»Der Staatsakt war eine Zäsur«

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Über Rassismus, die Morde des NSU und Migration sprach die Jungle World mit Imran Ayata. Er ist Schriftsteller, Autor und Mitgründer von Kanak Attak.

Interview von Christian Jakob, erschienen in der Jungle World Nr. 21 mit einem Schwerpunkt zu Rechtsterror und NSU.
Imran Ayata wird auf dem Hearing „Schweigen und Verschweigen – Rassismus, NSU und die Stille im Land“ am Samstag, 02. Juni 2012, in Berlin eine Keynote halten.

Studien zufolge hat fast jeder sechste Deutsche ein geschlossen rechtsradikales Weltbild. Bei manchen bleibt dies ohne praktische Folgen, andere ermorden Menschen. Haben der Alltagsrassist und der militante Neonazi etwas gemeinsam?

Rassismus artikuliert sich höchst unterschiedlich. Von nett gemeinten Witzen über den Türken-Ali und Türstehern, die einen in einen Club nicht reinlassen, weil es heute »nur für geladene Gäste ist«, bis zur gewalttätigsten Form, wie sie der NSU gewählt hat. Aber ich wäre sehr vorsichtig, all diese Formen gleichzusetzen. Es ist schon ein Unterschied, ob mir jemand sagt: »Geh doch dahin, wo du hingehörst«, oder ob er sich militärisch organisiert und in den Untergrund geht.

Also stehen der Naziterror und die Fremdenfeindlichkeit des Normalbürgers unverbunden nebeneinander?

Nein. Sie alle ziehen eine Linie zwischen dem »eigenen« und den »anderen«, also jenen, die vermeintlich nicht dazugehören. Sie definieren sich über diesen Mechanismus. Die Gemeinsamkeit ist diese Konstruktion. Aber sie wird immer fragiler.

Inwiefern?

Wer kann schon noch die Frage beantworten: Was ist deutsch? Wenn einer in diesen Kategorien denkt, kann man ihn mit zwei, drei Fragen leicht aushebeln. Dein Gegenüber kommt in der Regel sofort ins Schleudern. Sein Gedankengebilde steht auf wackeligen Füßen.

Er kann Ihnen immer noch sagen: »Du jedenfalls nicht!«

Ja, aber auch das wird schwieriger, weil immer mehr der vermeintlich »anderen« ihre Zugehörigkeit reklamieren. Es ist kaum noch möglich, zu bestimmen, was das vermeintlich Deutsche ausmachen soll: Ist es die Sprache? Der Pass? Der »Wertekanon«?

Die Empirie zeigt aber: Rassisten kommen mit diesen Widersprüchen klar.

Die Mehrheitsgesellschaft hält noch daran fest, sich in Abgrenzung zum »anderen« zu definieren. Aber das vermeintlich Nationale ist immer stärker durchtränkt von äußeren Einflüssen. Schauen Sie sich nur die deutsche Fußball-Nationalmannschaft von 1990 und die von heute an. Vielen wird so vor Augen geführt, dass sich das Bild von dem, was »deutsch« ist, verändert. Das macht manchen Angst.

Begünstigt diese Angst militante Formen des Rassismus?

Darauf wird ganz unterschiedlich reagiert. Vom Abdriften ins Rechtsradikale bis zum Versuch, an einer modernen, zeitgemäßen Konstruktion mitzustricken, was heute deutsch sein sollte.

Und wie sieht diese Konstruktion aus?

Das Deutsche definiert sich nicht mehr ausschließlich durch die ethnische Zugehörigkeit, sondern zunehmend auch durch andere Elemente. Zum Beispiel, ob man im Besitz des deutschen Passes ist oder nicht. Besonders gern gilt im Mainstream als deutsch, wer erfolgreich ist – egal ob in der Privatwirtschaft oder der Kulturindustrie. Es ist doch auffällig, wie schnell der Migrantionshintergrund bei Fatih Akın gestrichen wird und er als deutscher Filmemacher gefeiert wird. In diesem Sinne gehören ganz selbstverständlich Samy Deluxe oder Necla Kelek auch dazu.

Das ist doch vergleichsweise sympathisch.

Ja und nein.

Kanak Attak stand für ein sehr politisches, selbstbewusstes Auftreten von Zugewanderten. Ist Ihnen dieser heutige Versuch, das Nationale mit eingemeindeten migrantischen Versatzs­tücken neu zu definieren, nicht suspekt?

Es bietet zumindest die Chance, bestimmte Formen rassistischer Ausgrenzung loszuwerden, die mein Leben und das vieler anderer geprägt haben.

