Was ein ehrbarer Mann tun muss

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Der Roman „Hunter“ von William Pierce als Vorlage für den Terrorist

Der Roman „Hunter“ ist in der Diskussion um neonazistische Terrorismus-Konzepte und Blaupausen für das organisierte Morden des NSU bisher gänzlich unbeleuchtet. Im Deutschland der 1990er Jahre hat anscheinend kaum jemand dieses Buch gelesen – weder viele Neonazis, noch die Behörden, noch Antifaschist*innen. Doch eine Analyse des Romans lohnt sich: Sein Protagonist ist der Prototyp des Lone Wolf mit Organisationsanbindung. Und auch das Verhältnis zwischen Naziterrorist und Geheimdienst spielt eine zentrale Rolle.

von Eike Sanders (NSU-Watch / apabiz)

1989 auf Englisch erschienen, ist „Hunter“ der zweite Roman des durch die bekannt und populär gewordenen Autors „“ (Pseudonym von ). Unter US-amerikanischen „White Supremacists“ wurde er durchaus positiv rezipiert. Der Autor William Luther Pierce, US-amerikanischer Neonazi, Gründer und Chef der National Alliance und Autor verschiedener Aufsätze und des Roman „“ ist weltweit berüchtigt und galt zu Lebzeiten (bis 2002) als die wichtigste Inspirationsquelle für militante „White Supremacists“ and „Anti-Government Extremists“.[1] Hunter wurde in den USA laut Eigenangabe des Verlags schon bis 1998 61.000 Mal verkauft [2]. Die Turner Diaries sollen zwischen 1978 und 2001 angeblich 300.000 verkauft worden sein.[3] Über die digitale Verbreitung ist nichts bekannt, beide Romane sind aber problemlos als pdf im Netz erhältlich. Pierce selbst hielt angeblich den Hunter für besser gelungen als die Turner Tagebücher: “I do think I was a much better writer of fiction with [Hunter] than with Diaries. I see it as ironic that The Turner Diaries has had such a big impact and, at least so far, Hunter hasn’t. But I think that is not related to the quality of the two books.”[4]

Das Buch ist ein fiktionaler Roman, der in Washington D.C. der Jetztzeit (1980er Jahre) spielt. Der Hauptprotagonist und die absolute Identifikationsfigur ist der 40jährige Rechtsterrorist, Vietnam-Veteran, Ingenieur und Berater des Verteidigungsministeriums Oscar Yeager. Der Name Yeager ist, wie ihm selbst gesagt wird, die anglisierte Form des deutschen Wortes Jäger. So schlecht das Buch auch geschrieben ist und wie billig die Qualität der Erzählsprache, der Handlungsentwicklung und der Plastizität der Figuren ist – ein Roman ist anders als ein Artikel oder ein Manifest darauf angelegt, die Leser*innen auf einer emotionalen Ebene der Empathie zu packen. Auf den 259 Seiten der Erstausgabe wird den Leser*innen die Unausweichlichkeit und die moralische Pflicht eines entschiedenen militanten Kampfes nahegelegt. Die Leitfrage „How should an honorable man confront evil?“ ist dem Roman vorangestellt, über das Vorbild Yeager liefert der Autor die Antwort: Werde Naziterrorist.

Der Roman ist trotz der extremen Flachheit und Eindimensionalität des Hauptcharakters ein Bildungsroman im klassischen Sinne: Die ungebrochene Identifikationsfigur Yeager beginnt als autonom agierender emotional geleiteter Feierabendterrorist. Er professionalisiert und radikalisiert sich und kollaboriert eine Zeitlang mit einem FBI-ler. Schließlich wird er der heimliche Chef in einer Zelle organisierter RassistInnen, die bereit sind, den Kampf um die Köpfe auch durch illegale Aktivitäten zu führen. Er selbst bleibt aber der „Lone Wolf“, also der individuell und außerhalb von Befehlsstrukturen agierende politisch motivierte Täter, der auf dem Weg zum perfekten Terroristen verschiedene Stadien durchläuft und diese den Leser*innen durch innere Monologe oder Dialoge mit anderen Figuren erklärt. Das Buch richtet sich offensichtlich vor allem an die eigene national-sozialistische Szene und soll sie radikalisieren. Der Leser (weniger die Leserin) wird für die potenzielle eigene Entwicklung vom skrupelhabenden Sympathisanten der national-sozialistischen Idee zum entschlossenen militanten Kämpfer quasi an die Hand genommen. „From the beginning with Hunter, I had this idea of how fiction can work as a teaching tool in mind“ schrieb William L. Pierce. [5] Nicht-rassistische (und nicht-antisemitische etc.) Leser*innen dürften das Buch aufgrund der Gewalt- und Hassverherrlichung hochgradig abstoßend finden.

