Medienschau 23. bis 29. Februar

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Die Gedenkfeier für die NSU-Opfer und die bundesweite Schweigeminute beherrschten am 23. Februar und den darauffolgenden Tagen die Medien. Das erste Opfer Enver Simsek wurde am 9. September 2000 von dem NSU hingerichtet, die rassistische Mordserie endete 2006 aus ungeklärten Gründen. Fast 12 Jahre später hält seine Tochter Semiya Simsek eine Rede vor 1200 geladenen Gästen, darunter Angela Merkel, anderen hochrangigen Politiker_innen und weiteren Angehörigen der Mordopfer.

Während sich das Gros der Presse einig ist, dass die Gedenkveranstaltung „sehr bewegend“ und angemessen war, versucht die taz den Finger in die Wunde zu legen: „Die Rede von Semiya Simsek muss die Repräsentanten des Staats doppelt hart treffen. Denn die Frau, die im Hosenanzug vor ihnen steht, ist hier geboren und aufgewachsen, sie ist studierte Pädagogin – und hadert mit diesem Land, ihrer Heimat. Sie quäle sich mit der Frage: „Bin ich in Deutschland zu Hause?“ Im Vorfeld der Gedenkfeier hatte Simsek angekündigt, im Juni in die Türkei zu gehen. [1. http://www.taz.de/Gedenken-zu-Neonazi-Morden/!88311] Die taz meldete via twitter: „Nein, wir schweigen nicht zum #Nazi -Terror. Im Gegenteil.“

„Wir konnten nicht in Ruhe trauern“, wird Semiya Simsek in mehreren Berichten zitiert, „wir durften nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer gab es den Verdacht, dass doch jemand aus der Familie verantwortlich sein könnte – oder das mein Vater ein Krimineller war.“

Auch Angela Merkel erkennt immerhin an: „Einige Angehörige standen jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich sie um Verzeihung.“ Ihre ganze Rede im Wortlaut bringt die Süddeutsche Zeitung. [2. http://www.sueddeutsche.de/politik/merkels-gedenkrede-fuer-neonazi-opfer-im-wortlaut-die-hintergruende-der-taten-lagen-im-dunkeln-viel-zu-lange-1.1291733]

Von der Presse aufgegriffen werden die Forderungen von Ismail Yozgat, der seinen Sohn verlor. Er bedankt sich in seiner Rede [3. http://almanca.hukuki.net/historische-rede-wurde-opfer-der-ubersetzung.htm] bei dem scheidenden Bundespräsidenten Wulff. Das Gerangel um die Präsidentschaftsnachfolge ist auch Thema: Wulff ist laut Spiegel [4. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,816814,00.html] der Wunschpräsident vieler „Migranten“ gewesen, Gauck sähen viele skeptisch.

Doch zurück zur Gedenkveranstaltung: Ismail Yozgat sagt er lehne eine finanzielle Entschädigung ab. „Wir wollen seelischen Beistand“, wird er zitiert [4. http://www.berliner-zeitung.de/neonazi-terror/liveticker-gedenken-in-berlin–merkel-bittet-neonazi-opfer-um-verzeihung,11151296,11692262.html] Er fordert nicht nur, dass „die Mörder und Helfer der Neonazis gefasst werden“, sondern wünscht sich auch, dass die Straße, in der sein Sohn ermordet wurde – die Holländische Straße – in „Halit-Straße“ umbenannt wird. Kassels Bürgermeister Jürgen Kaiser (SPD) äußert sich verständnisvoll, aber skeptisch. [5. http://www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten/indexhessen34938.jsp?rubrik=34954&key=standard_document_44080290]

Am 27. Februar meldet die Stadt Kassel immerhin: „Einstimmig haben alle Fraktionen und fraktionslosen Mitglieder der Kasseler Stadtverordnetenversammlung am 27. Februar 2012 beschlossen, eine „geeignete Form des Gedenkens und Mahnens“ für die zehn Opfer der Neonazi-Mordserie – insbesondere des Kasseler Bürgers Halit Yozgat – zu finden. Dazu soll der Magistrat in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten entsprechende Vorschläge erarbeiten.“ [6. http://www.stadt-kassel.de/aktuelles/meldungen/18035/index.html] Dass vielen Anwohner_innen und Kassler_innen die Umbenennung dennoch zu weit geht, berichtet hr-online. [7. http://www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten/indexhessen34938.jsp?rubrik=36086&key=standard_document_44091328]

In Rostock fand am 27.Februar eine Gedenkkundgebung für ein Opfer der NSU-Rechtsterroristen statt. Im Stadtteil Toitenwinkel hatten sich anlässlich des Todestages von Mehmet Turgut rund 120 Personen aus antirassistischen und antifaschistischen Gruppen sowie Bürger_innen versammelt. Sie wurden am Ende der Veranstaltung von 20-30 Neonazis angegriffen, laut Medienberichten [8. http://www.abendblatt.de/hamburg/polizeimeldungen/article2197953/Rechte-Attacke-auf-Polizei-bei-Gedenken-an-NSU-Opfer.html ] [9. http://www.jungewelt.de/2012/02-28/051.php] wurden Polizisten verletzt.