Aber?

Das geschieht immer in einer Weise, in der nur die Migranten im Rampenlicht stehen, die erfolgreich sind und deshalb als Teil des Ganzen verstanden werden. Und andere eben auch weiterhin nicht. Diese Kosten-Nutzen-Erwägungen nähren rassistische Debatten. Auch Thilo Sarrazin hat von den unnützen Migranten gesprochen, die zur Gefahr würden. Es ist aber eine Lüge, dass Deutschland sich abschafft. Deutschland ist lediglich gezwungen, sich als Land unter veränderten Rahmenbedingungen der Globalisierung neu zu erfinden.

Was heißt das?

Es muss sich als weltoffen, als ein Land der Vielen verstehen. Das geschieht nicht aus Lust und Laune, sondern aus Notwendigkeit. Diese Transformation ist ein Schlüsselfaktor für seine Zukunftsfähigkeit. Eine moderne Interpretation dessen zu finden, was deutsch sein soll, ist kein Geschenk an die Migranten, sondern eine Antwort auf Globalisierung und den internationalen Wettbewerb. Deshalb sind auch die NSU-Gewalttaten ein zentrales Problem. Wenn Sie als Teil einer deutschen Wirtschaftsdelegation im Ausland auf den NSU angesprochen werden, können Sie ja nicht einfach sagen: »Keine Ahnung, was da war.«

Viele glauben, dass diese instrumentelle Weltoffenheit mit einer wachsenden Härte gegen die einhergeht, die man hier trotzdem nicht haben will.

Natürlich wird unterschieden zwischen dem IT-Crack aus Indien und dem Flüchtling aus Afrika, zwischen bereichernd und nicht bereichernd. Das löst sich nicht einfach auf. Aber es wird nationalstaatlich immer schwieriger, Flucht und Migration nachhaltig zu regulieren. Dass die Menschen sich auf den Weg machen, dorthin gehen, wo sie glauben, weiterzukommen, das lässt sich nicht verhindern, sondern bestenfalls erschweren.

Das EU-Grenzregime hat also im Grunde schon verloren?

Migration und Transnationalisierung sind unumkehrbar. Das wird an Kraft gewinnen. Unser Leben lässt sich nicht in Nationalstaatsgrenzen pressen. Damit meine ich nicht nur die globalisierten Finanzmärkte und deren Krise. Wenn Sie so wollen, geht das so weit, dass die Demokratie europäischer Staaten heute eben auch auf Lampedusa verhandelt wird.

Wie wirkt das auf den Rassismus in der Gesellschaft?

Staatliche Regulation ist ein wichtiger Teil des Rassismus. Ob und in welcher Form es eine Kausalität zwischen Politik und gewalttätigem Rassismus gibt, kann ich nicht genau sagen. Aber der NSU hat seine Morde nicht entlang einer staatlich-politischen Agenda abgeleitet. Zudem gibt es rassistische Gewalt auch in europäischen Staaten, die eine vermeintlich »liberalere« Migrationspolitik gemacht haben. Selbst wenn die Politik frei wäre von rassistischer Ausgrenzung, würde das nicht gewährleisten, dass es keine Nazi-Morde gibt.

Hat sich das im Umgang mit dem NSU gezeigt?

Es ist ein riesiger Unterschied, ob ein Bundeskanzler sagt: Ich gehe nicht nach Mölln, wie 1992 – oder ob es einen Staatsakt gibt, wie heute. Das war eine unglaublich wichtige symbolische Handlung, eine Zäsur, dass der Staat nun demonstrativ herausgestellt hat: Das sind unsere Bürger. Diese Reaktion war deutlich angemessener als die der Polizei, der Medien und der migrantischen Communities.

Inwiefern?

Die Polizei hat Begriffe geprägt wie »Dönermorde« oder »Soko Bosporus«, das reproduziert rassistisches Denken. Auch Medien fielen sofort in rassistische Klischees zurück. Und migrantische Communities waren nicht in der Lage, dem etwas entgegenzusetzen. Sie sind Autokorso gefahren oder haben mit »Schweigen gegen das Schweigen« reagiert, statt die nötige gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Die antirassistische Bewegung übrigens auch nicht.

Wie hätte diese nötige Debatte denn aussehen sollen?

Mir hätte es gereicht, wenn wir reklamiert hätten, gemeinsam und für uns darüber zu befinden, wie wir miteinander leben wollen. Was wollen wir? Was wollen wir nicht? Was fordern wir ein? Und was sind wir nicht mehr bereit mitzutragen? Diese Chance haben wir verpasst.