Protokoll 14. Verhandlungstag – 24. Juni 2013

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Die neue Verhandlungwoche begann mit einer Erklärung und einem Beweisantrag des Nebenklage-Anwaltes Bliwier, der Kontakte zwischen den Neonazi-Szenen in Dortmund und Kassel beleuchten möchte –  vor allem ein Treffen 2006 im Rahmen eines Rechtsrockkonzertes in Kassel, bei dem auch V-Leute des Verfassungsschutzes sowie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt anwesend gewesen sein sollen. Die darauf folgenden Zeug_innenbefragungen zum Mord an Abdurrahim Özüdoğru, der am 13.06.2001 in seiner Änderungsschneiderei in Nürnberg durch zwei Kopfschüsse ermordet wurde, geben einen ersten Einblick in die mitunter rassistisch vorverurteilende Gedankenwelt der Polizei.

[Türkçe]

Zeug_innen:

  • Karlheinz B. (POK, erster Beamter am Tator des Mordes an Özüdoğru)
  • Norbert H. (KHK, Lichtbildmappe zum Mordfall Özüdoğru)
  • Jürgen K. (KHK, Nachermittlungen zum Mordfall Özüdoğru)
  • Rita G. (Zeugin Mordfall Özüdoğru)
  • Sabine M. (Zeugin Mordfall Özüdoğru)
  • Michael Lö. (Zeuge Mordfall Özüdoğru)
  • Harald Mi. (Zeuge Mordfall Özüdoğru)

