NSU-Untersuchungsausschuss: „Aktenzeichen MV ungelöst“

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Nichtaufklärung und Konsequenz­losigkeit scheinen seit Jahrzehnten das staatliche Gegenstück zu extrem rechten Organisierungen und rassistischen Gewaltexzessen in Mecklenburg-Vorpommern zu sein. Schon das Pogrom von Rostock­-Lichtenhagen 1992 zog mit der Abschiebung der Betroffenen die schwerwiegensten Folgen für die Angegriffenen nach sich. Die Täter blieben – bis auf wenige Ausnahmen – straffrei (siehe AIB Nr. 54). Und heute geben Akteure von „Nordkreuz“, dem zuletzt bekannt gewordenen rechtsterroristischen Netzwerk in Mecklenburg-Vorpommern, unverfroren zu, dass ihre Gruppe weiter aktiv ist. Geheim tagende Aufarbeitungskommissionen und ein lasches Urteil vor Gericht scheinen sie nicht beeindruckt zu haben (siehe AIB Nr. 126). Seit mehr als zwei Jahren soll nun ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss die NSU-Terrorserie im Nordosten aufarbeiten. Doch von echter Aufklärung ist man weit entfernt.

von Caro Keller (NSU-Watch)

Als sich Mecklenburg-Vorpommern damit konfrontiert sah, ein Tatort des NSU gewesen zu sein, sah man wie Hamburg und im Gegensatz zu allen anderen Tatort­ländern keine Notwendigkeit, eine ernstzunehmende parlamentarische Aufklärung anzustoßen. Immerhin: Einige Akteu­r*innen ließen nicht locker, und so wurde 2017 zunächst ein Unterausschuss des Innenausschusses eingerichtet, um sich dem Thema zu widmen. Einziges Ergebnis: Für Aufklärung braucht es einen richtigen Untersuchungsausschuss, da nur hier das Recht auf Akteneinsicht und auf die Ladung von Zeug*innen besteht. Dieser wurde dann tatsächlich im April 2018 eingesetzt. Damit war man zwar spät dran, überholte aber immerhin Hamburg, das bis heute keinen NSU-Untersuchungsausschuss hat.

Doch allein die Einrichtung eines Gremiums zieht noch keine Aufklärungserfolge nach sich und so kommt dieser Momentaufnahme des Ausschusses in Mecklenburg-Vorpommern ein zeitloser Charakter zu. Wäre sie bereits vor zwei Jahren geschrieben worden, sie wäre nicht von grundlegend neuen Ereignissen und Erkenntnissen überholt worden. Die Beschreibung des NSU-Komplexes in Mecklenburg-Vorpommern ist seit Jahren nahezu identisch, es könnten nur immer neue Blickwinkel und ausgefallenere Formulierungen gefunden werden. Trotzdem bliebe es dabei: Alle bekannten Verstrickungen wurden zu Genüge benannt, alle wichtigen Fragen gestellt und alle Forderungen mal mit mehr, mal mit weniger Nachdruck ausgesprochen.

Aufgeklärt werden muss nach wie vor, welche Neonazi-Netzwerke das NSU-­Kerntrio bei seinem Mord an Mehmet Turgut am 25. Februar 2005 in Rostock, bei seinen beiden Banküberfällen in Stralsund 2006 und 2007 sowie bei den diversen Urlauben seit Mitte der 1990er Jahre unterstützt haben. Unaufgeklärt ist auch die Rolle des Neonazi-Fanzines „Der Weiße Wolf“, dem der NSU 2002 seinen Brief mit Spende zukommen ließ und im Gegenzug hierfür mit den Worten „Der Kampf geht weiter“ gegrüßt wurde. (Siehe AIB Nr. 120) Unklar ist weiterhin der Unterstützungsbeitrag des ehemaligen Rechtsanwalts und NPD­-Landesvorsitzenden Hans Günter Eisenecker, als er kurz nach dem „Untertauchen“ erfolglos versuchte, Beate Zschäpe juristisch zu vertreten. Ebenso offen bleibt auch die Rolle der Behörden. Der Verfassungsschutz wusste 1999 von einem Treffen der NSU-Unterstützer Carsten Schultze und Ralf Wohlleben mit eben diesem Eisen­ecker in Goldenbow nahe Schwerin. Die Behörde wurde durch eine V-Person auch über den Geldeingang beim Neonazi-Fanzine informiert. Doch dieses Wissen versandete offenbar, ohne die Terrorserie zu stoppen.

Ein Untersuchungsausschuss, der siebeneinhalb Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU eingesetzt wird – das klingt spät, hätte aber auch einige Vorteile haben können: Viel Vorarbeit war zu diesem Zeitpunkt bereits von anderen Untersuchungs­ausschüssen, vom NSU-Prozess, der dortigen Nebenklage und durch antifaschistische und journalistische Recherchen geleistet. Allein die Fragen und Fakten, die heute zu Mecklenburg-Vorpommern zu nennen sind, liegen nur deswegen offen zu Tage.