Während im Hunter von der heutigen gesellschaftlichen Situation ausgehend das Denken und Handeln des Neonazis Oscar Yeager affirmativ mitverfolgt wird, spielen die Turner Diaries in einer fiktiven nahen Zukunft, wo der Protagonist Earl Turner die Entwicklung Oscar Yeagers, wie sie im Hunter zu lesen ist, schon hinter sich hat und durch terroristische Taten innerhalb einer Untergrundzelle eine „Weiße Revolution“ herbeiführt. Insofern ist Hunter (erschienen 1989) sehr wohl als „Prequel“, also als Prä-Fortsetzung des Romans Turner Diaries (1978) zu sehen, da die Handlung von Hunter in der internen Chronologie und Entwicklungslogik vor den Turner Diaries angesiedelt sind.

Thema 1: Heranführung an das Morden

Die Geschichte beginnt mit der detaillierten Beschreibung eines Doppelmordes durch Oscar Yeager an einem „interracial couples“, sein sechster Doppelmord an „gemischten“ Paaren in 22 Tagen.

(c) mamarosa / photocase.de

(c) mamarosa / photocase.de

Sein Modus Operandi ist zunächst immer der gleiche: gezielte tödliche Schüsse auf die Personen ohne Ansprache aus seinem Auto heraus, die selbe Waffe, das selbe Auto, die Morde auf verschiedenen Parkplätzen. Später begeht der Protagonist Morde an Politikern und öffentlichen Persönlichkeiten sowie Bombenanschläge. Die Bilanz dieses „Ein-Mann-Krieges“ umfasst am Ende des Romans weit über 100 Tote. Yeager handelt dabei im Alleingang und hat keine MitwisserInnen. In der detaillierten Beschreibung der Morde und der Beschreibung der befriedigten Gefühle des Mörders nach seinen Taten – inklusive erotischer Szenen mit seiner Freundin und Gesinnungsgenossin Adelaide nach den Taten – werden die LeserInnen ähnlich wie bei den Turner-Tagebüchern der Gewalt gegenüber nicht nur abgestumpft sondern über ihren angeblichen Wert und ihre positiven emotionalen und politischen Folgen belehrt. Die ideologische Grundlage wird in langatmigen gestelzten Dialogen mitgeliefert: Yeager formuliert seinen Hass auf die „Durchmischung der Rassen“, er beklagt den Zustand der heutigen dekadenten und verblödeten Gesellschaft, die wachsende Drogensucht und die offene Homosexualität. Seine Verachtung richtet sich gegen Medien, die Politik und politische und zivilgesellschaftliche Organisationen, die immer neue Gesetze gegen die (angebliche) Diskriminierung von Nicht-Weißen und für die Gleichbehandlung fordern und durchsetzen würden, um so die Weißen von ihrer Identität und jeglicher Teilhabe und Macht abzuschneiden. Durch zwei andere Figuren wird Yeager und mit ihm die LeserInnen zum „die Zusammenhänge (sprich die „jüdische Weltverschwörung“) verstehenden“ Antisemiten geschult. Der Sinn der Morde innerhalb der neonazistischen Logik findet sich auf der persönlichen Ebene, aber vor allem auch auf der gesellschaftlichen, revolutionären: Die Morde hätten für ihn einen persönlichen therapeutischen Wert, mehr als ein „unpersönlicher Schlag gegen das System“. Yeager beschreibt seine rassistischen Morde als „symbolisch“ gegen die Gefahr für seine eigene „Rasse“ gerichtet, sie seien sofort als diese zu verstehen und die Motivation dahinter zeige sich in den Taten selbst – er hinterlässt dementsprechend keine Bekennerschreiben. Außerdem seien die Taten leicht durch andere zu imitieren. Technisch komplizierte Anschläge könnten nicht so leicht Nachahmer finden. Seine Taten entwickeln ein Zusammenspiel mit Gesellschaft und Politik, sie provozieren einen verschärften Verfolgungsdruck und Anti-Nazi-Gesetze auf der einen, viele andere – zu Yeagers Frust oftmals aber dilettantische – Nachahmer auf der anderen Seite.