Die Sitzung beginnt um 9.50 Uhr. Anwesend ist als Nebenklägerin die Tochter des am 13. Juni 2001 in Nürnberg ermordeten Abdurrahim Özüdoğru. Bevor es jedoch um die näheren Umstände des Mordes an Özüdoğru geht, möchte der Nebenklage-Vertreter Rechtsanwalt Thomas Bliwier noch eine Erklärung zur Aussage von Carsten S. und einen Beweisantrag verlesen.
Entscheidend an der Vernehmung von S. sei, so Bliwier, Folgendes: S. habe bestätigt, dass die Angaben aus einem Bericht des Verfassungsschutzes von 8. Dezember 2011 zutreffen, dass er, S., einer Quelle des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz im März 1999 berichtet habe, dass er jetzt den Kontakt zum Trio hält, möglicherweise auch wie er den Kontakt halte. Daher beantragt Bliwier, diesen Vermerk zu verlesen und den Zeugen zu laden. Dieser werde bestätigen, dass die Angaben richtig sind und er die Quelle war.
Erheblich sei dies deswegen, weil es dem LfV Thüringen möglich gewesen wäre, das Trio zu ermitteln und festzunehmen zu lassen. Dies sei für die Strafzumessung wichtig, weil im Raume stehe, ob staatliche Stellen die angeklagten Taten hätten verhindern können. Es gehe der Familie Yozgat nicht um das Strafmaß, sondern um die Frage des Warum und auch darum, welchen Anteil staatlichen Stellen hatten. Neben den Angaben des Angeklagten S. habe Beate Zschäpe den Prozess möglicherweise ungewollt vorangebracht. Dabei gehe es um den Briefkontakt von Zschäpe zu Es gehe jedoch nicht darum, den Brief zu verlesen. Bliwier beantragt erstens Robin Sch. als Zeugen zu laden. Dabei gehe es darum, zu beweisen, dass er in brieflichem Kontakt zu Zschäpe stehe, dass er Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bereits vor seiner Inhaftierung 2007 kannte,  jedenfalls aber Teil der Neonazi-Szene war und Kontakt zu und der Kasseler Nazi-Gruppe „“ pflegte. Zweitens beantragt er Sebastian S. zu laden, um zu beweisen, dass dieser Teil der „ Street Fighting Crew“, einer Schutztruppe für die Rechtsrock-Band „Oidoxie“ gewesen sei, Kontakte zu Robin Sch. unterhalten habe und 2006 und 2007 als V-Mann für das LfV NRW tätig gewesen sein. Darüber hinaus gehe es darum, zu beweisen, dass sich Mitglieder der „Oidoxie Street Fighting Crew“ am 18. März 2006, also in zeitlicher Nähe zu den beiden Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat am 4. und am 6. April 2006, auf einem Konzert von „Oidoxie“ in Kassel befunden hätten, sowie dass Robin Sch. und Sebastian S. sich auf dem Konzert mit Mundlos und Böhnhardt getroffen hätten. Drittens beantragt Bliwier den Zeugen Michel F. zu laden, um zu beweisen, dass dieser Mitbegründer des „Sturm 18“ gewesen sei, in Kontakt mit gestanden habe und dass er für die Sicherheit beim Konzert am 18. März 2006 zuständig gewesen sei und so auch Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt getroffen habe. Viertens beantragt Bliwier, zu laden, um zu beweisen, dass dieser sich ebenfalls auf dem Konzert befunden und Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt getroffen habe, und dass der Kontakt der Neonazis aus verschiedenen Regionen über den „Sturm 18“ zustande gekommen sei. Als letztes beantragt er die Verlesung eines Vermerks des BKA über die weitere Abklärung des Benjamin G. sowie die Vernehmung Benjamin G.s. Dabei gehe es darum, zu beweisen, dass G. engen Kontakt zum „Sturm 18“ gepflegt habe und außerdem seinem V-Mann-Führer, dem ehemals selbst Beschuldigten Andreas T. [Andreas T. war zum Zeitpunkt des Mordes in Halit Yozgats Internet-Café, also am Tatort], über den „Sturm 18“ und das Konzert berichtet habe.
Zu den Gründen führt Bliwier an, dass sich erstmals eine Verbindung von Böhnhardt und Mundlos nach Kassel ergebe. Außerdem werde bewiesen, dass Zschäpe nach wie vor Kontakte zu Personen unterhalte, über die sich Verbindungen zwischen den Taten in Kassel und Dortmund ergeben. Das sei für die Schuldfrage wichtig.Im Unterschied zu Carsten S. habe sich Zschäpe offenbar nicht von der Nazi-Szene distanziert, umso mehr wenn sie Robin Sch. schon vor  2006/2007 gekannt habe.
Außerdem werde bewiesen, dass der Verfassungsschutz in Hessen und NRW Informationen über das unmittelbare Umfeld des NSU gehabt habe. Die zeitliche Koinzidenz zwischen dem Konzert und den Taten in Kassel und Dortmund ergäbe, dass die Ämter durch die V-Mann-Führer zumindest über Verbindungen der beiden Szenen in Kassel und Dortmund Bescheid wussten. Wenn man die Aussage Michel F.s, dass die per Haftbefehl gesuchten Mundlos und Böhnhardt auf dem Konzert gewesen seien, berücksichtige, sei die Beweiserheblichkeit klar. Außerdem könne über den Zeugen Benjamin G. erstmalig eine Verbindung zwischen Andreas T. und dem NSU hergestellt werden.

Vorsitzender Richter Manfred Götzl beschwert sich dann darüber, dass es sich hier nicht oder nur kurz um eine Erklärung zur Aussage von Carsten S. gehandelt habe, sondern um Beweisanträge.

Dann geht es zur Vernehmung des ersten Zeugen zum Mord an Abdurrahim Özüdoğru. Die Zeug_innen sitzen vom Gericht aus links neben den Protokollant_innen, vor den Vertreter_innen des Generalbundesanwalts, und schräg in Blickrichtung der Angeklagten.

In einer Schneiderei in der Gynaler Straße wurde Abdurrahim Özüdoğru (49 Jahre) vom NSU ermordet. (Foto: apabiz)

In seiner Schneiderei in der Gyluaer Straße in Nürnberg wurde Abdurrahim Özüdoğru (49 Jahre) am 13. Juni 2001 ermordet.
(Foto: apabiz)