Bekannt waren auch die Fallstricke der Arbeit in Untersuchungsausschüssen, beispielsweise die lügenden Verfassungsschutzmitarbeiter*innen und Neonazis, die Blockaden bei der Aktenlieferung, die Schwärzungen in den Akten, die in den Parlamenten ankommen. All das hätte sich der Untersuchungsausschuss im Nordosten zu Nutze machen können und auch müssen. Doch 2018 zog dahin ohne eine einzige öffentliche Sitzung. Die erste Sachverständigenanhörung fand im Januar 2019 statt, die nächste im Juni 2019. Von großem, dringendem Aufklärungsinteresse getrieben waren die Abgeordneten also offenbar nicht an die Arbeit gegangen.

Erwartungsgemäß stemmt sich auch das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern nach Kräften gegen die Aufklärungsbemühungen. Erst einmal mussten abhörsichere und völlig abgeschottete Räumlichkeiten für Vernehmungen und Akten im Parlament gebaut werden, was den Ausschuss einige Monate kostete. Der Eifer des Innenministeriums ließ dann aber nach, als es darum ging, diese Geheimräume zu füllen. Seit knapp zwei Jahren wartet der Ausschuss beispielsweise auf die Akten zum „Blood&Honour“-Netzwerk. Einzig die Fraktion DIE LINKE scheint sich an dieser Blockadehaltung zu stören. Das Innenministerium ruht sich indes auf einem selbst erstellten Bericht von 2013 aus, in dem zusammengefasst steht, dass in Mecklenburg-Vorpommern nichts falsch gelaufen sei.

Der Ausschuss arbeitete unterdessen die Ermittlungen nach dem Mord an Mehmet Turgut auf – ein logischer Anfang, der sich allerdings bis in den Sommer 2020 zog. Ein Teil der Ermittler*innen wurde bereits vor anderen Gremien gehört – hier hätte also der Vorteil genutzt werden können, Altbekanntes vorauszusetzen und in die Tiefe zu gehen. Die meisten Abgeordneten nutzten ihre oft mäßig interessiert geführten Befragungen aber offenbar in erster Linie dafür, sich ein grundsätzliches Wissen zum NSU-Komplex anzueignen, das sie zumeist nicht mitbrachten.

Dieses Desinteresse am Untersuchungsgegenstand führte auch dazu, dass die Zeug*innen unwidersprochen rassistische Gerüchte über Mehmet Turgut, sein Umfeld und alle anderen vom NSU Betroffenen repr­oduzieren konnten, die spätestens seit 2011 bekanntermaßen widerlegt sind. Das Ergebnis dieser Beweisaufnahme ist weder neu noch überraschend: Die Ermittler*innen verfolgten jedes Gerücht zum Mord an Mehmet Turgut akribisch, solange es Drogenhandel oder Mafiageschichten beinhaltete. Ging es um die Vermutung der Angehörigen, es könne sich um einen rechten Mord handeln, sahen sie keine Ermittlungsansätze. Kurz: Auch in Mecklenburg-Vorpommern wurde nach dem Mord an Mehmet Turgut rassistisch ermittelt.

Dass im Kampf gegen rechte Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern schon immer das eigene Image wichtiger war, als dieser tatsächlich etwas entgegenzusetzen, zeigten weitere Befragungen im NSU-Untersuchungsausschuss im Sommer 2020. Geladen waren Beamte der polizeilichen Sondereinheit „Mobile Aufklärung Extremismus“, kurz MAEX. Da diese speziell für den Kampf gegen rechte Strukturen eingesetzt waren, erhoffte sich der Ausschuss dementsprechend wertvolle Informationen zu Neonazistrukturen in Mecklenburg-­Vor­pommern. Stattdessen zeigte sich, dass die Einheit ab 1999 zwischen Jugend­clubs, Badestränden und Tankstellen hin- und hertingelte, um mit „grölenden Jugendlichen“ – wie die Neonazis von den Beamten meist bezeichnet wurden – ins Gespräch zu kommen. Als Ziel formulierten die Beamten fast einhellig, dass die Jugendlichen nicht mehr in der Öffentlichkeit wahrnehmbar sein sollten. An Namen und Strukturen konnten und wollten sich die Polizisten nicht mehr erinnern. Der ehemalige Leiter der MAEX zeigte sich vor dem Untersuchungsausschuss dennoch zufrieden. Die Szene habe sich im Laufe der Jahre wegentwickelt von „Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel“. Ganz sicher, ob das ihnen oder der NPD zu verdanken sei, war er sich aber nicht.

Dem Ausschuss bleibt noch Zeit bis Anfang 2021, dann muss der Abschlussbericht fertiggestellt werden. Die wichtigen, oben genannten Aspekte sind noch nicht einmal angekratzt. Momentan ist zu befürchten, dass wohl auch der NSU-Untersuchungsausschuss zur reinen Imagepflege für Mecklenburg-Vorpommern verkommt. Wie für Hamburg gilt jedoch weiterhin, dass es für eine ernstzunehmende parlamentarische Aufklärung nie zu spät ist. Mit dem Ende der laufenden Legislaturperiode kann die Aufarbeitung des NSU-­Komplexes im Nordosten nicht als abgeschlossen gelten. Falls es jedoch kein ernsthaftes Interesse an einer Weiterführung des Untersuchungsausschusses gibt, ist es weiterhin an (antifaschistischer) Recherche, neue Erkenntnisse zum NSU-­Komplex in Mecklenburg-Vorpommern zu Tage zu fördern.

Dieser Artikel erschien zuerst im Antifaschistischen Infoblatt 128