Kurz-Protokoll 259. Verhandlungstag – 4. Februar 2016

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An diesem Verhandlungstag kündigt zunächst die Verteidigung des Angeklagten Wohlleben einen Befangenheitsantrag an, den sie dann aber doch nicht stellt. Die erneute Ladung des Zeugen Mario Brehme ist nach wenigen Minuten beendet. Danach wird eine ausführliche Stellungnahme von Seiten der Nebenklagevertretung zu den „Turner Diaries“ abgegeben, die erneut die ideologischen Hintergründe des NSU umreißt. Dann sagt ein Polizeibeamter aus, der den Internetverlauf des Angeklagten Holger Gerlach auswertete. Dabei stehen viele neonazistischen Bezügen sowie eine Recherche zum Thema „Explosion in Eisenach“ nach dem 04.11.2011 im Vordergrund.

Zeugen:
Mario Brehme (Neonazi, ehem. THS-Mitglied, Erkenntnisse zu Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe, Wohlleben)
Ulrich Schm. (Auswertung des Internetverlaufs auf einer von Holger Gerlach genutzten Festplatte)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:49 Uhr. Direkt nach der Präsenzfeststellung beantragt Wohllebens Verteidiger RA Klemke, für zwei Stunden zu unterbrechen, weil man ein Ablehnungsgesuch gegen Götzl und die Richterin Odersky vorbereiten wolle. Es folgt eine Unterbrechung bis 12:03 Uhr.
Danach sagt RA Klemke: „Unser Mandant will die avisierten Gesuche nicht stellen.“ Götzl: „Dann rufen Sie bitte den Zeugen auf.“

Mario Brehme [zuletzt 237. Verhandlungstag]betritt mit seinem Zeugenbeistand RA Böhmer den Saal und nimmt am Zeugentisch Platz. Götzl ruft Brehme die Belehrung in Erinnerung. Götzl fügt hinzu, es seien mittlerweile Auskunftsersuchen an die Inlandsgeheimdienste und den BND gestellt worden. NK-Vertreter RA Erdal fragt Brehme: „Haben Sie eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet?“ Brehme: „Nein.“ Erdal: „Benötigen Sie eine Aussagegenehmigung?“ Götzl: „Ja, im Hinblick auf wen jetzt?“ Erdal: „Wenn er als V-Mann eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet hat, benötigt er eine Aussagegenehmigung.“ Götzl: „Er hat doch mit Nein geantwortet!“ Erdal: „Okay.“ Der Zeuge wird um 12:07 Uhr entlassen.