Erster Zeuge ist der Polizeioberkommissar Karlheinz B., der mit seiner Streife als erster am Tatort, der Änderungsschneiderei des Opfers in der Gyluaer Straße, Ecke Siemensstraße in der Nürnberger Südstadt, ankam. Gegen 21.30 Uhr habe er den Auftrag von der Leitstelle bekommen, es sei eine blutende Person in einem Geschäft gesehen worden. Keine fünf Minuten später sei er mit seinem Kollegen da gewesen. Die Ladentür in der Siemensstraße sei zugezogen, aber nicht verschlossen gewesen. Er habe dann linkerhand an einer Türe einen am Boden sitzenden Mann gesehen, der einen leblosen Eindruck gemacht habe. Durch Fühlen am Arm habe er festgestellt, dass die Person sehr kalt war: : „Die Körpertemperatur war einem lebenden Menschen ziemlich fremd.“ Dann seien Rettungswagen und später der Notarzt gekommen, die den Eindruck, dass die Person tot ist, bestätigt hätten. Er habe dann den Kriminaldauerdienst informiert und den Tatort abgesperrt. Es habe Licht gebrannt, Einbruchspuren habe er nicht feststellen können und er habe einen Einschuss an der Schläfe rechts, eine senkrecht nach unten verlaufende Blutspur und eine Blutlache festgestellt. Die Person, die den Rettungsdienst informiert hat, habe gesagt, sie sei selber nicht in den Laden gegangen. Weiter sagt B., auch der Rettungsdienst habe nichts verändert. Es seien auch Personen auf die Straße gekommen wegen des Aufsehen erregenden Ereignisses. Er habe erfahren, dass der Tote der Betreiber der Änderungsschneiderei sei. Der Name habe auch an der Tür gestanden. Eine Nachbarin habe einen Hinweis auf ein ohne Kennzeichen abgestelltes Fahrzeug, das Özüdoğru gehören solle, gegeben. Die an den Laden angrenzende Wohnung Özüdoğrus habe er nicht betreten.

Als nächstes wird nach einer Pause der Zeuge Kriminalhauptkommissar Norbert H. befragt. H. ist verrentet und gehörte früher zur Kriminaldirektion Nürnberg. Er hat die Lichtbildmappe zum Mord an Özüdoğru angefertigt. Er gibt an im Zeitraum zwischen 23.10 Uhr und 23.30 Uhr am Tatort angekommen zu sein, und zwar auf Anfrage des Bereitschaftsdienstes der Kriminalpolizei. Er habe leider eine veränderte Situation vorgefunden, die Kollegen hätten die Leichenposition verändert. Im Folgenden werden die angefertigten Bilder in Augenschein genommen. Für die Verfahrensbeteiligten werden die Bilder an die Leinwand projiziert. Zunächst werden Bilder des „Tatanwesens“ aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, unter anderem aus dem Fenster einer Wohnung gegenüber. Der Laden sei nur aus der Siemensstraße zu betreten gewesen, der Zugang Gyluaer Straße sei „durch Kleiderständer und allen möglichen Unrat verstellt“ gewesen. Die Bilder mit den Nummern 11 bis 22 der Bilder habe er nicht selbst aufgenommen, sie zeigten, so H., wie sich den Beamten des Kriminaldauerdienstes die Auffindesituation dargestellt habe, die er selbst so nicht mehr vorgefunden habe. Die Lage der Leiche sei wohl verändert worden, weil man eine Schusswaffe unter dem Opfer vermutet habe, was er nicht nachvollziehen könne. Bei den ersten Bildern aus der Werkstatt und der Wohnung Özüdoğrus sagt H., dass in den Räumen „gewachsene Unordnung“ festzustellen sei. Ähnlich wird er sich zum Zustand von Wohnung und Werkstatt auch später in seiner Aussage noch auffällig häufig äußern, unter anderem nennt er den Wohnraum Özüdoğrus „das sogenannte Wohnzimmer“. Es folgen drastische Bilder des toten Özüdoğru. Die Bilder zeigen einen Einschuss unterhalb des rechten Nasenloches und einen Einschuss an der Schläfe rechts. Gefunden wurden zwei Patronenhülsen und ein Projektil. Das erste Projektil trat wieder aus dem Schädel des Opfers aus, das zweite blieb stecken. Nach der Auffindesituation der Hülsen zu urteilen, müsse der Schütze einmal aus einer höheren und einmal aus tieferen Position gefeuert haben, so H. Der Leichnam Özüdoğrus lehnte an der Durchgangstür zu seiner Wohnung, in der nichts Tatrelevantes festgestellt wurde. Götzl fragt beim Bild mit der Nummer 69 nach einem Namen, der bei diesem Bild genannt ist. H. sagt, er kenne die Person nicht, aber es solle wohl „eine Freundin gewesen sein, die sich Özüdoğru nach seiner Scheidung zugelegt hat.“ Nach den Tatortbildern werden Bilder einer Rekonstruktion gezeigt, die H. später mithilfe einer Puppe durchgeführt hat. Beim Schuss, der unterhalb der Nase eintrat, müsse Özüdoğru gestanden haben, das zeige eine Gerade, die man vom Eintritts- zum Austrittsloch des Schusses am Hinterkopf und zu einem Projektileinschlag in der Tür ziehen könne. Genaueres hierzu möchte Richter Götzl jedoch erst später im Verfahren vom zuständigen Sachverständigen hören. Es folgen noch Skizzen zur Lage des Tatortes und zur Aufteilung der Räume.

