Kurz-Protokoll 300. Verhandlungstag – 20. Juli 2016

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An diesem Prozesstag ist erneut Marcel Degner geladen. Er will sich auf sein Aussageverweigerungsrecht bezüglich der Frage, ob er V-Mann für das LfV Thüringen war, berufen. Es entsteht eine längere Diskussion, ob dies überhaupt möglich ist, woraufhin Degner für diesen Tag wieder gehen muss. Danach wird u.a. eine Erklärung von mehreren Vertreter_innen der Nebenklage zur Vernehmung von David Petereit verlesen.

Zeuge:

  • Marcel Degner (Neonazi-Umfeld, Blood and Honour Thüringen, ehemaliger V-Mann des LfV Thüringen)

Heute ist Fototermin. Die Angeklagten betreten um 09:41 Uhr den Saal. Um 09:44 Uhr betritt auch der Senat den Saal. Anders als üblich darf diesmal auch der Senat fotografiert werden. Erst danach müssen die Kameraleute und Fotograf_innen den Saal verlassen. Marcel Degner kommt mit seinem Zeugenbeistand RA Rotluff [phon.] in den Saal. Götzl: „Haben Sie für den Thüringer Verfassungsschutz gearbeitet?“ Degner: „Die Aussage möchte ich hiermit praktisch revidieren und meine Aussage darüber verweigern.“ [phon.] Götzl: „Können Sie das begründen?“ Degner: „Sicherlich. Nach § 55 StPO möchte ich das dann verweigern.“ OStA Weingarten: „Ich muss nachfragen, ich habe das nicht verstanden. Ich habe gehört: ‚Ich möchte meine Aussage revidieren und von meinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen.‘ Das ist in sich widersprüchlich. War das eine Angabe zur Sache? Das müsste der Zeuge klarstellen.“ Degner: „Ja.“ Götzl: „Die Frage ist, ob Sie zu dem Revidieren nähere Angaben machen möchten.“ Degner: „Ich möchte dazu keine Angaben machen.“ [phon.] Götzl: „Also Sie revidieren ihre Aussage, aber wollen keine Angaben im Einzelnen machen?“ [phon.] Degner: „Ja.“
OStA Weingarten: „Herr Zeuge, ich habe jetzt das, was Sie gesagt haben, nicht verstanden. Wenn Sie sagen ‚Ich will meine Angaben revidieren‘, wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass Sie damit Ihre Angaben beim letzten Mal zum Status als nachrichtendienstlicher Mitarbeiter revidieren wollen?“ Degner: „Ja, und dazu will ich keine Aussagen machen.“ Weingarten: „Sie können keine Aussagen ungeschehen machen. Sie können nur sagen, ‚ich mache keine Angaben‘ oder ‚ich revidiere meine Angaben‘. Das wäre aber eine Angabe zur Sache. Haben Sie jetzt eine Angabe zur Sache gemacht, indem Sie die Angaben zurücknehmen, oder berufen Sie sich auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht?“ Degner sagt, er habe das nicht richtig verstanden.
Weingarten: „Dann die beiden Fragen in getrennten Sätzen: Möchten Sie Ihre bisherigen Angaben, sie wären kein Mitarbeiter des Amts gewesen und hätten keine Informationen geliefert, möchten Sie diese Angaben revidieren?“ Degner: „Ja.“ Weingarten: „Kann ich das so verstehen, dass die Angaben unrichtig waren?“ Degner: „Nein.“ Nach kurzem Schweigen sagt Degner: „Ich möchte dazu keine Angaben machen.“ Weingarten: „Oder ist das die Verklausulierung, dass Sie zu diesem Punkt heute keine Angaben machen wollen?“ Degner: „Richtig.“ Weingarten: „Also, so wie ich das verstehe: Sie wollen heute keine Angaben machen zur Frage, ob Sie nebenberuflicher Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gewesen sind?“ Degner: „Ja.“
Klemke: „Maßgeblicher Adressat für die Prüfung, ob dem Zeugen die Gefahr der Verfolgung droht, maßgeblicher Adressat das zu beantworten, ist das Gericht. Und wenn das Gericht der Auffassung ist, dass der Zeuge nicht entlassen ist, die Aussage nicht beendet ist, dann ist die Strafverfolgung in logischer Konsequenz aus der Sicht des erkennenden Gerichts ausgeschlossen. Und es kommt auf den objektiven Tatbestand an und nicht, ob hier noch irgendwo ein Verfahren anhängig ist und was – offensichtlich aufgrund einer irrtümlichen Angabe des GBA – eingeleitet worden ist. Ich rege an, der gerichtlichen Fürsorgepflicht zu entsprechen und den Zeugen im Gegenteil darauf hinzuweisen, dass der Senat meint, dass die Aussage nicht beendet ist, und dass er wenn er nunmehr vor seiner Entlassung wahrheitsgemäße Aussagen macht, er nicht verfolgt werden kann. Im Gegenteil, wenn er hier – wohl nach Auffassung des GBA – weiter wahrheitswidrig angibt, nicht Zuträger des TLfV gewesen zu sein, dass er dann mit Sicherheit wegen eines Aussagedeliktes verfolgt wird. [phon.] Das sollte aufgrund der Fürsorgepflicht das Gericht ihm sagen.“
NK-Vertreter RA Reinecke: „Er ist sich doch über die Alternativen gar nicht im Klaren, trotz Zeugenbeistand. Denn wenn er heute entlassen wird, dann wird er verfolgt wegen Falschaussage. Dann ist ‚ich revidiere es‘ keine ausreichende Grundlage. Und die andere Alternative ist, dass er es inhaltlich korrigiert, dann hat er eine relativ große Chance, um ein Verfahren wegen eines Aussagedeliktes herumzukommen. Mich wundert, dass der Zeugenbeistand nicht darauf hinweist, dass er vor diesen Alternativen steht, dafür muss doch ein Beistand da sein. [phon.] Und ich würde anregen, dass der Zeugenbeistand das ganz ernsthaft mit seinem Mandanten diskutiert.“
Götzl: „Also, Herr Zeuge, Sie müssen nochmal kommen, über die Frage einer Bestellung eines neuen Zeugenbeistands wird außerhalb der Hauptverhandlung entschieden werden. Dann wird Ihre Einvernahme unterbrochen.“ Zeuge und Beistand verlassen den Saal.

