren für April 2024 erste Aussagen der angeklagten Polizeibeamt*innen angekündigt. Vier Monate nach Beginn des Strafprozesses, der seit Dezember 2023 am Landgericht Dortmund geführt wird, wollten sich zwei der fünf Angeklagten endlich zur Sache einlassen. Entsprechend groß war der Andrang der Medienvertreter*innen am 17. April 2024, dem nun elften Prozesstag. Auch Sidy und Lassana Dramé, die als Nebenkläger Aufklärung zum Tod ihres Bruders einfordern, waren vor Ort.

Zusammen mit den Unterstützer*innen des Solikreises Justice4Mouhamed hatten sie tags zuvor mit einer Pressemitteilung darauf aufmerksam gemacht, was zu erwarten sein würde: Die späten Aussagen sind Teil einer strategischen Verteidigung, die es den Angeklagten erlaubt, auf alle im Prozess bereits gehörten Informationen aufzubauen.

In den Monaten zuvor hatten sich die Angeklagten über zehn Hauptverhandlungstermine hinweg mehr als ein Dutzend Zeug*innen-Aussagen anhören können: am 10. Verhandlungstag zuletzt die Rettungskräfte, die berichtet hatten, erst nach den Schüssen hinzugezogen worden zu sein. Ebenso hörten sie von den Polizist*innen der am Einsatz beteiligten zivilen wie uniformierten Teams der sogenannten Nordstadt-Wache – zum Teil langjährige Kolleg*innen der Angeklagten. Sie hatten in Form und Inhalt einmütig angegeben, dass sich die bewaffneten Polizist*innen von dem 16-Jährigen in Gefahr gebracht gefühlt hätten, und für sie darum der Einsatz von Tasern und Maschinenpistole zu rechtfertigen sei. Die Einlassungen des angeklagten Einsatzleiters und des wegen des Taser-Einsatzes Angeklagten am 17. April 2024 folgten dann exakt diesem Muster.

Mit der inmitten der Befragung der Angeklagten verfügten richterlichen Anordnung, dass die Nebenklage sie nicht mit Vorhalten aus den Ermittlungsakten konfrontieren dürfe, verhinderte das Gericht indes alle Möglichkeiten, ihre Einlassungen durch einen Vergleich zu ihren früheren Aussagen zu prüfen. Es gelte ein Beweisverwertungsverbot, da die Angeklagten erst am 19. August 2022 als Beschuldigte geführt, aber bereits kurz nach dem Einsatz polizeilich vernommen worden waren – damals wohl noch im Status von Zeug*innen. Die Nebenklage gab noch während der Verhandlung Rechtsmittel zu Protokoll, gewiss auch in Vorbereitung auf ein Revisionsverfahren.

Auf die Perspektive, am Landgericht Dortmund keine abschließende Aufklärung erfahren zu können, werden sich die Familie Dramé und ihre Unterstützer*innen vorbereiten müssen. Schon am Vortag erinnerten Sidy und Lassana Dramé daran, dass es deshalb auch um Fragen jenseits juristischer Parameter geht: „Was die Polizei tut, ist überhaupt nicht gerecht. Das ist der Grund, warum die Familie uns hierher geschickt hat. Wir sind hier, um darauf zu warten, dass Gerechtigkeit geschieht. Wir warten darauf, dass am Ende jeder weiß, dass die Polizisten unrecht hatten, als sie unseren Bruder töteten.“

Die nächsten Prozesstage findet ihr weiter unten im Newsletter bei den Terminen.

Beim Solidaritätskreis Mouhamed findet ihr weitere Informationen zur Prozessbegleitung.
Bei Radio Nordpol findet ihr u.a. mit einer ausführliche Sendungen zu den Prozesstagen.

Sprengstoffanschlag auf Geflüchtetenunterkunft in Graz – Aufklärung gescheitert

In der Nacht vom 10. auf den 11. September 2010 detonierte vor dem Eingang der Caritas-Unterkunft in Graz ein Sprengsatz. Nun, über 13 Jahre später, standen drei Männer im Leoben vor Gericht und wurden diesbezüglich freigesprochen. Von der erhofften Aufklärung des rassistischen Anschlags ist man nach dem dreitägigen Prozess weiter entfernt als zuvor.