Nebenklage-Vertreter Narin möchte wissen, ob H. damals am Tatort an den Fallrohren des Hauses etwas aufgefallen sei. H.verneint. Dann weist Narin darauf hin, dass 2012 an den Fallrohren des Hauses Aufkleber der 2004 verbotenen Neonazi-Gruppe „Fränkische Aktionsfront“ gefunden worden seien, die aus dem Jahr 2001 stammten. Es sei nicht sicher, ob diese damals schon angebracht waren, aber es sei sicher gut, die Außenaufnahmen in höherer Auflösung zu haben. H. sagt, er könne sich vorstellen, dass Negative der Bilder bei seiner alten Dienststelle seien.
RA Mehmet Daimagüler sagt, H. habe das Opfer auch überprüft wegen einer etwaigen Beteiligung am Drogenhandel. Es sei zu einer Durchsuchungsmaßnahme mit Drogenhunden in Wohnung und Fahrzeug des Opfers gekommen. H. sagt, er könne sich nicht erinnern. Wenn das so passiert sei, dann auf Veranlassung des Sachbearbeiters, einen möglichen Grund dafür könne er nicht nennen.

Es folgt die Mittagspause; um 13.10 Uhr geht es weiter mit dem Zeugen KHK Jürgen K. In seiner Aussage geht es um Nachermittlungen, die er im Jahr 2007 im Rahmen der für die Ceska-Mordserie zuständigen „BAO Bosporus“ (BAO = Besondere Aufbauorganisation) zum Mord an Özüdoğru durchgeführt hat. Zunächst geht es um zeitliche Einordnungen. Er schildert er wie er mit der nachfolgenden Zeugin G. noch einmal deren Weg zur Bank und zurück abgefahren sei. Die Zeugin G, die auch Quittungen der Bank vorgelegt und demnach um 15.51 Uhr Geld bei der Bank eingezahlt habe, habe, so die Rekonstruktion, etwa 5 Minuten gebraucht, um zu ihrem Lotto-Geschäft zurückzukommen. An der Vernehmung der nachfolgenden Zeugin M. im Jahr 2007 habe er ebenfalls teilgenommen. Um evtl. Unstimmigkeiten klären zu können, wird der Zeuge noch nicht entlassen.

