Nichts geahnt und gewusst? – Der NSU-Prozess in München hat begonnen. Eine Zusammenfassung

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Von Felix Hansen, erschienen in Lotta #52 (Sommer 2013)

 

Knapp eineinhalb Jahre nach der Selbstenttarnung des hat am 8. Mai der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Oberlandesgericht München begonnen. Nach zähen juristischen Formalitäten sagte als erster Angeklagter der Düsseldorfer Carsten Sch. aus – und sorgte schon gleich für unerwartete Neuigkeiten.

Die ersten Prozesstage waren von juristischen Auseinandersetzungen zwischen den Anwält_innen der Angeklagten und dem Gericht geprägt. Noch bevor es überhaupt zur Anklageverlesung kam, gab es Befangenheitsanträge der Verteidigung von Beate Zschäpe und . Wohlleben wird als einziger Angeklagter von Szene-AnwältInnen verteidigt: , Ex- Mitglied aus Jena und . Für Besorgnis unter den Nebenkläger_innen und ihren Anwält_innen sorgte kurzzeitig der Vorschlag von Richter , den Kölner Keupstraßen-Anschlag vom restlichen Verfahren abzutrennen. Dies ist nun aber vorerst kein Thema mehr.

Zwei Angeklagte sagen aus

Von den fünf Angeklagten hatten Holger G. und Carsten Sch. bereits bei den Ermittlungen Aussagen bei der Bundesanwaltschaft gemacht und das ihnen Vorgeworfene teilweise eingeräumt. G. wird vorgeworfen, dem Zwickauer trio eine Waffe überbracht und seine Papiere zur Verfügung gestellt zu haben. In einer verlesenen Erklärung gestand er die Vorwürfe weitgehend. Die taten will er als Freundschaftsdienst und nicht als politische Tat verstanden wissen. In seiner Aussage entschuldigte sich G. bei den Angehörigen der Opfer. Er erklärte, das untergetauchte Trio regelmäßig getroffen zu haben. Noch im Sommer 2011 beantragte er einen Reisepass für Uwe Böhnhardt und ließ sich für das Passfoto sogar die Haare schneiden, um ihm ähnlicher zu sehen. Doch was die drei Untergetauchten trieben, will er nicht geahnt haben – und von einer „Terrorzelle“ erst recht nichts. „Es fällt mir bis heute schwer, das Bild damit in Einklang zu bringen, das ich von ihnen hatte“, so G.. Überhaupt sei er bereits 2004 aus der Neonazi-Szene ausgestiegen. Wieso er später noch an Aufmärschen teilnahm und noch 2011 ein Neonazi-Konzert besuchte, konnte nicht näher geklärt werden, da G. keine Fragen zu seiner Aussage beantworten wollte. Anders als G. ging Sch. auf alle Fragen des Gerichts, der Nebenklage und fast allen Verteidiger_innen ein. Überraschenderweise verweigerte er Antworten von Wohllebens Verteidigung, so lange sich dieser nicht selbst vor Gericht erkläre. Es gehe um die Frage der „Waffengleichheit“. Darum, dass nicht nur er sich „nackig mache“, sondern auch Wohlleben, so Sch.. Die wesentlichen Fakten schienen bereits vor dem Prozess bekannt zu sein: Sch. machte 1997 in Jena eine Ausbildung und bekam Kontakt zur örtlichen Neonazi-Szene, wo er auch Zschäpe, und Böhnhardt kennenlernte. 1999 wurde er stellvertretender Vorsitzender der NPD Jena unter Ralf Wohlleben, ein Jahr später stellvertretender JN-Bundesgeschäftsführer und Mitte 2000 schließlich stellvertretender JN-Vorsitzender in Thüringen. Zu dieser Zeit besorgte Sch. die Ceska-Pistole, diejenige Waffe, mit der später neun Migranten ermordet wurden, und brachte sie zu den drei Untergetauchten nach Chemnitz. Zeitweise war er die Kontaktperson zwischen den Jenaer Unterstützer_innen und dem Trio ein. Später zog er sich aus der Szene zurück, begann ein Studium an der FH Düsseldorf und gab sich dort als reuiger Ex-Neonazi zu erkennen, ohne jedoch entscheidende Fakten über seine Vergangenheit zu offenbaren (vgl. LOTTA #47, S. 33f sowie S. 23 in dieser Ausgabe).