Die Opfer verhöhnen wollte auch der 47-Jährige ehemalige NPD-Funktionär Rainer Biller, der das Bild eines NSU-Opfers, das aus dem Bekennervideo stammt, mit rassistischen Kommentaren versah und auf facebook veröffentlichte. Er wird wegen Volksverhetzung angeklagt. [10. http://www.nordbayern.de/nuernberger-nachrichten/nuernberg/anklage-gegen-ex-npd-funktionar-1.1881034]

Im übrigen bekommt jetzt auch Sachsen einen eigenen parlamentarischen Untersuchungsausschuss – nach Thüringen und dem Bundestag. Wie zu erwarten, halten CDU und FDP das für überflüssig, es könnten ja mögliche Fehler der schwarz-gelben Landesregierung und von Behörden aufgedeckt werden. Das Gremium soll aus 19 Parlamentarier_innen zusammengesetzt und am 7. März eingesetzt werden. Bis Ende der Legislatur 2014 soll der UA untersuchen, weshalb die Terrorzelle in Sachsen untertauchen konnte.[11. http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/SACHSEN/Sachsen-bekommt-einen-NSU-Untersuchungsausschuss-artikel7919155.php]

Michael Hanfeld kommentiert mit ungewöhnlich staatskritischen Tönen für FAZ am 24.2. die Sendung zum Thema bei Beckmann – übrigens mal wieder mit dem Aussteiger Ingo Hasselbach, Bernd Wagner von Exit und der Journalistin Andrea Röpke. „Wenn die parlamentarische Durchleuchtung des Themas ebenso verlaufen sollte wie die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden, hat die rechte Szene wohl wenig zu befürchten.“ [12. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/faz-net-fruehkritik-beckmann-drohanrufe-zur-einstimmung-11660812.html]

Zu den vielzitierten „Pannen“ der Ermittlungen gehört ja auch die nicht stattgefundene Festnahme Böhnhardts während der Durchsuchung der Garage von Beate Zschäpe in seinem anfänglichen Beisein: Er fuhr während in der Garage 1,4 kg Sprengstoff gefunden wurden ungehindert davon, um für 13 Jahre im Untergrund zu bleiben. Der damals für das Verfahren wegen Volksverhetzung gegen Böhnhardt zuständige Staatsanwalt Gerd Schultz hatte auch den Durchsuchungsbeschluss erwirkt. „Zum Zeitpunkt der Durchsuchung selbst sei er allerdings krank gewesen. Als er die Durchsuchungen beantragte, habe es im Übrigen keinen dringenden Tatverdacht und damit keinen Grund für einen Haftbefehl gegeben“, verteidigt er sich nun. Allerdings beruhte der Tipp für den Sprengstoff-Fund auf einer V-Mann-Quelle.[13. http://nachrichten.t-online.de/zwickauer-terrorzelle-nsu-staatsanwaltschaft-unterschaetzte-gefaehrlichkeit-uwe-boehnhardts/id_54399728/index?news]

Am 29. Februar meldet die Presse (nach einer PM des BGH) wenig überraschend, dass der Bundesgerichtshof die Haftbeschwerde der mutmaßlichen Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe verworfen habe. Sie sei verdächtigt, mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die terroristische Vereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gegründet zu haben. [14. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/nsu-terror-bgh-verwirft-zschaepes-haftbeschwerde-11666525.html]

Neue Erkenntnisse zum NSU gibt es in dieser Woche indes nur wenige. Unter anderem Der Spiegel und die FAZ rekonstruieren den Weg, den die Mordwaffe, eine Ceska, über Tschechien und die Schweiz zu dem Tätern genommen hat. Einer der mutmaßlich in die Weitergabe der Waffe verantwortlichen Schweizer ist am 28. 2. aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil „keine Verdunklungsgefahr“ mehr bestehe. [15. http://www.tagesanzeiger.ch/panorama/vermischtes/NeonaziMorde-Schweizer-freigelassen/story/21556274] Der Co-Betreiber der 2009 geschlossenen Jenaer Neonazi-Boutique „Madley“, Andreas S., soll Carsten S. die Ceska verkauft haben. Die Wohnung von Andreas S. war schon am 25. Januar durchsucht worden. Holger G. soll die entscheidenden Hinweise ausgepackt haben. [16. http://www.focus.de/politik/deutschland/nazi-terror/nsu-gefasster-terror-unterstuetzer-gibt-wertvolle-tipps_aid_717952.html] [17. http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/BRENNPUNKT/NSU-Nazi-Boutique-als-Quelle-fuer-Mordwaffe-artikel7916103.php] Der damalige JN-Funktionär Carsten S. und heutige Beschäftigte der AIDS-Hilfe (inzwischen in gegenseitigem Einverständnis gekündigt), der vor einigen Wochen spektakulär durch die GSG 9 festgnommen wurde, gilt für einen gewissen Zeitraum 1999/2000 als engste Kontaktperson zwischen dem Trio und Ralf Wohlleben. Er ist geständig. [18. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,817223,00.html] [19. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/zwickauer-terrorzelle-mutmasslicher-nsu-helfer-gesteht-waffenlieferung-11660834.html]

Hätte er damals nach seinem Ausstieg Anfang der 2000er Jahre ausgepackt, vielleicht hätte er mit seinen Hinweisen auf die Terrorzelle die Mordserie verhindern können.