Weil die anderen Zeug_innen noch nicht anwesend sind, nutzt Götzl die Zeit, um zunächst Stellungnahmen zum Antrag von RA Bliwier entgegen zu nehmen. RAinSturm, Anwältin von Zschäpe, weist darauf hin, dass Tino Brandt bereits geladen ist. Darüber hinaus sei der Antrag von Bliwier kein Beweisantrag. Der Antrag enthalte „Erkenntnisse ins Blaue hinein“ und widerspreche den Akten. Es handele sich lediglich um einen Beweisermittlungsantrag. Ein Erkenntnisgewinn sei nicht zu erwarten, weil Robin Sch. die ihm bis dahin unbekannte Zschäpe erst angeschrieben habe. Was die Treffen mit Böhnhardt und Mundlos angeht, handele es sich ebenfalls bloß um einen Beweisermittlungsantrag. Es bestehe kein Anlass, den Anträgen nachzugehen. Nebenklage-Vertreter  RA Scharmer schließt sich dem Antrag Bliwiers an, fordert jedoch vor allem Nachermittlungen der Bundesanwaltschaft. Diese erklärt, sie werde sich zu einem späteren Zeitpunkt äußern. RA Bliwier äußert sich zu Sturms Stellungnahme: Die Tatsachen ergäben sich aus den Ermittlungsakten und außerdem habe er es bisher so verstanden, „dass die Rolle bestimmter Dienste auch für die Verteidigung interessant sein könnte.“  Die Frage eines Nebenklage-Vertreters nach Ermittlungen zu den Telefonnummern auf einer Festplatte von Carsten S. weist Bundesanwalt Diemer mit den Worten zurück, dass diese in einer Aktennachlieferung für alle Verfahrensbeteiligten enthalten sei und außerdem sei „hier keine Fragestunde an den Generalbundesanwalt“.

Dann lässt Richter Götzl das Propagandavideo, das nach der Selbstenttarnung des NSU verschickt wurde, und seine zwei Vorgängerversionen in Augenschein nehmen. Fragen dazu möchte er jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt im Verfahren gestellt wissen.

Es folgt die Zeugin G., die die Angaben des Polizeibeamten K. zu ihrer Fahrt zur Bank und zu deren Rekonstruktion bestätigt. Darüber hinaus berichtet sie, dass sich Özüdoğru in der Zeit nach ihrer Fahrt zur Bank wie jeden Tag bei ihr im Laden seine Zeitung, die Hürriyet, besorgt habe. Mehrfach weist sie darauf hin, dass Özüdoğru ihrer Meinung nach ein sehr netter und freundlicher Mensch und ein guter Kunde gewesen sei. Irgendwann nach Özüdoğru sei ein anderer Mann in den Laden gekommen und habe sich bei ihrer Angestellten, die gerade Dienst hatte, eine Packung Marlboro-Zigaretten gekauft. Sie habe den Mann später auf einem Phantombild wiedererkannt. An die Sprache oder einen Dialekt habe sie keine Erinnerung, so G. Auf Nachfrage des Nebenklage-Vertreters Erdal wird Frau G. ein Phantombild aus der Mordermittlung vorgelegt.  Ob das das Phantombild sei, auf dem sie den Mann wieder erkannt habe, will Richter Götzl wissen. G.: „Es ist schon sehr lange her, wie gesagt, aber ich meine, dass es das war. Das verblasst mit der Zeit.“ RAin Schneiders, Anwältin von Ralf Wohlleben, versucht die Zeugin später zu verwirren, indem sie behauptet, die Zeugin hätte gesagt, sie habe den Mann vor dem Mordtag auf einem Phantombild erkannt. Die Zeugin sagt, dass sie das Phantombild in den Nürnberger Nachrichten gesehen habe.