Durch die Explosion vor der Geflüchtetenunterkunft wurde niemand unmittelbar verletzt – zumindest nicht körperlich. 35 Bewohner*innen sowie eine Betreuerin wurden von der Detonation aus dem Schlaf gerissen. Ein damals 61-jähriger Bewohner verletzte sich, als er nachschauen wollte was passiert war. Die erzeugte Druckwelle war für Zeug*innen noch 70 Meter weiter spürbar, Teile des Sprengsatzes drangen in das Mauerwerk des Gebäudes ein. Ein Mitarbeiter der Caritas schilderte am ersten Verhandlungstag, wie eingeschüchtert und verängstigt alle damals waren. Es wurde daraufhin eine Security-Firma beauftragt, da man sich nicht mehr sicher fühlte.

Doch wie so oft vor Gericht, spielte die Betroffenenperspektive keine zentrale Rolle. Die drei Verhandlungstage waren geprägt von den Aussagen der Angeklagten, deren früherem rechtsextremen bis neonazistischen Umfeld und den wenigen Zeug*innen, die in der Nacht vor 13 Jahren in der Nähe waren. Doch wie kam es dazu, dass Ende 2023 plötzlich dieser in Vergessenheit geratene Anschlag vor Gericht verhandelt wurde?

Bereits im Oktober 2021 verkündete das österreichische Innenministerium in einer Presseaussendung, man habe den Sprengstoffanschlag aufgeklärt. Der damalige Tatverdächtige wurde zum Erstangeklagten, seine Aussagen waren letztendlich auch die Grundlage der Anklage. Im Prozess stellte sich jedoch heraus, dass bei den Ermittlungen wohl einiges schief lief: Beweismittel gingen verloren, Zeug*innen wurden nicht befragt, Aussagen waren nicht auffindbar, eine DNA-Spur wurde nie ausgewertet. Und der Erstangeklagte nahm sein Geständnis zurück, da er nun behauptete vom Verfassungsschutz eingeschüchtert worden zu sein.

Die Gesamtheit an Unstimmigkeiten und verschwundenen Beweismitteln musste letztendlich zum Freispruch bezüglich des Sprengstoffanschlags führen. Verurteilt wurden lediglich zwei einschlägige Tätowierungen. Die Entscheidung ist bisher nicht rechtskräftig und die Aufklärung des Angriffs auf die Grazer Geflüchtetenunterkunft scheint so unmöglich wie nie zuvor.

Bei Prozessreport findet ihr mehr zu dem Verfahren. 



Gut zu wissen:
Aktuelles aus dem Themenbereich Rechter Terror und Antifaschismus

+++ Endlich: Combat18 vor Gericht +++

Am 4. April gab die Bundesanwaltschaft bekannt, dass sie vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Anklage im Themenkomplex Combat 18 erhebt. Sie spricht von „vier mutmaßliche Rädelsführer des verbotenen rechtsextremistischen Vereins ‚Combat 18 Deutschland‘“, die den Verein nach dem im Oktober 2020 durch das Bundesinnenministerium verfügten Verbot im weitergeführt hätten: Stanley Röske, Keven L., Gregor M. und Robin Schmiemann.

Schon seit 2012, also kurz nach der Selbstenttarnung des NSU, beobachteten Antifaschist*innen eine Reunion von Combat 18 in Deutschland. Exif Recherche veröffentlichte dazu 2018 ein ausführliches Dossier.

Die Bundesanwaltschaft schreibt in ihrer Pressemitteilung zur Combat-18-Anklage, dass die Gruppierung „angeführt von Stanley R., ab Ende Oktober 2020 mindestens 14 konspirative Treffen“ ausgerichtet habe. Außerdem habe Stanley Röske „für eine Vernetzung mit anderen rechtsgerichteten Vereinigungen, darunter etwa die in Eisenach angesiedelte rechtsextremistische Kampfsportgruppierung ‚Knockout 51‘“ gesorgt.