Vorbilder und Nachahmer

Pierce widmete das Buch Hunter zuerst dem rassistisch motivierten Serienmörder und Goebbels-Fan Joseph Paul Franklin, geboren als James Clayton Vaughn. [6] Er nannte Franklin „the Lone Hunter, who saw his duty as a White man and did what a responsible son of his race must do, to the best of his ability and without regard for personal consequences.” [7] Sie waren einander über die Amerikanische Nazi Partei (National Socialist White People’s Party bzw. American Nazi Party) bekannt. Die Widmung verschwindet nach der ersten Ausgabe, doch Franklin ist offensichtlich die reale historische Vorlage für den fiktiven Protagonisten Oscar Yeager des Roman Hunter, auch wenn Pierce das später bestreitet.[8] Der Vietnam-Veteran Franklin (1950-2013) war Mitglied der American Nazi Party, später der National States Rights Party und des Ku-Klux-Klan. Zwischen 1977 und 1980 erschoss er mehrere „mixed couples“, Schwarze, Synagogenbesucher und Weiße Frauen, die zugaben, Sex mit Schwarzen gehabt zu haben. Er legte Bomben, überfiel Banken und wechselte seine Alias-Identitäten ständig. Er verübte auch 1978 den Mordanschlag auf den Hustler-Herausgeber Larry Flint, der schwer verletzt überlebte. Auch den Mordanschlag auf den Schwarzen Politiker und Bürgerrechtler Vernon Jordan beging Franklin, auch Jordan überlebte das Attentat knapp. Franklin wurde am 20. November 2013 hingerichtet, die Anklagepunkte des erst 1997 vollständig beendeten Prozesses umfassten 20 Morde, sechs schwere Körperverletzungen, 16 Banküberfälle und zwei Bombenattentate. 1996 bezog sich ein weiterer rassistischer Mörder, Larry Wayne Shoemaker, explizit auf die Schriften von Pierce, bei ihm fand man später neben unzähligen Waffen und einer Hakenkreuzfahne auch den Hunter und die Turner Diaries. Er erschoss einen Schwarzen, verwundete sieben weitere, setzte am Tatort das von Schwarzen besuchte Restaurant in Brand und erschoss am Ende sich selbst. [9]

Im Gegensatz zu den Turner Tagebüchern, deren deutsche Übersetzung zumindest ab den späten 1990er Jahren in der deutschen Nazi-Szene kursierte, war der Hunter unserer Einschätzung nach sowohl bei Nazis auch als bei Antifaschist*innen weitgehend unbekannt oder zumindest ungelesen, sicherlich auch aufgrund der Sprache. Im Thiazi-Prozess 2014 wurde allerdings thematisiert, dass auf dem „Thiazi-Sampler“, der im Januar 2011 zur Finanzierung des Forums veröffentlicht wurde, auch die deutsche Übersetzung „Jäger“ von Pierces Roman enthalten war. Im Forum hatte die Thiazi-Moderatorin „Prometheusfunke“, Nicola Brandstetter, die Übersetzung als Aufgabe der crowd koordiniert.[10] Der im November 2009 fertiggestellten deutschen Ausgabe „Jäger“ ist ein Vorwort der „Übersetzer“ voran gestellt:

Warum eine deutsche Ausgabe von „Hunter“? Nach mehr als 2 Jahren Arbeit stellen wir uns noch einmal diese Frage. Die Antwort ist nun, da die Arbeit beinahe beendet ist, vielleicht klarer denn je. „Wie sollte ein ehrenhafter Mann dem Bösen begegnen?“ Die Kernfrage. Es ist in unserer Verantwortung zu tun, was in unserer Macht steht, um das Ungleichgewicht im Informationsfluß auszugleichen; die Verbreitung von systemfernem Gedankengut zu fördern. Jeder sollte die Möglichkeit haben, „Hunter“ zu lesen und auch zu verstehen – vielleicht gar ein wenig aufzuwachen und sich umzuschauen. Wir stehen für unsere – von den Medien und der Politik ungeliebte – Überzeugung, die so weit über eine einfache politische Anschauung hinaus geht. Das Blut, das durch unsere Adern fließt, weist uns den Weg. (dt. Ausgabe S. 4)

Am Ende der deutschen Ausgabe befindet sich zudem ein 2-seitiges Nachwort, in dem implizit Oscar Yeager als Vorbild und Ideal gefeiert wird:

Der Leser halte sich immer vor Augen, daß jede Tat und jede Entscheidung, die ein Mensch trifft, unmittelbar einer großen Unsicherheit unterliegt und sich im Nachhinein als falsch oder fehlerhaft erweisen kann. Doch, was wäre die Menschheit, wenn sie sich nicht in die Unsicherheit gewagt hätte? Ganz offensichtlich: Sie hätte keine Fortschritte in Kultur, in Sprache, in Wissen und Technik gemacht und sie hätte, in letzter Instanz, auch nicht ihrer Ausdifferenzierung in Europäer, Asiaten und Afrikaner erfahren. Die Menschheit wäre niemals wirklich entstanden. (dt. Ausgabe S. 326)