RA Hoffmann verliest für mehrere NK-Vertreter_innen eine Erklärung zum Zeugen Petereit: 
Der Zeuge Petereit hat in der Hauptverhandlung sein bereits in der polizeilichen Vernehmung aufgezeigtes Aussageverhalten fortgesetzt: Er räumt insbesondere nur das ein, was nicht zu leugnen war, so zum Beispiel die Tatsache, dass der so genannte NSU-Brief bei ihm persönlich gefunden wurde, er ihn also offensichtlich erhalten hatte. In Bezug auf alle weiteren Tatsachen und Umstände, wie z.B. die konkrete Erstellung des Heftes, den Erhalt des Briefes und des Geldes sowie die Veröffentlichung des Grußes täuschte der Zeuge in so großem Umfang Erinnerungslücken vor, dass diese trotz des langen Zeitablaufes völlig unglaubhaft sind. Dass diese Erinnerungslücken nur vorgetäuscht waren – wie diejenige, er könne sich nicht daran erinnern, den Dankesgruß an den NSU geschrieben zu haben -, zeigte sich an der theatralischen Art des Zeugen, diese zu präsentieren und sie zu korrigieren, wenn ihm entsprechende Nachweise vorgehalten wurden wie die von ihm verfasste persönliche Presseerklärung und daran, dass er sich, wenn es ihm nützlich erschien, sehr wohl an Einzelheiten der Erstellung des Heftes erinnern konnte.
Es ist offensichtlich, dass der Zeuge in erster Linie weitere an der Erstellung und Herausgabe beteiligte Personen und seine heutige Partei, die NPD, medial und vor weiteren unangenehmen Fragen schützen will. 
Nach der Vernehmung des Zeugen Petereit können jedenfalls die nachfolgend aufgeführten Beweisergebnisse festgehalten werden: Fest steht zum einen, dass der sogenannte NSU-Brief dem Zeugen als Inhaber des Postfaches des „Weissen Wolfes“ irgendwann vor Herausgabe der Ausgabe 18 im Jahr 2002 zuging. Dieser Brief stellt eine eindeutige Selbstbekennung mit klaren Hinweisen auf eine terroristische Zielrichtung dar und wirbt um Unterstützung.
Es kann also davon ausgegangen werden, dass im Kreis der Empfänger, hier bei dem Zeugen Petereit und seinem politischen Umfeld, ab dem Jahr 2002 Kenntnis über die Existenz einer Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ mit einer terroristischen Ausrichtung bestand. Zum anderen steht fest, dass dem Brief ein hoher Geldbetrag als Spende beigefügt war. Dies musste den Gesamtvorgang für den oder die Empfänger besonders eindrucksvoll und damit einerseits deutlich machen, dass der Brief nicht von bloßen „Spinnern“ verschickt wurde, sondern von Personen, die über erhebliche Geldbeträge verfügten und es sehr ernst meinen. Andererseits musste die Beifügung eines solchen Geldbetrages die Ernsthaftigkeit der in dem Brief angekündigten Handlungen verdeutlichen. Dem entspricht auch die in der Ausgabe Weisser Wolf Nr. 18 im Jahr 2002 abgedruckte Danksagung an den NSU, für die der Zeuge grundsätzlich die Verantwortung übernommen hat, indem er andere Mitwirkende an der Ausgabe ausgeschlossen hat sowie das inhaltlich passende Vorwort mit dem Aufruf zur Netzwerkbildung und dazu, dass der Kampf härter werden und die gleichzeitig veröffentlichten Artikel mit ideologischer Nähe zum NSU, nämlich zu Combat 18 und zu dem Konzept des leaderless resistance.