Während des Münchener NSU-Prozess wurde bekannt, dass der Dortmunder Robin Schmiemann ein Brieffreund der Hauptangeklagten Beate Zschäpe war. Seine Unterstützung zeigte Schmiemann auch öffentlich, beispielsweise mit einem Pink-Panther-Shirt. Bis heute ist nicht geklärt, ob beide sich schon vor der Selbstenttarnung des NSU kannten. In seiner Vernehmung durch den NSU-Untersuchungsausschuss NRW im März 2016 wich Schmiemann Fragen zu seinem Kontakt aus.

Alle vier in der Anklageschrift aufgeführten Personen sind auf freiem Fuß, im nächsten Schritt entscheidet dann das Oberlandesgericht Düsseldorf, ob es die Klage annimmt. Die Bundesanwaltschaft gab außerdem bekannt, dass sie weitere Verfahren im Themenkomplex an die zuständigen Staatsanwaltschaften übergegeben hat. Werden diese nicht eingestellt, könnte es also weitere Prozesse in niedrigeren Instanzen geben.

+++ Erster Prozess gegen die Patriotische Union gestartet +++

Am 29.April begann in Stuttgart der erste von drei Prozessen gegen Mitglieder der sogenannten „Patriotischen Union“ [siehe letzter Newsletter]. In Stuttgart sind neun Personen angeklagt, alle gehörten dem sogenannten „Militärischen Arm“ der Gruppe an, einige der sogenannten „Heimatschutzkompanie 221“, die nach den Vorstellungen der Gruppe die Gegend um Tübingen und Freudenstadt in Baden-Württemberg umfassen sollte.

Der Prozess gegen bekanntere Akteur*innen der „Patriotischen Union“ wie etwa Rüdiger von Pescatore, Michael Fritsch, Maximilian Eder und Birgit Malsack-Winkemann beginnt am 21. Mai in Frankfurt/Main, der dritte Prozess am 18. Juni in München. In unserem nächsten Newsletter wird es eine erste Einschätzung zu den Prozessen geben.

+++ Urteile im Stuttgarter Prozess zur Gruppe S. +++

Bereits am 30. November 2023 wurde im Strafprozess gegen die sogenannte „Gruppe S.“ vor dem Oberlandesgericht Stuttgart das Urteil verkündet. Der fünfte Strafsenat um den Vorsitzenden Richter Herbert Anderer verurteilte zehn der ursprünglich zwölf Angeklagten wegen Gründung, Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu Haftstrafen. Die Dauer der Haftstrafen bewegt sich zwischen einem Jahr und neun Monaten einerseits und sechs Jahren. Alle Angeklagten seien rassistisch motiviert gewesen. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig, eine Revision beim Bundesgerichtshof ist möglich.

Die Bundesanwaltschaft (GBA) hatte in ihrer Anklageschrift zum Prozessstart im April 2021 von der „Gruppe S.“ ein Bild als konspirativer Terrorzelle gezeichnet, die bereits schwerbewaffnet gewesen sei und nur noch wenige Tage vor einer Attentatsbegehung gestanden habe. Die Anklage des GBA basierte überwiegend auf Aussagen des Mitbeschuldigten Paul Ludwig Ulbrich, der sich freiwillig bei den Behörden gemeldet hatte. Einige Erzählungen von Ulbrich erwiesen sich recht bald nach Prozessbeginn als aufgeblasene Wichtigtuerei. Im Laufe der Verhandlung ruderte Ulbrich massiv zurück.

Einige Verteidiger*innen, insbesondere rechte Szeneanwälte, nutzten die entstandene Situation, um ein ganz anderes Narrativ im Gerichtssaal, aber auch über einzelne Medien zu verbreiten: An dem gesamten Fallkomplex sei nichts dran, die Angeklagten seien allesamt unschuldig, der Staat verfolge sie nur aufgrund ihrer rechten Einstellungen.

Der Senat entschied sich schlussendlich, nichts mehr an den Angaben des Informanten Ulbrich festzumachen. Die Richter*innen stützten ihre Urteile stattdessen auf die Angaben anderer Angeklagter sowie auf eine Vielzahl ausgewerteter Chats und überwachter Telefongespräche. Im Urteil formulierte der Senat zu etwaigen Anschlägen der „Gruppe S.“ auch: „eine konkrete Gefahr bestand nicht“. Der § 129a StGB sei aber ausdrücklich „als abstraktes Gefährdungsdelikt“ konstruiert: „Das demokratische Gemeinwesen“ solle nicht „drauf warten müssen, bis sich eine Gefahr konkretisiert“.