Die im Roman beschriebene Figur Yeager als Lone Wolf Terrorist ist in ihrer Perfektion ein fiktives Ideal, findet aber auch in der Realität der deutschen Neonaziszene ihre Entsprechung, mindestens auf der imaginierten Ebene. Wer sich in deutschen Neonazi-Foren in die Denk- und zum Teil auch Handlungsweise findet heimliche Oscar Yeagers dort. Ein Beispiel aus Hessen: Der user UR Detroit schreibt sich in einem geschlossenen Forum 2005 mit seinem Kameraden Felix Steiner2003 Nachrichten hin und her. Offensichtlich verfügen beide, vor allem UR Detroit, über eine bürgerliche Bildung, sie kennen die „Dialektik der Aufklärung“, können verschiedene Philosophen und Historiker zitieren und grammatikalisch korrekte Sätze inklusive Fremdwörter formulieren. Beide scheinen über 30 Jahre alt und haben die 1990er Jahre aktiv (zum Beispiel im Umfeld der NF) miterlebt und besprechen in ihrer Männerfreundschaft ihre Frustrationserfahrungen mit der heutigen Neonazi-Szene, aus der sie sich tendenziell zurückgezogen haben. Es geht viel um Probleme mit Frauen und Stress auf der Arbeit. Vermischt ist ihr chat regelmäßig mit rassistischen, schwulenfeindlichen und sexistischen Vernichtungsfantasien, die Yeagers Kopf entsprungen sein könnten und sich tatsächlich auf das historische Ideal beziehen: „ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, seit die [sexistisches Schimpfwort für Heidi Klum]und [rassistisches Schimpfwort für Seal, d. Autorin]hat, ist sie in unseren „deutschen“ medien wirklich omnipräsent. überall auf jedem kanal, von jeder zeitung, aus jeder werbung grinst mir ihre ekelhafte rassenschänder fresse entgegen. wo ist eigentlich mal ein joseph paul franklin, wenn man ihn braucht??“
Die Antwort: „die klum am laternenpfahl… irgendwie ne reizvolle vorstellung. gleich daneben würd ich „und das ist gut so“ woereit hängen mit seinem kumpel der bundeskasperin gerdi und ihren pornostrolchen. anschliessend würd ich aber dann noch so ne art kinderlandverschickung für die hießige intelligenzia organisieren, so nach dem vorbild der roten khmer. jaja… nicht alles was die roten machten war so übel… sind wir krank? irgendwie schon, aber wer ist das heute nicht?“ Dem Serienmörder Franklin war schon in den 90er Jahren im Nazi-Fanzine „Meinungsfreiheit“ unter dem Titel „Natural Born Killer“ ein zweiseitiges Portrait gewidmet worden, die deutsche HNG führte ihn auf ihrer Gefangenenliste. Es wurde öffentlich diskutiert, ob er schizophren gewesen sei, doch letztendlich galt er als voll schuldfähig. Die user repräsentieren ebenso wie die Romanfigur Yeager den „Angry White Man“ (und eben nicht ein „krankes Hirn“): Yeager begeht seinen einzigen rein wutgeleiteten Mord, weil ein Journalist dem unbekannten Täter sexuelle Frustration als Motiv für die Morde an den “mixed couples“ unterstellt. Auch bei den realen deutschen Neonazis UR Detroit und Felix Steiner 2003 lässt die Vorstellung, dass eine in ihren Augen attraktive Weiße Frau einen Schwarzen Mann heiratet die Gewaltfantasien über die Stränge schlagen: „es könnte allerdings sein, daß wir beide die gleiche quelle der inspiration hatten. das bild mit den laternenpfählen, hat man nämlich recht deutlich vor seinem geistigen auge, wenn man mal the turner diaries liest. da gibt es sogar eine analogie zu unserer lieblings bitch heidi.“

