Eine Frage der biografischen Hygiene – Bundesinnenminister Otto Schilys Umgang mit dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße

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(c) Yücel Özdemir

von Friedrich Burschel

„Ach, der ist bekloppt. Der hat doch keine Ahnung. Der phantasiert.“ Das hätte man über ihn gesagt, ist sich Muhammet A., Nebenkläger im NSU-Prozess in München, sicher, wenn er behauptet hätte, Otto Schily sei ein Lügner. Otto Schily, der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland! Wenn so einer so was sagt, dann hat das Gewicht. Dann wird da schon was dran sein, wenn er, Schily, sagt, die Ermittlungen zum Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße würden „in ein kriminelles Milieu“ weisen. Problem ist nur: Da hat er wirklich gelogen, der Bundesinnenminister Otto Schily, oder eine Lüge weiterverbreitet, wie der Nebenklageanwalt im NSU-Prozess, Stephan Kuhn, in seinem Plädoyer Ende November 2017 erklärt: „Das war nicht nur objektiv falsch, es war – von wem auch immer – gelogen“.

Aber von vorne: Am sommerlich-heißen 9. Juni 2004 um 15:56 Uhr explodierte in der Keupstraße in Köln-Mülheim eine mit etwa 800 Nägeln – 10 Zentimeter langen Zimmermannsnägeln – gespickte Bombe vor einem gut besuchten Friseursalon. Die mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver in einen Helmkoffer präparierte Höllenmaschine war kurz vorher auf dem Gepäckträger eines Fahrrads vor dem Geschäft abgestellt und dann per Fernzündung zur Detonation gebracht worden. 23 Menschen waren von der Bombe zum Teil schwer verletzt worden. Insgesamt 32 Leute befanden sich in lebensgefährlicher Nähe der mit hoher kinetischer Energie durch die Luft schießenden glühenden Nägel und Metallteile. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben. Angeklagt wird dies beim NSU-Prozess in München als 32-facher versuchter Mord aus rassistischen Motiven.

Etwa eine Stunde nach dem Anschlag sprach das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen von einem Akt „terroristischer Gewaltkriminalität“ und kommunizierte so die ersten, korrekten, Einschätzungen der Behörde. Es lag doch auf der Hand: Eine Nagelbombe ist immer ein politisches Statement und immer darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen zu verletzen, zu verstümmeln oder zu töten.

Dennoch musste das LKA dieses erste Statement zur Tat, wie Stephan Kuhn vermutet: auf Weisung des Landesinnenministeriums NRW, schon um 17:45 Uhr dahingehend korrigieren, dass „keine Hinweise auf terroristische Gewaltkriminalität“ vorlägen. Und das, obwohl sich der Erkenntnisstand seit der „Lageerstmeldung“ in keiner Weise verändert hatte. Tags darauf – und hier kommt nun Schily ins Spiel – ließ der Bundesinnenminister in der Tagesschau wissen, wörtlich: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann“. Schily immunisierte sich mit der Ergänzung, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und er deshalb noch keine abschließende Beurteilung vornehmen könne, gegen die Unterstellung, er habe hier aus politischem Kalkül die Möglichkeit eines rassistischen Nazi-Attentats ausgeschlossen.

Jedenfalls geht er gegen Leute, die heute etwas in dieser Richtung behaupten, auch schon mal gerichtlich vor: So zwang er Grünen-Chef Cem Özdemir noch im Oktober 2017 vor dem Landgericht in München dazu, die Äußerung, Schily habe einen terroristischen Hintergrund bereits am Tag danach ausgeschlossen, zu unterlassen. Özdemir hatte seine Einschätzung von Schilys Handeln in einem Vorwort zu dem Buch „Die haben gedacht, wir waren das“ geäußert, in dem Betroffene rechten Terrors und institutionellen Rassismus’ zu Wort kommen.

Schily klagte dagegen, obwohl er schon 2012 in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel eingeräumt hatte, dass diese Aussage in der Tagesschau falsch gewesen sei und dass er mit den damaligen Landesinnenministern eine „politische Verantwortung“ dafür trage, „dass wir der NSU-Terrorgruppe nicht früher auf die Spur gekommen sind“. Warum geht der einstige Bundesminister also gegen eine Behauptung, der er im Grunde selbst schon zugestimmt hatte, nun vor? Was treibt den einstigen sicherheitspolitischen Kraftmeier an? Ein weiterer Nebenklageanwalt, der Opfer des Kölner Anschlags im Münchener NSU-Prozess vertritt, Berthold Fresenius, wirft Schily vor, er perpetuiere damit „jenen Rassismus, unter dem die Opfer des NSU schon viel zu lange gelitten haben, nur um sich selbst und die deutschen Sicherheitsbehörden von jedem Fehlverhalten reinzuwaschen.“