Die Sicherheitsbehörden und die Bundesanwaltschaft lernen nicht aus den zahlreichen V-Personen-Desastern der Vergangenheit und hängen ihren Quellen viel zu unkritisch an den Lippen. Das OLG Stuttgart hat gezeigt, dass aus klassischer Recherche- und Ermittlungsarbeit sowie kleinteiliger Analyse aus Chats und Telefonaten ein höherer Erkenntnisgewinn zu bekommen ist als aus den Aussagen eines Informanten. Vor allem, wenn – wie im Fall der „Gruppe S.“ – der narzisstische Drang der Quelle zur Selbstdarstellung staatlicherseits noch bedient wird.

Einige der Angeklagten waren vor ihrer Verhaftung in rechten Gruppen und „Bruderschaften“ aktiv. Ab Sommer 2019 hielt Werner Somogyi, auf den sich das S. in „Gruppe S.“ bezieht, nach Gleichgesinnten Ausschau, die bereit waren, auf die „Bedrohung“ durch Zuwanderung mit Gewalttaten zu reagieren. Er richtete für die Suche nach Mitwirkenden mehrere Chatgruppen ein.

Neben den Chatgruppen gab es auch reale Treffen. Gegenüber den Teilnehmenden beschrieb Somogyi rassistisch „Bedrohungsszenarien“ und präsentierte im ausgewählten Kreis seine Pistole. Die Gründung der „Gruppe S.“ als rechtsterroristische Struktur schrieb das OLG jedoch dem Treffen am 8. Februar 2020 in Minden zu. Mehrere Angeklagte haben ausgesagt, dass dort Anschlagspläne zur Sprache kommen sollten. Somogyi schrieb vorab in einem Chat, es gehe um „brisante Themen und Planungen für dieses Jahr“.

Vor Beginn des Termins mussten die Teilnehmenden ihre Mobiltelefone abgeben. Bei der Vorstellungsrunde verlangte Somogyi von ihnen, sich als „offensiv“ oder „defensiv“ zu erklären. „Offensiv“ meinte die Bereitschaft, an Anschlägen mitzuwirken. Somogyi machte deutlich, dass man Anschläge auf Moscheen begehen müsse, um letztlich einen Bürgerkrieg auszulösen.

Somogyi berichtete auf dem Treffen anschließend, dass man möglicherweise in der Lage sei, Waffen zu beschaffen. Mehrere der Angeklagten sagten Zahlungen hoher Geldbeträge zu und äußerten auch teilweise konkrete Waffenwünsche. Somogyi kündigte an, dass danach ein weiteres Treffen stattfinden würde, bei dem durch diejenigen, die sich als „offensiv bekannt hatten“ konkrete Anschlagsziele ausgemacht werden sollten.

Am Morgen des 14. Februar 2020 wurde bei allen Angeklagten, mit Ausnahme von Ulbrich, die Wohnorte durchsucht. Die Angeklagten wurden vorläufig festgenommen. Zur Waffenbeschaffung im großen Stil war es zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht gekommen.

Das Netzwerk der „Gruppe S.“ reichte weit über die in Stuttgart Angeklagten hinaus, in weitere rechte Organisationen hinein und betraf mehrere Bundesländer, darunter Hamburg und Brandenburg. Für eine ganze Reihe extrem Rechter hatte es bisher keinerlei Konsequenzen Teil dieses Netzwerks gewesen zu sein.

Weitere Informationen und eine Prozessbeobachtung findet ihr hier.

Wir gedenken: 

Solingen – kein Vergessen, heute

Am 29. Mai 2024 wird sich der Brandanschlag von Solingen jähren, wieder, zum jetzt 31. Mal. Wir denken an Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Unvergessen.

Es wird schwer sein, das Gedenken zu begehen, in diesem Jahr. Denn in Solingen sind wieder Menschen durch Brandstiftung getötet worden.