Thema 2: Die Notwendigkeit der Organisierung und die Verachtung der Masse

Der Lone Wolf-Prototyp Oscar Yeager und seine Freundin Adelaide finden im Laufe der Handlung Anschluss an eine Gruppe von NationalistInnen, die „National League“. Deren Chef, Harry Keller, wird Yeagers Mentor und ist vielleicht ebenso wie Yeager als Pierces Alter Ego zu lesen, der rechte Pierce-Biograf Griffin schreibt: „[…] I came to the conclusion that Oscar Yeager represents the kind of recruit that Pierce would like to attract to his organization, the National Alliance–bright, action-oriented, receptive to what he, Pierce, could teach him.“[11] Die Gruppe ist zunächst nicht militant oder bewaffnet und betreibt „Bildungsarbeit“, indem sie z.B. Bücher über die „Weiße“ Kultur verlegen und Flyer, Poster und Videos über den „Erhalt der weißen Rasse“ produzieren. Die Gruppe entwickelt den Plan, ihr charismatisches Mitglied Saul als erleuchteten evangelikalen Fernsehprediger berühmt zu machen, um irgendwann über ihn ihre antisemitischen Nachrichten bis hin zu einem anti-israelisch motivierten Steuer-Boykott an die weiße christliche Bevölkerung zu bringen. Die Manipulation der Masse ist hier als optionale, ja sogar notwendige Methode legitimiert. Die League-Mitglieder sind die Elite, die die Menschen und dadurch den Verlauf der Geschichte in die gewollte Richtung beeinflussen. Die Vorlage für die „League“ ist dabei offensichtlich Pierces eigene Organisation, die National Alliance. Die 1970 gegründete und 2013 eingegangene NA besaß zu ihrer Hochphase um 2002 mehrere regionale Ableger mit insgesamt ca. 1.400 Mitgliedern. Aus der Gruppe ging nicht nur mit der rechtsterroristischen Gruppe The Order – Brüder Schweigen (1983/1984) ein Vorbild für spätere NSU-Mitglieder [12] hervor, sondern auch eine Vielzahl von Nazis, die durch Morde, Anschläge, Banküberfälle und ähnliche Straftaten kriminelle bis terroristische Karrieren einschlugen. Dabei sind nicht nur die Turner Diaries das Vorbild: Das FBI fand 1995 das Buch Hunter bei dem US-amerikanischen Neonazi-Terroristen Terry Lynn Nichols, der zusammen mit Timothy McVeigh beim Bombenanschlag in Oklahoma 168 Menschen tötete und über 800 weitere verletzte. Auf diesen Fund wird in der vorliegenden Ausgabe anhand des Zitats aus der „Denver Post“ explizit hingewiesen wird.

Für den deutschen Kontext ist es wichtig zu erwähnen, dass der Autor William L. Pierce sehr gute Kontakte zur NPD, den Hammerskins und in das rechtsterroristische Milieu in Deutschland und Europa hatte. Gerade in Bezug auf Jugendarbeit und den Ausbau von Propaganda- und Musiknetzwerken herrschte Ende der 90er Jahre ein reger Austausch zwischen den USA und Deutschland. So reiste 1998 der NHB-Vorsitzende Alexander von Webenau für eine Woche zu Pierce nach West Virginia und Pierce sprach am 30. Oktober 1999 auf dem JN-Kongress in Bayern.[13] Bereits beim „1. Tag des nationalen Widerstandes“ der NPD am 7. Februar 1998 in Passau war Pierce einer der ausländischen Ehrengäste gewesen, auch schrieb er das Grußwort in „Alles Große steht im Sturm“ von Holger Apfel. 1999 flüchtete der in Deutschland gesuchte Neonazi Hendrik Möbus zu Pierce und wurde von ihm aufgenommen. Laut Aussage des Neonazis und V-Mannes im Rahmen der NSU-Ermittlungen sollte durch Marko Gottschalk aus dem Umfeld von Blood and Honour ca. 2005 eine siebenköpfige Combat 18 Zelle in NRW aufgebaut werden. Den potenziellen Mitgliedern wurden nicht nur die Turner-Tagebücher als Pflichtlektüre ausgehändigt sondern auch das Lesen des Hunter ans Herz gelegt. Den ErmittlerInnen war das Buch übrigens gänzlich unbekannt und sie interessierten sich offensichtlich nicht weiter dafür. Wie bei allen Terrorismus-Konzepten und -Vorlagen von Neonazis ist jedoch auch beim Hunter deutlich, dass eine Kombination vom hochgradig motivierten Einzeltäter und Zellenstruktur und übergeordneter Kommandostruktur (wie bei den Turner-Tagebüchern) denkbar ist.

Der verstorbene National Alliance-Kader Craig A. Jackson mit Hunter T-Shirt. Faksimile Resistance #20, 2003 (c) apabiz

Der verstorbene National Alliance-Kader Craig A. Jackson mit Hunter T-Shirt. Faksimile Resistance #20, 2003 (c) apabiz

Pierce betonte damals, militante terroristische Aktionen seien zu diesem Zeitpunkt der Zeitgeschichte nicht angemessen, zentral sei die Organisierung und Weiterbildung. Dennoch verweisen gerade seine Romane auf die logische Konsequenz der Bewaffnung, sobald die Propaganda-Arbeit und die Zuspitzung des „Rassekonfliktes“ ein bestimmtes Maß erreicht habe. Mit dem im Roman Hunter beschriebenen Konflikt der „League“ um die Methoden ihres Kampfes gegen das System werden nicht nur Yeagers Positionen geschärft, sondern auch die sich als logische Konsequenz darstellende Radikalisierung der NationalistInnen vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Konflikte erklärt. So beschließt die „League“ angesichts der Vorstellung, der „Rassekrieg“ habe endgültig begonnen, dass es Zeit sei, die Aktivitäten auf „Untergrundaktivitäten“ auszuweiten. Yeager allerdings wird weiter heimlich als Einzeltäter gezielt Menschen in Schlüsselpositionen umzubringen, um so den Lauf der Geschichte zu verändern und den Boden für die Botschaften der „League“ zu bereiten.