Dann folgt die Aussage der Zeugin M. M. wohnte zum Zeitpunkt des Mordes gegenüber der Änderungsschneiderei. Sie sagt heute aus, dass sie zwei Schüsse gehört habe, dann habe sie zum Fenster hinaus geblickt. Dabei habe sie zwei Männer gesehen, einer davon sei gerade aus der Schneiderei gekommen. Die Männer hätten sich dann entfernt. Sie habe Özüdoğru, den sie im Laufe der Vernehmung mehrfach „das Schneiderle“ oder „das tapfere Schneiderlein“ nennt, dann durch das Fenster des Geschäftes in seinem Laden liegen sehen. Die beiden Männer habe sie einige Tage vor dem Tattag zusammen mit einer blonden Frau in der Straße stehen und sich unterhalten sehen. Von einem der Männer habe sie mit der Polizei ein Phantombild angefertigt. Zeitlich ordnet sie die Vorgänge auf die Nachmittagszeit, weil ihre Kinder an dem Tag wohl früh ins Bett gemusst, zum Zeitpunkt der Schüsse aber noch Nintendo gespielt hätten. Mit ihrer Aussage begibt sich die Zeugin in mehrfachen Widerspruch zu ihren ersten Aussagen 2001 und zu Aussagen, die sie in einer Vernehmung im Rahmen der Nachermittlungen 2007 gemacht hat. Frau M. wirkt sehr unsicher und teilweise konfus. Die Vernehmung wird deswegen einmal unterbrochen. Richter Götzl hält M. mehrfach alte Aussagen vor, nach denen sie ausgesagt habe, nur einen Mann gesehen zu haben oder, dass sie gesehen habe, wie Özüdoğru ein paar Tage vor dem Mord mit einer Gruppe auf der Straße in einer „Mischung aus Türkendeutsch und Ostblockdeutsch“ gestritten habe. Er hält ihr vor, dass sie damals nicht angegeben habe, Özüdoğru in seinem Laden liegen gesehen zu haben. Frau M. antwortet: „Ja, ich schwör's ihnen, ich hab den damals liegen sehen. (…) Ich hab mir das nicht dazu erfunden oder gesponnen.“ Sie verweist unter anderem darauf, dass die Polizei ja auch aus ihrem Wohnzimmerfenster Fotos vom Laden Özüdoğrus gemacht habe. Außerdem sei sie nie danach gefragt worden. Götzl fragt, warum sie nicht die Polizei gerufen habe, immerhin sei der Notruf, der zum Auffinden des Getöteten geführt habe, wohl erst Stunden später eingegangen. M. gibt an, sie könne sich vielleicht auch in der Zeit vertun, sie wisse es nicht mehr. Mehrere Nebenklage-Vertreter_innen stellen Fragen. So wird unter anderem auf einen Vermerk aus einer Altakte zum Mordfall verwiesen, nach dem es unmöglich gewesen sei, aus der Wohnung von M. den Leichnam von Abdurrahim Özüdoğru gesehen zu haben. RA Scharmer fragt M., ob sie den Leichnam vielleicht gesehen haben könne, als sie unten auf de Straße war. Frau M. sagt, sie wisse das nicht. Auch auf die Frage von RA Erdal, ob die Frau, die sie gesehen habe, vielleicht Ähnlichkeit mit der anwesenden Beate Zschäpe gehabt habe, wisse sie keine Antwort. RAin Clemm hält Frau M. eine Aussage aus einer Vernehmung von 2012 vor, nach der sie sicher sei, Beate Zschäpe am Tattag gesehen zu haben. M. sagt, sie wisse es nicht. Schließlich fragt Clemm: „Haben Sie denn heute Angst, hier auszusagen? Möchten Sie nicht aussagen?“ M.: „Ich habe furchtbar Angst.“ Clemm: „Wozu führt das, dass sie sich nicht trauen das zu sagen, was sie erinnern?“
M.:  „Ich trau mich nicht, blöd das von einer erwachsenen Frau zu hören.“ Clemm: „Also, sie könnten uns hier mehr aussagen, aber sie wagen es nicht?“ M.: „Ja.“ Dann fragt Clemm Richter Götzl: „Was machen wir denn jetzt?“ Richter Götzl erwägt, die Vernehmung zu unterbrechen, die Zeugin neu zu laden und ihr einen Zeugenbeistand beiseite zu stellen. In Abwesenheit der Zeugin werden dazu Stellungnahmen eingeholt. Die Verteidigungen André E., Zschäpe und Wohlleben sprechen sich dagegen aus. RA Klemke, Verteidiger von Wohlleben fordert, erst einmal zu klären, worin die Angst der Zeugin bestehe. Die meisten Nebenklage-Vertreter_innen geben an, keine Fragen mehr zu haben. RA Erdal sagt jedoch, er habe noch Fragen. RA Bliwier meint, auf die Angaben der Zeugin könne ohnehin nichts gestützt werden. RAin Clemm stellt fest, dass der Nebenklage Protokolle von Vernehmungen der Zeugin fehlten, diese müssten erst einmal vorgelegt werden, dann werde sie ggf. beantragen, die Zeugin noch einmal zu hören.

