Kurz-Protokoll 334. Verhandlungstag – 11. Januar 2017

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Am heutigen Verhandlungstag ist erneut Prof. Dr. Norbert Leygraf geladen, der Carsten Schultze psychiatrisch explorierte. Er wird ergänzend zu seinem Gutachten befragt. Es geht außerdem um Anträge der Verteidigung von Beate Zschäpe zur Gutachtenerstattung von Prof. Dr. Saß.

Sachverständiger:

  • Prof. Dr. Norbert Leygraf (Psychiater, Universität Duisburg-Essen, Gutachten über den Angeklagten Carsten Schultze)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:44 Uhr. Gehört wird heute erneut der SV Prof. Dr. Leygraf. Nach der Personalienfeststellung und der Belehrung sagt Götzl, es gehe um ergänzende Fragen zur Begutachtung des Angeklagten Carsten Schultze, um Unterlagen eines anderen Arztes, die Leygraf vorgelegen haben sollen. Leygraf: „Ich glaube, ich habe die kompletten Unterlagen damals zur Verfügung gestellt bekommen, das fängt an mit einer handschriftlichen Anamnese zu Beginn der Behandlung am 12.10.2009.“ Der Sachverständige berichtet von den körperlichen Symptomen Schultzes, über die er geklagt habe. Leygraf: „Das ist internistisch abgeklärt worden, man hat keine körperlichen Ursachen gefunden. Die Anamnese am 12.10.2009 war etwa gleich dem, was Herr Schultze auch bei der Exploration angegeben hat. Für 50 Stunden Therapie gibt es für jede Stunde eine schriftliche Aufzeichnung, das endet April 2011 [phon.]. Die Beschwerden sind wohl deutlich zurückgegangen.“
Götzl: „Was wurde letztlich hinsichtlich der Beschwerdeentwicklung, was wurde da letztlich in den Unterlagen festgestellt?“ Leygraf: „Es war in der Therapie viel thematisiert worden, bei welchen Gefühlen diese Beschwerden auftraten bzw. welche Gefühle dadurch unterdrückt wurden, dass die Beschwerden auftraten. Das wurde wohl mehrfach thematisiert mit dem Ergebnis, dass Herr Schultze seine Gefühle besser wahrnehmen konnte und dadurch diese Symptomatik in den Hintergrund getreten ist.“
Götzl: „Dann wollte ich noch einen weiteren Punkt ansprechen: Es ist hier in der Hauptverhandlung die Frage einer paranoiden Persönlichkeitsstörung angesprochen worden im Hinblick auf Herrn Schultze. Im Hinblick darauf, dass sich Herr Schultze immer noch von Personenschützern bewachen lässt, obwohl Mitangeklagte von Herrn Schultze das nicht mehr in Anspruch nähmen und unbehelligt geblieben seien. Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte für eine paranoide Persönlichkeitsstörung?“ Leygraf: „Nein, es gibt zum einen schon mal keine Anhaltspunkte für eine Persönlichkeitsstörung insgesamt und erst recht nicht für eine paranoide. Also, da ist er völlig unverdächtig.“
Wohlleben-Verteidiger RA Klemke: „Ihr Gutachterauftrag war – bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege – ausschließlich die Einschätzung des Entwicklungsstandes des Herrn Schultze zum Tatzeitpunkt?“ Leygraf: „Ja.“ Klemke: „Haben Sie gezielt den Herrn Schultze exploriert im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen?“ Leygraf: „Ich habe ihn gezielt daraufhin exploriert, weil es bei der Frage der Entwicklungsreife ja auch darum geht, ob in einem bestimmten Lebensalter ein Verhalten noch durch entwicklungsbedingte Fragen [phon.] bestimmt ist oder durch eine schon fixierte [phon.] Persönlichkeitsstörung. Ich habe mich daher durchaus auch mit einer möglichen Persönlichkeitsstörung auseinandergesetzt.“
Klemke: „Wie war denn das Antwortverhalten des Carsten Schultze im Rahmen der Exploration?“ Leygraf: „Das habe ich hier, glaube ich, schon beschrieben, dass es so war, dass er sehr häufig Latenzen hatte zwischen meiner Frage und der Antwort, wo nicht ganz klar war, ob er sozusagen in sich ging und nachdachte oder vielleicht auch nachdachte, was vom Ergebnis her eine günstige Antwort ist. Das kann man natürlich von außen her nicht erkennen.“ Klemke: „Also konnten Sie aufgrund dieses Antwortverhaltens nicht unbedingt für sich entscheiden, ob das, was Schultze angab, seiner Erinnerung entsprach oder ob er es vorgab?“ Leygraf: „Das habe ich gar nicht erst versucht, weil das nicht meine Aufgabe ist.“ Klemke: „Aber bei Ihnen blieben diesbezüglich Fragen offen also?“ Leygraf: „Nein, das ist gar nicht meine Frage. Meine Frage war: Lässt sich aufgrund seiner Angaben etwas sagen bezüglich seiner Persönlichkeitsreife.“ Götzl möchte den SV entlassen, doch RAin Schneiders bittet vorher um fünf Minuten Unterbrechung. Es folgt eine Pause von 11:35 Uhr bis 11:41 Uhr.