Dann stellt NK-Vertreter RA Reinecke den Beweisantrag, den Polizeibeamten Ah. zu seiner Auswertung des Computers „Revoltec“ des Angeklagten Wohlleben zu vernehmen: Der Zeuge wird darlegen, ggf. nach ergänzender Auswertung des Asservates, dass sich auf dem Asservat mehr als 650.000 Dateien befinden und darunter auch ein Vielzahl, die Rückschlüsse auf die ausländerfeindliche Haltung des Angeklagten Wohlleben zulassen.
Begründung: Der Angeklagte Wohlleben hatte beantragt, zwei auf der bei ihm sichergestellten Festplatte gespeicherten Dateien (Asservat 24.1.3.1) zu verlesen. Der Angeklagte meint damit beweisen zu können, dass er nicht ausländerfeindlich war und ist. Allerdings befinden sich insgesamt mehr als 650.000 Dateien auf diesem Datenträger. Wenn der Angeklagte Wohlleben selbst die dort gespeicherten Dateien für authentisch hält, so ist es allerdings nicht ausreichend, wenn lediglich zwei ausgesuchte Dateien zur Kenntnis genommen werden. Mindestens genauso wichtig sind dann weitere auf dem Rechner gespeicherte Dateien, aus denen sich dann ein anderes Bild des Angeklagten Wohlleben ergibt. Der Zeuge [Ah.] hatte im Rahmen der bisherigen Auswertung lediglich festgehalten: „Auf die rechtsextremistische Gesinnung, auf die NPD-Aktivitäten und die Homepageerstellung des Ralf Wohlleben wird nicht weiter eingegangen, da diese hinlänglich bekannt sind.“
Der Verhandlungstag endet um 11:54 Uhr.

Vollständige Version des Protokolls.

Kommentar des Blogs „nsu-nebenklage„: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2016/07/20/20-07-2016/