Über den Zeitpunkt der Bewaffnung und die Rolle der Masse darin herrschte in den letzten Jahrzehnten immer wieder Uneinigkeit. Felix Steiner 2003 schrieb in einem Neonazi-Forum: „da draußen tobt ein krieg und die hauptkampflinie verläuft direkt im kopf von jedem einzelnen. jeder muß für sich selbst entscheiden inwieweit er diese hurensöhne über diese imaginäre linie schreiten läßt und damit sein innerstes verhökert. je öfter du dich jedoch wehren wirst um so fester wirst du im glauben an das richtige werden. ich denke das hier in diesem fegefeuer der eitelkeiten ein gänzlich neuer mensch geboren werden wird. wirklich frei vom bestreben nach materiellen dingen und bereit seinen weg bis zum schluß zu gehen. die frage ist nur welche seite schneller mit den vorbereitungen für den finalen showdown fertig sein wird. […] im zweifelsfrei sitzen wir vielleicht mal zelle an zelle.“ UR Detroit antwortet ihm pessimistisch: „die umformung zum „neuen mensch“ [gemeint ist die „jüdische“ oder „multikulturelle“ „Umerziehung“]hat meines erachtens schon sehr weite fortschritte gemacht. große teile der bevölkerung sind von ihrer entwicklung genauso weit, wie der white trash in den staaten. dumpfe masse, die von der vierten macht in jede gewünschte richtung dirigiert werden können. ich hatte ja schon einige hoffnungen (los angels 1992, südafrika 93, oder oklahoma 95). […] was ist davon geblieben? was haben sie erreicht? Nichts!! […] ich kann an kein „invisible empire“ glauben.“ Die Stimmen für den bewaffneten Kampf waren in den 1990er Jahren allerdings weitaus lauter und optimistischer. Doch die Verachtung der Masse haben Oscar Yeager, die „League“, die National Alliance und alle den bewaffneten Kampf herbei sehnenden Neonazis gemeinsam.

Thema 3: Der Terrorist und der Staat

Nazi-Terrorismus setzt darauf, nicht nur des Todes der Opfer willens zu morden, die Bevölkerung durch Angst zu manipulieren, sondern auch den Staat zum Handeln zu zwingen. Die Wechselwirkung zwischen organisiertem neonazistischem und staatlichem Handeln ist immer eine wesentliche Komponente in Theorie und Praxis. Dabei ist die Komplizenschaft eines die eigenen Ziele unterstützenden Teiles der Behörden immer eine denkbare Option für Neonazis, die hoffen, gleichgesinnte Leute in den Behörden zu finden und sie sich nutzbar zu machen.Für die tatsächliche Kooperation zwischen Neonazis und staatlichen Behörden gibt es zahlreiche Beispiele, von denen der THS-Funktionär und NSU-Unterstützer Tino Brandt – er erhielt über die Jahre rund 200.000 DM vom Verfassungsschutz, die er in den Aufbau neonazistischer Strukturen steckte – nur das prominenteste ist. Ohne bisher das Ausmaß der Verstrickung zwischen NSU und Staat durchblicken zu können, wissen wir doch, dass die Behörden die zu beobachtenden Strukturen von V-Personen aufbauen haben lassen, sie gaben Geld und Logistikhilfe, wie im Falle des bayerischen Neonazi-Spitzels Kai Dalek, der die Szene mit dem Mitte der 1990er Jahre innovativen Computer-Verbund Thule-Netz versorgte —  und im Gegenzug die Behörden mit Dateien.[14] Doch die Nazis halten sich meist für schlauer in dem Spiel mit der Polizei. Aus ihrer Sicht sind dann mit dem Geheimdienst kooperierende KameradInnen nicht die Handlanger des Systems, sondern die Beamten des Systems ihre eigenen Handlanger. Sie hoffen, das System auszutricksen. Sicherlich, offiziell gelten alle V-Leute und Spitzel als Verräter, die NSU-Unterstützerin und Blood & Honour Chemnitz Aktivistin (heute B.) war noch 1997 recht resolut darin gewesen, B&H-Aktivisten der Spitzeltätigkeit zu verdächtigen und ihren Ausschluss zu fordern. Doch 1998 wiegelte sie ab: Durch die Kontakte von einigen B&H-Aktivisten zum Verfassungsschutz könne man die Geheimdienste auf falsche Fährten locken und die eigentlichen Aktivitäten umso ungestörter durchziehen.