Dann widerspricht RA Klemke für die Verteidigung Wohlleben der Entlassung des SV. Außerdem beantragt er, dass der Senat dem SV Anknüpfungstatsachen, die der SV „unbedingt für die gutachterliche Einschätzung der Persönlichkeitsreife zum Tatzeitpunkt benötigt“, an die Hand geben möge. Dem SV müssten sämtliche in den Akten befindliche Vernehmungsprotokolle ehemaliger Weggefährten und Freunde Schultzes zum Tatzeitraum, die Angaben zu Aktionen und Interaktionen Schultzes gemacht haben, zur Verfügung gestellt werden. Das gleiche gelte auch für die Angaben derartiger Zeugen in der Hauptverhandlung. Das Gutachten über den Reifegrad Schultzes beruhe, wie man heute gehört habe, neben der Verwertung der Behandlungsunterlagen des Dr. Da. ausschließlich auf den Angaben, die Schultze in den Explorationsgesprächen getätigt hat. Leygraf habe selbst nicht nachgeprüft, ob diese Angaben Erinnerungen darstellen oder auf Fehlerinnerungen basieren oder rein aus taktischen Erwägungen heraus gemacht worden sind. Leygraf nehme hinsichtlich der Persönlichkeitsstruktur in erster Linie neben den Angaben in den Explorationsgesprächen das äußere Erscheinungsbild und das Antwortverhalten während der Exploration als Grundlage und beschreibe Schultze als ängstlichen, gehemmten, zurückhaltenden, ernsten Menschen, wobei Leygraf eingeräumt habe, dass die Untersuchungshaft dazu beigetragen haben könne.
Klemke sagt, es werde einfach aus diesem äußeren Befund darauf geschlossen, dass die Persönlichkeitsstruktur Schultzes im Tatzeitraum genau so gewesen sein muss. Andere Anknüpfungspunkte habe der SV nicht gehabt. Man habe hier aber „eine Vielzahl“ Zeugen gehört, die „ein ganz anderes Bild“ gezeichnet hätten, als es hier der SV zum Reifegrad in seinem Gutachten verwendet habe. Klemke nennt u.a. Christian Kapke. Klemke: „Ich meine, dass ohne die Mitteilung von weiteren Anknüpfungstatsachen und nur allein auf dem äußeren Erscheinungsbild der Sachverständige eine zuverlässige Einschätzung nicht vornehmen wird. Deswegen beantragen wir, den Sachverständigen nicht zu entlassen und ihn anzuleiten, indem ihm die Anknüpfungstatsachen mitgeteilt werden, und dass er angehalten wird, sein Gutachten zu überarbeiten. Danke.“
OStAin Greger: „Wir halten den Entlassungwiderspruch für nicht gerechtfertigt. Der Sachverständige hat hier ausgeführt, aufgrund welcher Angaben er zu seinen Bewertungen gekommen ist. Gegebenenfalls regen wir an, den Sachverständigen dazu zu befragen, ob er noch weitere Anknüpfungstatsachen für erforderlich hält. Aber eine Feststellung zur Frage der Reifeverzögerung, meine ich, kann er durchaus auch auf Grund der Angaben in der Exploration [phon.] treffen.“
OStA Weingarten: „Ich gehe davon aus, dass die Verteidigung Wohlleben die Begutachtung in wesentlichen Teilen missverstanden hat.“ So etwa, dass die Persönlichkeitsstruktur nichts über die Reifeentwicklung aussage und die Reifeentwicklung nichts über die Persönlichkeitsstruktur. [phon.] Götzl legt die Mittagspause ein.