Eine Familie aus Bulgarien, die erst seit kurzer Zeit im Dachgeschoss des Mehrfamilienhauses in Solingen-Höhscheid wohnte, starb. In der Nacht auf den 26. März 2024 brannte das Treppenhaus ab der ersten Etage. Die vier Menschen konnten sich nicht mehr aus dem obersten Stockwerk retten, weitere Bewohner*innen der darunterliegenden Wohnungen überlebten, zum Teil lebensbedrohlich verletzt, durch einen Sprung aus dem Fenster.
Wir denken an Katya, Kuncho, Galia und Emili.
Wir denken an die Überlebenden und Verletzten.

Das Haus in der Grünewalder Straße, so ließ die Staatsanwaltschaft kaum zwei Tage später wissen, sei vorsätzlich in Brand gesetzt worden. Man habe Brandbeschleuniger gefunden. Hinweise auf Rassismus als Tatmotiv gebe es allerdings nicht.

Am 10. April 2024 informierten Polizei und Staatsanwaltschaft darüber, dass ein dringend Tatverdächtiger gefunden sei. Aufzeichnungen von Überwachungskameras aus der Umgebung hätten den Verdacht auf einen 39-Jährigen gelenkt, ein vormaliger Mieter des Hauses. Die Vermieterin habe auf einen Streit mit ihm hingewiesen.

Mit den Angaben und Informationen zu den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen bleiben aber Fragen offen. Die Initiative Herkesin Meydanı – Platz für Alle hat sie in einem Statement auf den Punkt gebracht:

„[…] warum setzt jemand ein Wohnhaus in Brand, in dem zahlreiche Menschen leben, wenn er Streit mit der Vermieterin hat? Warum schließen die Behörden ein rassistisches Motiv aus und sprechen von einer Tat „im zwischenmenschlichen Bereich“, obwohl die Bewohner*innen allesamt Einwanderer sind und an einem vorsätzlich gelegten Brand aufgrund der Spurenlage kein Zweifel besteht? Hinter dem reflexhaften Ausschluss eines rassistischen Motivs steckt entweder Unwissen oder Absicht. Zumindest macht es die Gefahr, unter der rassifizierte Menschen tagtäglich in Deutschland leben müssen, unsichtbar, denn Rassismus ist kein Einzelphänomen, sondern eine Struktur, die sich durch alle Bereiche der Gesellschaft zieht, auch durch Sicherheitsbehörden.“

Wir möchten uns diesen Fragen anschließen. Auch bleiben die Forderungen der Menschen, die am Samstag nach dem Brandanschlag in Solingen zu einem Trauermarsch zusammenkamen: Sie forderten Aufklärung und Gerechtigkeit.

Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach zeigte sich nach der Festnahme des Tatverdächtigen indes erleichtert. „Für die Angehörigen und für die Betroffenen, denen nach wie vor zuallererst unser Mitgefühl gilt, ist die Aufklärung ungemein wichtig. Wichtig ist sie aber auch für unsere Stadtgesellschaft“, zitierte ihn der WDR.

Die Überlebenden des Brandanschlages vom 26. März 2024 warten aktuell noch auf praktische Zeichen dieses Mitgefühls. Sie leben unter prekären Bedingungen in Notunterkünften.

Die „Stadtgesellschaft“ wird sich zugleich daran erinnern lassen müssen, dass „Solingen“ nicht vergeht. Das Erinnern und selbstbestimmte Gedenken an den rassistischen und rechten Brandanschlag vom 29. Mai 1993 auf das Haus der Familie Genç, die Solidarität mit Sibel İşini, Überlebende des Brandanschlags auf ihre Wohnung in Solingen am 21. Oktober 2021 und nun die offenen Fragen und die Unterstützung für die Betroffenen und Überlebenden des Brandanschlages in der Grünewalder Straße: Sie werden die Stadt und ihre Vertreter*innen nicht aus der Verantwortung entlassen, ihre Anteilnahme konkret werden zu lassen.

Dr. Walter Lübcke

Walter Lübcke wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 von dem Neonazi Stephan Ernst auf seiner Terrasse in Wolfhagen-Istha bei Kassel ermordet.

Im Oktober 2015 nahmen die Neonazis Markus Ha. und Stephan Ernst ein Video von einem Auftritt des CDU-Politikers bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden auf. Lübcke hatte sich auf dieser Versammlung den Fragen gestellt, die Bürger*innen wegen der Eröffnung einer Geflüchtetenunterkunft im Ort hatten. Als Regierungspräsident von Kassel war er verantwortlich für die Unterbringung von Geflüchteten in Nordhessen.