Nachdem Frau M. wieder im Saal ist, fragt Götzl sie, worin ihre Angst bestehe. M. antwortet: „Man weiß ja nicht, was außerhalb noch passiert: ich bin allein, mein Mann ist im Ausland am arbeiten.“ Götzl fragt noch einmal konkret nach den Befürchtungen. M.: „Ja, dass mich jemand wegmacht. Wir haben damals das Phantombild erstellt und es war noch kein Gedanke, zu welcher Gesellschaft oder Gruppe die gehören. Nürnberg ist ein heißes Pflaster.“ Danach möchte RA Erdal von M. wissen, ob sie ihn bei der Frage nach Zschäpe angelogen hat. M. antwortet: „Ich weiß es nicht, habe ich gesagt.“ Das sei ihre Erinnerung. Die Vernehmung von M. wird an dieser Stelle unterbrochen, sie wird aber als Zeugin nicht entlassen. Götzl kündigt an, den Beamten zu laden, der M. vernommen hat. RA Scharmer weist Götzl darauf hin, dass die Zeugin beim Gehen in Richtung der Nebenklage mehrfach „Tut mir leid“ gesagt habe.

Der noch nicht entlassene Zeuge K. wird noch einmal zur Vernehmung von M. befragt, bei der er dabei war, gibt aber an, dass es besser sei, dazu den leitenden Beamten zu befragen. RAin Clemm
fragt K. zu einem Vermerk, den er angefertigt habe. Darin stehe, dass er im Rahmen der Ermittlungen Nürnberger Zeitungen auf das Thema Rechtsextremismus ausgewertet habe. Im Vermerk stehe: „Dem Unterzeichner erscheint die Häufung dieser Berichte als interessant.“ K. sagt, er könne sich nicht mehr daran erinnern; auch ob weitere Ermittlungen in Richtung Rechtsextremismus vorgenommen worden sind, wisse er nicht.

Zum Abschluss folgen noch der Zeuge Lö., der damals etwa zwölfjährige Sohn der Zeugin M., und der Zeuge Mi., wohnhaft in der unmittelbaren Nähe des Geschäfts von Özüdoğru. Bei deren Angaben geht es um die Anzahl der Knallgeräusche, die sie gehört haben wollen. Beide geben an, einen Schuss gehört zu haben, wobei der Zeuge Mi. dabei einer früheren Aussage widerspricht. Auf eine Zeit wollen sich beide nicht festlegen. Die ungefähren Zeitangaben bewegen sich aber zwischen 15 Uhr und 18 Uhr. Der Zeuge Lö. wird auch noch dazu befragt, ob seine Mutter mit ihm darüber gesprochen habe, dass sie Özüdoğru im Geschäft habe liegen sehen. Lö. verneint das, er habe sich auch jetzt nicht mit seiner Mutter über die Aussage unterhalten.

Nebenklage-Anwalt Narin regt an, den Tisch in Richtung des Senats zu drehen, das könne den Zeug_innen helfen und ausschließen, dass sie sich eingeschüchtert fühlen.

Die Sitzung endet um 18 Uhr.

Nebenklage-Vertreter RA Hoffmann erklärt zu den Zeug_innenbefragungen im Mordfall Özüdoğru:

„Die Befragung der ermittelnden Polizeibeamten gab einen ersten Einblick in die Geisteshaltung, die es ermöglichte, dass die Mordserie des neonazistischen NSU lange als “Döner-Morde” bezeichnet und gegen die Opfer und ihr Umfeld ermittelt wurde: Während die Nachbarinnen und Nachbarn den Ermordeten alle als sehr freundlichen Nachbarn beschrieben, war es für den Beamten von der Spurensicherung, der die Leiche und den Tatort fotografiert hatte, sehr wichtig, mehrfach zu betonen, dass in der Schneiderei und der Wohnung des Ermordeten eine “gewachsene Unordnung” geherrscht habe; in seinem Bildbericht in der Ermittlungsakte finden sich weitere herabwürdigende Aussagen über türkische Menschen.

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