Im Roman Hunter erscheint diese Realität in einer verstörenden Weise widergespiegelt, denn ein zweiter Handlungsstrang im Roman ist Yeagers Konflikt mit den staatlichen Sicherheitsbehörden. Eines Tages taucht der FBI-Mann Ryan bei Yeager auf und setzt ihn unter Druck: Er selbst unterstütze die Ziele Yeagers, wenn dieser von nun an für ihn arbeite, würde er ihn nicht festnehmen. Wie in den deutschen Behörden wird die „Quelle“ vor Strafverfolgung geschützt, auch wenn Yeager nicht zum Spionieren, sondern zum Morden angeheuert ist. Yeager geht auf den Deal ein und lässt seine Anschläge fortan von Ryan bezahlen. Durch die Zusammenarbeit von Yeager mit dem FBI-ler Ryan diskutiert der Roman die Grenzen bezüglich Pragmatismus und Korrumpierbarkeit: Ryan profitiert von Yeagers Können und Unterwerfung. Yeager profitiert sowohl intellektuell als auch materiell vom glühenden Antisemiten Ryan und zweifelt lange nicht ernsthaft an dieser Konstellation, zumal sie beide die gleichen Ziele zu verfolgen scheinen und weder FBI noch Yeager Tricksereien und die Manipulation der Bevölkerung ablehnen bzw. sie sogar für zwingend notwendig halten. Es kommt zum Konflikt, als Ryan von Yeager verlangt, einen Gesinnungskameraden zu töten. Als Yeager klar wird, dass Ryan in erster Linie nach persönlicher Macht strebt und dieser bereit ist, für diese Macht zumindest vorübergehende Kompromisse mit dem jüdischen Feind einzugehen, entscheidet sich Yeager für seine ideologische Integrität und tötet sein Gegenüber. Somit präsentiert Hunter ein Gedankenspiel über die Möglichkeiten und Grenzen der Kollaboration mit dem Geheimdienst, der sich in dem Buch zum „Tiefen Staat“ entwickelt. Die Grenzen sind dabei sehr weit gefasst, schließlich kooperiert Yeager während ca. 70% der Handlung mit Ryan ohne darin Nachteile zu sehen. Zu betonen ist, dass Yeager keine Informationen über seine Organisation gibt, aber durchaus Aufträge und Geld entgegen nimmt und sich Ryan ideologisch verbunden fühlt. Yeager ist am Ende schlauer als Ryan und geht aus dem Spiel als Sieger hervor. Das Spiel beinhaltet auch die kalkulierte staatliche Repression gegen die eigene Organisation, aber vor allem gegen die gesellschaftlichen Teile, die sich gegen den Nazi-Terror wehren: Der Staat kriminalisiert Betroffene und Linke. So sind im Hunter auf mehren Ebenen die möglichen Handlungsoptionen eines Nazi-Terroristen und seinem Zusammenspiel mit dem Staat und die damit verbundenen Gefahren und Gewissenskonflikte durchgespielt. Sie werden am Ende zugunsten der reinen Ideologie aufgelöst. Damit liegt Pierce auf Linie mit allen öffentlichen Verlautbarungen der neonazistischen Organisierung, dennoch: In so einer Form ist uns die Beschreibung der unbewussten und bewussten Komplizenschaft und des daraus resultierenden ideologischen Konfliktes zwischen illegaler Nazi-Szene, politisch motiviertem Geheimdienst und gesellschaftlicher Dynamik in neonazistischen Texten noch nie begegnet.

Weitergedacht

Am zweiten Jahrestag der Ermordung von Burak Bektas 2012 demonstrierten ca. 300 Menschen in Berlin Neukoelln. (c) Chr. Ditsch/version-foto.de

Am zweiten Jahrestag der Ermordung von Burak Bektaş 2012 demonstrierten ca. 300 Menschen in Berlin. (c) Chr. Ditsch/version-foto.de

