Kurz-Protokoll 344. Verhandlungstag – 08. Februar 2017

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An diesem Prozesstag wird zunächst der Zeuge Christoph Schn. vom BKA erneut gehört. Es geht um Ermittlungen zu einer Schussverletzung in Chemnitz und ob diese dem NSU zugeordnet werden könnte. Allerdings erbringt die Befragung keine neuen Erkenntnisse. Danach lehnt Richter Götzl den Antrag der RAe Sturm, Stahl und Heer ab, den Sachverständigen Prof. Dr. Saß anzuleiten, seine Notizen mitzubringen. Dazu gibt es eine Gegendarstellung und daraufhin beendet Götzl den Verhandlungstag.

Zeuge:

  • Christoph Schn. (BKA, ergänzende Ermittlungen zu einer Schussverletzung in Chemnitz 2000, Angaben des Angeklagten Carsten Schultze)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:46 Uhr. Nach der Präsenzfeststellung wird der Zeuge Christoph Schn. gehört. Götzl: „Es geht uns um ergänzende Ermittlungen zu einem Thema, zu dem wir Sie schon gehört haben, Wolgograder Allee, Chemnitz, Vorfall am 14.06.2000.“ Götzl sagt, Schn. solle Ermittlungen und Ergebnis vorstellen. Schn. sagt, in Ergänzung seien Befragungen von ehemaligen Mitarbeitern der Firma Bigu geführt worden, drei hätten zwischenzeitlich durchgeführt werden können. Ein Mitarbeiter sei zwischenzeitlich verstorben. Die drei Befragten hätten angegeben, sich an die Baustelle auf der Wolgograder Allee zu erinnern, aber nicht daran, dass ein Kollege angeschossen worden sein soll. Alle drei hätten sich nicht daran erinnern können, dass im Kollegen- bzw. Mitarbeiterkreis über einen solchen Vorfall geredet wurde. Schn. berichtet, dass er eine E-Mail von einem Herrn L. bekommen habe, der Geschäftsführer der Firma Bigu gewesen sei. Außerdem habe er mit einem Rechtsanwalt für Insolvenzrecht gesprochen, dieser sei seit 2005 Geschäftsführer der Firma gewesen und habe sich um die Sanierung kümmern sollen, dies sei ihm nicht gelungen. Der RA habe keine Personen nennen können, die da mglw. betroffen sein könnten, ihm lägen dazu auch keine Unterlagen mehr vor. In einer anderen Kanzlei seien zwar Akten vorhanden gewesen, aber alle erst seit 2004, daher habe er auf die Erhebung der Personalien und Befragung der Personen verzichtet. Um 09:54 Uhr wird der Zeuge entlassen.

Dann verkündet Götzl den Beschluss, dass die Verfügung bestätigt wird, mit der die Anträge, Prof. Dr. Saß zu leiten, seine handschriftlich gefertigten Notizen zum Gerichtsort zu bringen, abgelehnt wurden. Zur Begründung führt er aus:
Die Ablehnung der Anträge, den Sachverständigen zu leiten, seine handschriftlichen Unterlagen zum Gerichtsort zu bringen, verstößt weder gegen eine gesetzliche Vorschrift noch gegen einen ungeschriebenen Verfahrensgrundsatz.
Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf die beantragte Anleitung des Sachverständigen. Ein Ermessensmissbrauch liegt in der Ablehnung ihrer Anträge nicht.
Der Sachverständige Prof. Dr. Saß hat am 336., 337., 339., 340., 341. und 343. Hauptverhandlungstag sein Gutachten erstattet und Fragen der Prozessbeteiligten beantwortet. Gegenstand der Anhörung im Rahmen seiner Gutachtenserstattung waren unter anderem seine Beobachtungen betreffend das Ausdrucksverhalten und die Interaktionen der Angeklagten Zschäpe in und am Rande der Hauptverhandlung. Dabei führte der Sachverständige aus, dass es sich um eine zusammenfassende Darstellung seiner Beobachtungen seit dem ersten Hauptverhandlungstag handele. Die von ihm geschilderten Beobachtungen, die er für die Begutachtung auch verwertet habe, habe er anhand der von ihm in und am Rande der Hauptverhandlung gefertigten Notizen danach ausgewählt, ob sie von Bedeutung für die ihm gestellten Fragen im Rahmen der Gutachtenserstattung waren. Leitendes Kriterium für die seiner Schilderung zugrunde gelegte Auswahl seiner Beobachtungen sei gewesen, was für die Beurteilung der Gutachtensfragen notwendig sei. Er habe hinsichtlich des Ausdrucksverhaltens und der Interaktionen der Angeklagten Zschäpe in und am Rande der Hauptverhandlung alles geschildert, was für die Gutachtenserstattung relevant gewesen sei. Weitere von ihm gemachte Beobachtungen würden für die Beantwortung der ihm gestellten Gutachtensfragen keine Rolle spielen. Neben diesen Beobachtungen würden seine handschriftlichen Notizen eigene Gedanken, Hypothesen und Überlegungen enthalten, die dann zum Teil von ihm auch wieder verworfen worden seien. Die Notizen seien nicht für andere angefertigt und bestimmt. Er habe die Notizen als reine Arbeitsunterlage für sich persönlich gemacht. Allerdings die Beobachtungen, die für die Beantwortung der Gutachtensfragen relevant seien, habe er ausnahmslos und im Detail in der Hauptverhandlung geschildert.
Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen gebietet es die Aufklärungspflicht nicht, den Sachverständigen zu leiten, seine handschriftlichen Unterlagen an den Gerichtsort mitzubringen. Der Sachverständige hat die von ihm getätigten Beobachtungen der Angeklagten Zschäpe umfassend dargestellt, soweit sie für die Beantwortung der an ihn gestellten Gutachtensfragen von Bedeutung sind. Ein weiterer Erkenntnisgewinn ist somit aus den vom Sachverständigen Prof. Dr. Saß gefertigten Notizen nicht zu erzielen, da der Sachverständige die relevanten Beobachtungen bereits dargestellt hat. Es wird von den Antragstellern weder vorgetragen noch ist es ersichtlich, dass ein vom Sachverständigen bislang nicht geschildertes Verhalten der Angeklagten für die Beantwortung der Gutachtensfragen von Bedeutung sei.