„Spaß“ statt Ideologie

Sch. berichtete, wie er in Jena , Sänger des Balladen-Duos und Bruder des -Anführers André Kapke, kennenlernte. 1997 sei er auf seinem ersten JN-Kongress in Fürth gewesen und habe ab dieser Zeit auch an Aufmärschen teilgenommen. Auch an Angriffen auf Linke und Sachbeschädigungen war Sch. beteiligt. So berichtete er vor Gericht, wie er und andere Neonazis Linke angriffen, die bei dem Angriff schwer verletzt wurden, und einen mobilen Döner-Imbiss umwarfen. Diese hätten eben ihrem Feindbild entsprochen, oft aber habe nur der „Spaß“ im Vordergrund gestanden. Die eigene Ideologie klammerte er dabei aus, das Wort Rassismus fiel an den ersten Tagen überhaupt nicht. Am Ende der Befragung kommentierte ein Nebenklage-Anwalt, Sch. stelle sich rückblickend als „Antirassist in der NPD“ dar. Auch bei der Frage, welche Vorstellungen er gehabt habe, was mit der Waffe passieren würde, zeigte sich Sch. naiv. Sie sei vielleicht für Banküberfälle bestimmt gewesen, an andere Gedanken könne er sich nicht erinnern.

Sch. macht „reinen Tisch“

Nach zwei Tagen Befragung überraschte Sch. dann mit der Ankündigung, nun „reinen Tisch“ machen zu wollen. Aus Sorge um seine Angehörigen und Freunde habe er in seinen bisherigen Ausführungen Sachen zurückgehalten, auch um den Kindern von Wohlleben „nicht den Vater zu nehmen“. Anders als zunächst dargestellt, faszinierte Sch. schon in der Schule „das Dunkle“, wie er es nannte. HJ und SS imponierten ihm ebenso wie Waffen. Eine damals gekaufte Schreckschusspistole habe er erst nach Auffliegen des NSU im November 2011 in den Rhein geworfen. Er habe schon zwei Monate vor seiner Festnahme geahnt, dass die Ermittler_innen bald auf ihn kommen würden und habe nicht gewollt, dass bei ihm als Sozialpädagogen eine Schreckschusspistole gefunden werden würde.

Wie weit Sch. Wissen ging, zeigte sich unter anderem bei folgender Aus- sage: Nach einem Telefonat mit den Untergetauchten habe ihm Wohlleben erzählt: „Die haben jemanden angeschossen“, worauf er gedacht habe: „Hoffentlich nicht mit der Waffe”. Sch. beschrieb, wie Böhnhardt und Mundlos bei ihm die Pistole bestellt hätten, eine Halbautomatik mit ausreichend Munition. Das Geld für die Waffe habe er von Wohlleben bekommen und sei damit in den Jenaer Szene-Laden Madley gegangen. Dort bekam er die Ceska und auch den Schalldämpfer, obwohl er diesen nicht bestellt haben will. Zuhause habe er es cool gefunden, eine echte Waffe in den Händen zu haben. Auch von einem weiteren mutmaßlichen NSU-Anschlag wusste Sch. zu berichten, nachdem er dies zuvor verschwiegen hatte. Mund- los und Böhnhardt hätten ihm bei einem Treffen von einer „Taschenlampe“ erzählt, die sie in einem Geschäft in Nürnberg abgestellt hätten, die Sache habe aber nicht geklappt. Auch die Bundesanwaltschaft wurde von dieser Aussage völlig überrascht. Bisher hatten die Ermittler_innen beteuert, zahlreiche Anschläge überprüft zu haben, doch ein Rohrbombenanschlag auf eine türkische Gaststätte in Nürnberg war offensichtlich nicht darunter. Bei dem Anschlag im Juni 1999 zündete die Bombe nicht richtig, verletzte aber trotzdem einen 18-Jährigen. Auch damals erkannte die Polizei keinen rassistischen Hintergrund – in Presseartikeln ist von Schutzgelderpressung und Drogendelikten des Wirtes die Rede – ein Muster, das sich auch durch sämtliche weiteren Ermittlungen der NSU-taten vor dessen Selbstenttarnung zieht.