Zur Veranstaltung in Lohfelden hatte das Umfeld von Kagida, des örtlichen Pegida-Ablegers aus Kassel, gezielt mobilisiert. In den ersten Reihen nahmen Menschen Platz, die den Regierungspräsidenten provozierten. Lübcke verteidigte daraufhin in seiner Rede das Grundrecht auf Asyl und sagte am Ende einer längeren Ausführung:

“Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.”

Das Video dieser Aussage löste eine massive Welle von rechter Hetze gegen Walter Lübcke aus, an deren Ende seine Ermordung steht.

Stephan Ernst, der Mörder von Walter Lübcke ist so etwas wie die Verkörperung einer Kontinuität rechten Terrors in Hessen und Deutschland. Der Mörder von Walter Lübcke beging seit 1989 immer wieder Mordanschläge und Angriffe.

Offensichtlich war er bei diesen Taten immer auch motiviert durch gesamtgesellschaftliche Stimmungen wie den nationalistischen Taumel in der Nachwendezeit und die folgende rassistische Mobilisierung. Der Name von Stephan Ernst fiel Abgeordneten des NSU-Untersuchungsausschusses in Hessen schon auf, bevor er im Zusammenhang mit dem Mord an Lübcke 2019 einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. 

Am 6. Januar 2016 wurde trotzdem Ahmed I. in Lohfelden bei Kassel auf offener Straße angegriffen und durch einen Messerstich in den Rücken schwer verletzt. Er überlebte diesen versuchten Mord nur knapp. I. machte bereits 2016 auf einen möglichen rechten Hintergrund der Tat aufmerksam. Die Ermittlungen konzentrierten sich aber auf sein Umfeld in der Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden. Nur sehr kurzzeitig wurde gegen lokale Neonazis ermittelt. Auch Stephan Ernst wurde nach seinem Aufenthalt am Tatabend gefragt. Doch die Ermittlungen zum Angriff auf Ahmed I. wurden eingestellt. Dreieinhalb Jahre später wurde Walter Lübcke auf seiner Terrasse erschossen – von Stephan Ernst.

Im Sommer 2019, nach der Festnahme von Stephan Ernst, schrieb Ahmed I. einen Brief an die Polizei, weil er aufgrund der örtlichen Nähe des Wohnorts von Ernst zum Tatort, ihn auch hinter dem Angriff auf sich vermutete. Auch die Ermittler*innen erinnerten sich an den Mordversuch vom Januar 2016. Bei der nun folgenden Durchsuchung bei Ernst wurde tatsächlich ein Messer gefunden, das zur Wunde von Ahmed I. passt. Auf diesem Messer wurden auch DNA-Anhaftungen gefunden, zu denen Ahmed I. als Spurenverursacher nicht ausgeschlossen werden kann, viele Merkmale stimmen überein. Das Verfahren gegen Ernst wurde wegen des Mordes an Walter Lübcke und wegen des Angriffs auf Ahmed I. geführt.

Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte Stephan Ernst im Januar 2021 wegen des Mordes an Walter Lübcke zu lebenslanger Haft. Doch die Richter*innen sprachen ihn vom Vorwurf des versuchten Mordes an Ahmed I. frei. Das Urteil ist seit 2022 rechtskräftig.

Der Name von Markus Ha., der ebenfalls in Frankfurt angeklagt war und dort vom Vorwurf der psychischen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke freigesprochen wurde, taucht schon im Zusammenhang mit dem NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006 in den Akten auf.

Zugespitzt muss festgestellt werden: Wäre der NSU-Komplex lückenlos aufgeklärt worden, könnte Walter Lübcke noch leben. Sein Mord hingegen steht in der Kontinuität rechten Terrors.

Auf unserer Homepage findet ihr weitere Informationen und die Dokumentation unserer Prozessbeobachtung. 