Heer verliest dann eine Gegenvorstellung gegen den Beschluss des Senats und beantragt., 1. die Befragung des SV Saß zu unterbrechen, und 2. Saß im Sinne des § 95 Abs. 1 StPO aufzufordern, seine handschriftlichen Notizen, „die er im Rahmen seiner Teilnahme an der Hauptverhandlung angefertigt hat, die nach seinen Darlegungen einen Umfang von 773 Seiten aufweisen und sich in seinem Arbeitszimmer in Aachen befinden“, dem Gericht vorzulegen oder andernfalls deren Beschlagnahme anzuordnen, sowie anschließend insoweit Akteneinsicht zu gewähren und die Befragung des SV nach einer angemessenen Zeit zur Auswertung der Notizen fortzusetzen.
Dann geht er zur rechtlichen Würdigung über:
Die Äußerungen des Sachverständigen offenbaren ein grundsätzliches Missverständnis über den Sinn der von ihm anlässlich seiner Teilnahme an der Hauptverhandlung angefertigten Unterlagen. Anders als der Sachverständige meint, handelt es sich dabei gerade nicht um – nur für ihn und ausschließlich zur Vorbereitung des Gutachtens dienende – interne Arbeitspapiere, sondern um die – grundsätzlich auch für das Gericht und die Verteidigung bestimmte – Dokumentation einer gerichtlich auferlegten Beauftragung, ein forensisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten zu erstatten, zumal eines mit möglichen äußerst weitreichenden Folgen. Im Sinne der seitens des Bundesverfassungsgerichts für Prognosegutachten geforderten Transparenz und Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit des Gutachtens, wobei unter anderem gerade der Fokus auf die Anknüpfungstatsachen gelegt wird, sind die Verteidiger in die Lage zu versetzen, den Gang der Beobachtungen Frau Zschäpe, auf die sich der Sachverständige in seinem Gutachten wesentlich stützt, ihren Ablauf, deren Dokumentation nachzuvollziehen. Vor allem hat die Verteidigung eigenständig zu überprüfen, welche der Beobachtungen letztlich in die Beantwortung der Gutachtensfrage eingeflossen sind und welche nicht, und ob der Gutachter bei der Auswahl der von ihm letztlich berücksichtigten Beobachtungen der von ihm vorgetragenen Methodik entsprochen hat.
Als methodisch fehlerhaft stellt sich hiernach das Vorgehen des Sachverständigen heraus, seine Beobachtungen lediglich selektiv und damit lückenhaft in der Form darzustellen, als sie nach seiner Meinung Relevanz für die Beantwortung der Gutachtensfrage haben sollen. Dieses methodische Vorgehen führt dazu, dass für den Adressaten des Gutachtens offen bleibt, von welcher Gesamtheit von Beobachtungen der Sachverständige bei der Beantwortung der Gutachtensfrage ausgegangen ist. Wenn der Sachverständige exemplarisch auf Verhaltensbeobachtungen an einzelnen Hauptverhandlungstagen abstellt und es unterlässt, darzulegen wie das Verhalten von Frau Zschäpe sich an diesem Tag insgesamt dargestellt hat, kann nicht nachvollzogen werden, nach welchen Kriterien das für das Gutachten herangezogene Verhalten ausgewählt wurde.

NK-Vertreter RA Langer: „Ich würde gleich Stellung nehmen.“ Langer sagt, die Notizen seien für die Beurteilung der Angaben des Sachverständigen überflüssig. Die Verteidigung sei immer zugegen gewesen. Man könne aus dem Gutachten ersehen, welche Tatsachen verwertet worden sind und welche nicht. Nicht verwendete Tatsachen würden sich aus der eigenen Anwesenheit der Verteidiger ergeben. Die Einführung der Notizen zöge eine zeitaufwändige Überprüfung nach sich und eine nicht unerhebliche Zahl an Folgeverhandlungstagen und würde einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot darstellen, so Langer.
Bundesanwalt Diemer: „Herr Vorsitzender, eine Überprüfung des Schriftsatzes hat ergeben, dass wesentliche Dinge vom Senat bereits gesagt worden sind.“ Der Antrag könne abgelehnt werden, so Diemer. Die individuellen persönlichen Notizen des SV, die dieser zur Gedächtnisunterstützung herangezogen habe, seien keine Dokumente, wie sie bei einer Befragung oder einem Test [phon.] anfallen. Der Verhandlungstag endet um 14:11 Uhr.

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Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.