Über die Rezeption des Romans in der deutschen Neonazi-Szene und vor allem die Folgen der Veröffentlichung auch auf Deutsch im Jahre 2009 lässt sich bisher nur spekulieren. Ähnlich wie bei den Turner-Tagebüchern dürfte die Romanform den Hunter als niedrigschwellige Lektüre für militante NS-TerroristInnen und vor allem die sympathisierende Szene attraktiv gemacht haben. Dass die Turner-Tagebücher sowohl in Europa als auch in den USA ein größerer „Erfolg“ waren, mag vor allem an ihrer Verbindung zu David Lane, Robert Matthews und „The Order“ liegen, vielleicht aber auch daran, dass in großen Teilen der militanten Neonazi-Szene der Traum, mit guten KameradInnen in den Untergrund zu gehen, attraktiver ist, als heimlich und allein Lone Wolf zu sein. Als Konzeptvorlage oder zumindest als Inspiration dienen im Hunter vor allem der beschriebene Modus Operandi von Hinrichtungsgleichen Erschießungen von mehr oder weniger zufällig ausgewählten Opfern einer bestimmten Feindbildgruppe an quasi öffentlichen Orten – durch die immer gleiche Waffe und ohne Bekennerschreiben. Auch die Idee der Destabilisierung des Systems durch die Serienmorde und Bombenanschläge und das mögliche Provozieren von „Rassenunruhen“ könnten Ideen gebend sein. Die erklärte oder heimliche Kombination von Morden und Anschlägen durch klandestine Einzeltäter oder Kleingruppen) und einem ideologischen Wirken nach Außen durch (im Vorbild der „League“ erst durch legale, dann klandestine Strukturen) dürfte die Realität des deutschen und internationalen Rechtsterrorismus ganz gut widerspiegeln. Wir halten die Denkweise von UR Detroit und Felix Steiner 2003 für menschenverachtend, aber nicht für „krank“. Sie sind repräsentativ für einen Prototyen eines männlichen Neonazis, den man – z.B. aufgrund aufgegebener Mitgliedschaft in neonazistischen Organisationen – nicht oder nur sehr schwer einschätzen kann. Einzeltäter handeln allein verantwortlich aber sie handeln für „die Bewegung“. Die „Ein-Personen-Zelle“ ist für die Strafverfolgung undurchdringbar. Anders Breivik, David Copeland, Kay Diesner – alle diese mutmaßlichen „Einzeltäter“ hatten vorher die Anbindung an die Szene und mussten nicht das Gefühl haben, alleine zu handeln. So könnte Hunter nicht nur ein heimlicher Traum von Neonazis sein, sondern handlungsweisend, z.B. wenn man sich den Mord an Burak Bektaş in Berlin-Neukölln im Jahr 2012 anschaut: Ein bis heute unbekannter weißer Mann tritt wortlos auf eine Gruppe von als migrantisch zu erkennenden Jugendlichen zu, schießt, dreht sich um und verschwindet. Kein Bekennerschreiben. Burak Bektaş stirbt, Jamal und Alex überleben schwer verletzt. Und bis heute fragen wir uns: War das Motiv Rassismus?

Die Denk- und Artikulierungsweise von Neonazis wie die user UR Detroit und Felix Steiner 2003 betrachtend, muss man sich die Frage stellen: Was muss passieren, damit die Vorlage Hunter in die Realität umgesetzt wird. Die zahlreichen ungeklärten Morde und Anschläge in Deutschland betrachtend ergibt sich aber auch die Frage: Gibt oder gab es den Hunter? Und wenn ja, wie viele?

Die Autorin dankt den Kollegen Michael Weiss, Ulli Jentsch und Aaron Flanagan vom CNC, Chicago für Hilfe und inspirierende Diskussionen.

 

[1]    vgl z.B. hier: http://www.splcenter.org/get-informed/intelligence-files/profiles/william-pierce
[2]    Laut 2. Ausgabe 1998
[3]    https://de.wikipedia.org/wiki/The_Turner_Diaries, 14.3.2015
[4]    Pierce zitiert in Robert S. Griffin, The Fame of a Dead Man’s Deeds: An Up-Close Portrait of White Nationalist William Pierce, 2001, S. 240
[5]    Pierce zititert in Griffin, S. 240
[6]    Quelle liegt vor.
[7]    Widmung in der ersten Ausgabe
[8]    Griffin, S. 240
[9]    http://www.splcenter.org/get-informed/intelligence-report/browse-all-issues/1999/winter/the-alliance-and-its-allies/battle-by
[10]    Vgl. http://www.nsu-watch.info/2015/01/rechter-terror-der-antifaschistischen-analyse/ und https://linksunten.indymedia.org/de/node/116875, 14.3.2015, vgl.www.inforiot.de/cdu-trennt-sich-von-brandstetter/
[11]    Griffin, S. 237
[12]    Vgl. Dirk Laabs: Der NSU, „The Order“ und die neue Art des Kampfes, https://www.antifainfoblatt.de/artikel/der-nsu-%E2%80%9E-order%E2%80%9C-und-die-neue-art-des-kampfes, 2.4.2015
[13]    https://www.antifainfoblatt.de/artikel/mit-white-power-musik-zum-%C2%BBrassenkrieg%C2%AB-william-pierce-nordland-und-die-npd
[14]    Dazu: Hilde Sanft und Ulli Jentsch: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/rechter-terror-der-antifaschistischen-analyse