OStAin Greger nimmt für den GBA zum gestrigen Antrag von Sturm, Stahl, Heer auf Leitung
des SV Saß Stellung. Der Antrag sei abzulehnen, so Greger. Nach §78 StPO habe der Richter, soweit ihm dies erforderlich erscheint, die Tätigkeit des SV zu leiten. Diese Regelung gelte für die
Vorbereitung des Gutachtens. Der Richter habe dem SV den Auftrag klar zu erteilen und die Beweisfragen unmissverständlich zu formulieren. Er habe auch dafür Sorge zu tragen, dass der
SV die für sein Fachgebiet gültigen wissenschaftlichen Mindeststandards einhält. Auch Belehrungen über rechtliche Vorgaben könnten notwendig sein. Es müsse aber dem pflichtgemäßen Ermessen des SV überlassen bleiben, auf welchem Wege und aufgrund welcher Unterlagen er sein Gutachten erarbeitet. Auch an welchen Teilen der Hauptverhandlung er teilnimmt oder inwieweit er verzichtet, sei die Entscheidung des SV, der Vorsitzende habe ihn ggf. über die Inhalte der Beweisaufnahme zu informieren. Greger sagt, dass gemessen daran die von den Verteidigern begehrten Belehrungen und Vorgaben allesamt nicht geboten seien.

Dann nimmt OStA Weingarten Stellung zum Antrag von Sturm, Stahl und Heer auf Fertigung von Tonaufzeichnungen. Den Anträgen tritt der GBA sämtlich entgegen. Für den Antrag, die Gutachtenerstattung vollständig aufzuzeichnen und zu verschriften, gelte, dass ein solcher Anspruch nicht bestehe. Allein der Umstand, dass die Verteidiger die Aufzeichnung eines Teil der Hauptverhandlung als Erleichterung wünschten, gebe dem Vorsitzenden keinen Anlass, für eine wortgetreue Mitschrift zu sorgen.
RA Stahl: „Ich bin, ehrlich gesagt, entsetzt. Uns ist natürlich klar, dass es keinen Rechtsanspruch darauf gibt, dass Teile der Hauptverhandlung dokumentiert werden. Ich will auch gar nicht so viel Aufhebens darum machen, aber dass Sie sich hier gerieren als die Gralshüter fehlender Dokumentation der Hauptverhandlung, ich verstehe es nicht. Dass Sie sich hier hinstellen und sagen, wir hätten nicht dargetan, warum wir zu Zwecken der Verteidigung der Mandantin [phon.] darauf angewiesen sind, nach Möglichkeit eine wortgetreue Aufzeichnung der Erstattung des Gutachtens von Prof. Dr. Saß zu haben, das ist doch zynisch. Wir haben ausgeführt, dass beabsichtigt ist, den bereits beauftragten Gutachter Dr. Faustmann, der hier möglicherweise nicht dabei sein können wird, wie es aussieht, wenn Prof. Saß sein Gutachten erstattet, diese Informationen vorlegen zu wollen, damit er es exakt so bewerten kann, als wäre er dabei gewesen. Das muss doch reichen.“ Der Verhandlungstag endet 14:10 Uhr.

Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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