+++ Termine +++
5. Mai, Dortmund: 3. Mehmet-Kubaşık-Kinderfest. 14-18 Uhr, Mehmet-Kubaşık-Platz in der Dortmunder Nordstadt. Weitere Infos hier.
5. Mai, Augsburg: Diskussion/Vortrag: „Rechte Agitation. Funktion, Wirkung und Widerstand“, mit  Leo Roepert zum Thema Rechtspopulismus und Rassismus, David Meier-Arendt über „Männlichkeit und Rechte Agitation im Netz – auf dem Weg in einen fragmentarischen Autoritarismus?“ und die Hanauer Aktivistin Newroz Duman von der Initiative 19. Februar  über die Kämpfe Rund um Hanau und darüber hinaus. 14-17 Uhr, Grandhotel Cosmopolis e.V., Springergässchen 5. Weitere Infos hier.
6. Mai, Dortmund: Buchpräsentation und Diskussion: „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“ mit Birgül Demirtaş (Hrsg.) und Kamil und Hatice Genç. 19 Uhr, Auslandsgesellschaft.de e.V., Steinstraße 48. Weitere Infos hier.
11. Mai, Hamburg: Umbenennung der Halskestraße in Châu-und-Lân-Straße in Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. 11 Uhr, Châu-und-Lân-Straße (ehemals Halskestraße 72). Weitere Infos hier.
17. und 31. Mai, Berlin: Weitere Sitzungen des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex zum unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş. Kundgebungen voraussichtlich ab 8:30 Uhr vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Weitere Infos hier.
15. Mai, Wien: Buchvorstellung „Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess“  und Diskussion mit NSU Watch und prozess.report. 19 Uhr, Wipplingerstraße 23. Weitere Infos hier.
15. Mai, Duisburg: Stadtgespräch „‚Werden Sie uns mit FlixBus deportieren?‘ Ursachen und Dynamiken des Rechtsrucks in unserer Gesellschaft“ mit Karima Benbrahim, Esther Dischereit, Prof. Dr. Fabian Virchow und Birane Gueye. 18 Uhr, Zentrum für Erinnerungskultur | Eingang des Stadtarchivs, Tarık–Turhan–Galerie
Karmelplatz 5. Anmeldung bis 10. Mai. Weitere Infos hier.
22. Mai, Dortmund: Prozess gegen fünf Polizist*innen wegen des Todes von Mouhamed Lamine Dramé. Mahnwachen vor dem Gericht ab 7:30 UhrWeitere Infos hier.

25. Mai, Hamburg: Ein Gedenktag für Semra Ertan. 12-14 Uhr am Begegnungsort Semra-Ertan-Platz (Clemens-Schultz-Straße Ecke Annenstraße). Weitere Infos hier.

25. Mai, Berlin: Stadtrundgang mit Fahrrad, von Treptow nach Mitte: „Die Rolle der (Berliner) Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex und Kämpfe um Aufklärung“, Bildungsangebot mit der Bildungsinitiative Lernen aus dem NSU-Komplex (BILAN). 13:30-18 Uhr. Weitere Infos hier.

27. Mai, Schwerin: Vorerst letzte Sitzung des 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern zum NSU-Komplex. Sachverständigenanhörungen von Prof. Barbara John und Heike Kleffner. Ab 10 Uhr im Schweriner Landtag. Weitere Infos hier.
1. Juni, München: Seminar: „Rechter Terror in München“, mit Robert Andreasch. 10 Uhr, NS-Dokuzentrum. Weitere Infos hier.
1. Juni, Hamburg: Rundgang „Rechte Gewalt und der NSU-Komplex in Hamburg-Altona“, Bildungsangebot mit der Bildungsinitiative Lernen aus dem NSU-Komplex (BILAN). 11-15 Uhr. Weitere Infos hier.
Anmeldung bis 31. MaiAntifaschistische und feministische Bau- und Begegnungstage zum Gedenkort Konzentrationslager Uckermark, 19.-28. August 2024. Weitere Infos hier.
Noch bis 28. Juli, München: Ausstellung „Rechtsterrorismus. Verschwörung und Selbstermächtigung – 1945 bis heute“ und Rahmenprogramm. Im NS-Dokuzentreum München. Weitere Infos hier.
Noch bis 25. August, Wien: Ausstellung „‚Man will uns ans Leben‘ Bomben gegen Minderheiten 1993–1996“ und Rahmenprogramm. Im Volkskundemuseum Wien. Weitere Infos hier.


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