Dann verliest NK-Vertreterin RAin von der Behrens eine Erklärung zu im Selbstleseverfahren eingeführten Schriftstücken [253. Verhandlungstag], hier zu den „Turner-Tagebüchern“: Die „Turner Diaries“ sind von William Luther Pierce, dem Führer der neonazistischen US-amerikanischen „National Alliance“, im Jahr 1978 unter dem Pseudonym Andrew Macdonald geschrieben worden, um rassistische und antisemitische Ideen in einer niedrigschwelligen, leicht zu konsumierenden Weise zu propagieren. Im Zentrum des Romans steht der Untergrundkampf gegen das System, der mit der Ermordung von Schwarzen, Juden, Politikern und Verrätern in den eigenen Reihen beginnt und der in der Weltherrschaft der Weißen endet. Gewalt wird hier als Notwehrreaktion gegenüber einem System beschrieben, das die sogenannte weiße Rasse mittels liberaler Gesetzgebung und erzwungener Integration vernichten will. Die Vernehmung der Zeugin KKin Pf. in den Hauptverhandlungen vom 14. Oktober 2014 hat ergeben, dass die Turner Tagebücher in deutscher Übersetzung auf einem Datenträger sowohl bei dem Angeklagten Eminger als auch bei dem Angeklagten Wohlleben sichergestellt worden sind. Aber selbst wenn der Angeklagte Wohlleben die Tagebücher auch nicht gelesen haben sollte, muss er von den dort propagierten rassistischen und antisemitischen Ideen und der Vorstellung der Notwendigkeit des „Rassenkampfes“ nach dem Konzept des „leaderless resistance“ immer wieder gehört haben, da diese Allgemeingut in der militanten Neonazi-Szene waren.
Auch zwischen dem NSU und den Turner Tagebüchern gibt es viele Parallelen. Die ideologische Übereinstimmung zwischen dem NSU und der rassistischen und antisemitischen Zielrichtung der Turner Tagebücher ergibt sich nicht nur aus dem NSU-Bekennervideo, sondern wird auch bereits in den Anfangsjahren vor dem Untertauchen manifest (vgl. das „Pogromly“-Spiel, das sogenannte „Ali….“-Gedicht etc.).
Auch zwischen der in den Turner Tagebüchern beschriebenen namenlosen „Organisation“ bestehen auffällige Parallelen hinsichtlich der Gestaltung des Lebens im Untergrund. Wichtiger noch sind jedoch die Parallelen hinsichtlich der Organisationsform als so genannte Zelle, der Opferauswahl und der beabsichtigten Wirkung der Taten. Der Roman beschreibt Untergrundeinheiten oder Zellen bestehend aus meist vier bis acht Mitgliedern, Männer wie Frauen – wobei die Männer für die Gewalttaten zuständig sind, während Frauen meist in der Propaganda, der Beschaffung, der Deckung und der Tarnung agieren. In diesen Zellen komplementieren und bedingen sich die jeweiligen Funktionen ihrer einzelnen, wenigen Mitglieder bis zum gemeinsamen „Sieg“ oder „Untergang“. Aufgabe der Untergrundeinheiten ist es, „das System durch direkte Aktionen [zu]vernichten“. In den Turner Tagebüchern werden auch solche Logistikstraftaten zum Aufbau „der Organisation“ beschrieben, wie sie der NSU in Form von Raubüberfällen begangen hat.
Hinsichtlich der politischen Ziele „der Organisation“ werden neben großen Zielen wie dem Pentagon auch Anschläge auf Kleingewerbetreibende beschrieben: „Ich glaube, die [„die Orientalen“] haben in Maryland schon jedes Restaurant und jeden Wurststand in Besitz genommen. In unserer kleinen Vorort-Enklave haben wir wohl mindestens ein Dutzend Iraner erschossen, bis anderen bewusst wurde, was vor sich ging; doppelt so viele sind geflüchtet.“
Die in der Frühlingstrasse aufgefundenen Adresslisten, Kartenmaterial und Ausspähnotizen zeigen, dass der NSU über eine Erweiterung des Kreises der Opfer nachdachte, etwa Staatsanwälte, Richter und Politiker mit einbeziehen wollte, auch finden sich in den Adresslisten und Karten Adressen von Waffenläden. Ob diese gesammelten und ausgespähten Ziele für weitere Anschläge des NSU selbst bestimmt waren oder ob sie als Vorbereitung für eine Zeit nach der erhofften Gründung weiterer Zellen gedacht war, ist nicht bekannt. Schließlich schildert der Roman die erstrebte psychologische Wirkung der Morde, die unabhängig davon eintritt, ob die Täter bekannt sind oder nicht: „Die Willkür und Unberechenbarkeit sind wichtige Aspekte der Wirksamkeit“. Ziel sei es, die potentiellen Opfer zu verunsichern, weil diese nicht wissen könnten, wer die Täter seien und wer das nächste Opfer sein könne.
Die Verbreitung der Grundgedanken der Turner Tagebücher in der militanten Neonazi-Szene zeigt, dass deren Ideen und Konzepte allseits bekannt waren: die Idee des Rassenkampfes, des Konzeptes, sich im Untergrund in kleinen unabhängigen Zellen zu organisieren, durch Raubüberfälle die Bewaffnung für gezielte Morde und Anschläge zu finanzieren und diese auszuführen. Dies spricht sehr deutlich dafür, dass auch die hier Angeklagten diese Konzepte kannten und dass diese Konzepte aus den Tagebüchern eine der Grundlagen der Gewaltdiskussionen in der Szene waren.
Dies bedeutet wiederum, dass diejenigen, die das Trio beim Leben im Untergrund unterstützten, von den Überfällen Kenntnis hatten und Waffen besorgten, wussten, wozu diese dem Trio dienten. Zum anderen zeigt die Verbreitung der Turner Tagebücher und ihrer Ideen auch, dass
den Nachrichtendiensten deren Konzepte zu der Zeit, als der NSU die Morde und Anschläge beging, sehr wohl bekannt waren und deswegen bei den Taten hätte erkannt werden können oder erkannt wurde, dass sie die Handschrift von Neonazis trugen.

Es folgt die Einvernahme des Zeugen Ulrich Schm. [siehe Beweisantrag vom 242. Verhandlungstag]. Götzl sagt, es gehe um die Auswertung einer Festplatte „PC Tower grau“, Schm. solle von sich aus zu den Ermittlungen und Ergebnissen berichten. Schm.: „Die Aufgabe war, ausschließlich die Internethistorie der Festplatte auszuwerten, nicht die Festplatte als solches.“ Der PC stamme aus dem Dachgeschoss der Wohnung der Lebensgefährtin von Holger Gerlach. Es sei darum gegangen, den Internetverlauf dahingehend auszuwerten, ob Verbindungen zum NSU-Komplex vorhanden sind.
Im Internet Explorer habe sich nichts interessantes ergeben, interessanter sei die Auswertung beim Firefox gewesen. Dort seien über hundert Lesezeichen angelegt gewesen, von denen zumindest über 20, „dem rechten Gedankengut, sagen wir mal, zuzuordnen sind“. Überwiegend seien es Seiten von Onlineversandhäusern für rechtes Propagandamaterial gewesen, wo man Tonträger, Fahnen etc. bestellen könne. Der Verhandlungstag endet um 13:03 Uhr.
Hier geht es zum Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2016/02/04/04-02-2016/

Zur vollständigen Version des Protokolls geht es hier.