Denn mit seiner Aussage bestimmte der oberste Polizeichef damals die weitere Ermittlungsrichtung. Fresenius: „Die Aussage des damaligen Innenministers Schily mag nicht der Startschuss zur Verfolgung der Opfer gewesen sein, er legitimierte aber die an rassistischen Vorstellungen und Mythen orientierte Vorgehensweise staatlicher Strafverfolgungsbehörden.“ In die Keupstraße wurde damals eine Handvoll Informanten eingeschleust, um eben den „kriminellen Hintergrund“ aus den Anwohner_innen der migrantisch geprägten Einkaufsstraße herauszufragen. Ermittlungsrichtung wurde alles, was der normale Beamte, die normale Beamtin so an Rassismen im Kopf hat: PKK, Schutzgelderpressung, Drogen, „Graue Wölfe“, Versicherungsbetrug, Mafia, Auseinandersetzungen im Türsteher-Milieu usw. Ein „rechter Hintergrund“ kam dabei gar nicht erst in Betracht, obwohl Bewohner_innen der Keupstraße diesen Verdacht von Anfang an äußerten und selbst Kölner Zeitungen in diese Richtung spekulierten. Bei den Verbrechen des NSU lag, im Nachhinein betrachtet, nirgendwo stärker der Verdacht eines Neonazi-Verbrechens derart auf der Hand wie bei dem Anschlag auf die Kölner Keupstraße. Und der NSU waren nicht die ersten Neonazis, die Nagelbomben-Anschläge verübten. David Copeland etwa hatte im Jahr 1999 in London drei Nagelbomben gezündet, die sich gegen Schwarze, Migrant_innen und Homosexuelle richteten. Dieser Zusammenhang war wohl auch bei „New Scotland Yard“ nach dem Anschlag auf die Keupstraße aufgefallen: die britischen Ermittler_innen übersandten ein Dossier zum Fall Copeland nach Deutschland. Ohne damit jedoch in irgendeiner Weise durchzudringen.

Der Anschlag auf die Keupstraße hätte ein Schlüssel sein können, denn schon damals wurde er mit der Ceska-Mordserie in Zusammenhang gebracht. Wären hier die richtigen Schlüsse gezogen worden, hätten die Morde an İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter wohl verhindert werden können.

Stattdessen richteten sich die Ermittlungen gegen die Bewohner_innen der Keupstraße, gegen die Betroffenen des Bombenanschlags. Zum Teil, etwa im Falle des Betreibers des Friseursalons, wurden über Jahre Telefone abgehört und gegen die Betroffenen weitergeschnüffelt. Vom Anschlag Betroffene, die andere Vermutungen über die Attentäter äußerten, wurden zum Schweigen ermahnt, deren Hinweise nicht weiter verfolgt, in der Straße Misstrauen und Argwohn untereinander gesät.

Unter den vom Anschlag schon schwer Traumatisierten ging die Rede vom „Anschlag nach dem Anschlag“, einige von ihnen berichteten im Gerichtssaal von den verheerenden auch psychischen Folgen zunächst des Anschlags und dann der darauf folgenden Verdächtigungen. Und das alles, obwohl die Ermittler_innen unmittelbar nach der Tat und spätestens einen Monat später auch in einer „Operativen Fallanalyse“ korrekte Einschätzungen der Hintergründe lieferten und Zeug_innenaussagen über die Täter definitiv in eine andere Richtung deuteten als die, die der Bundesinnenminister vorgegeben hatte.

Otto Schily war schon immer ein herrischer und arroganter Zeitgenosse und genoss noch in den 1980er Jahren, als er für die von ihm mitgegründeten Grünen in den Bundestag gewählt wurde, den systemkritischen Nimbus des RAF-Anwalts, er vertrat Horst Mahler und Gudrun Ensslin. Er bezweifelte lautstark die Selbstmordthese nach dem Tod von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Ensslin im Stammheimer Hochsicherheitstrakt. Als es dem eitlen Karrieristen nicht mehr schnell genug nach oben ging bei den Grünen, trat er kurzerhand zur SPD über und kam nun auf dem sozialdemokratischen Ticket in den Bundestag. Dass er mit seiner reaktionären Ausländer- und Asylpolitik – ja quasi als Vater der neuerdings wieder aktuellen nach Nordafrika aus- und vorverlagerten Geflüchtetenabwehr – und dem massiven Ausbau des Überwachungsstaates noch am Gustav-Noske-Ähnlichkeitswettbewerb der Sozialdemokratie teilnehmen würde, ahnte seinerzeit noch niemand.

Jetzt arbeitet er offensichtlich daran, sein blankpoliertes Hardliner-Image unbeschadet in die Geschichtschreibung zu überführen und da passt der NSU-Makel natürlich nicht ins Bild. Obwohl während seiner Amtszeit der NSU sieben seiner neun rassistischen Morde sowie drei Sprengstoffanschläge begehen konnte, ohne dass die Behörden den Täter_innen auf die Spur kamen oder kommen wollten. Obwohl es über die Entstehung einer „braunen RAF“, einer rechtsterroristischen Bedrohung also, damals zu einem Streit mit dem durchaus hellsichtigeren bayerischen CSU-Innenminister Günter Beckstein kam, den Detlef vom Winkel in konkret 5/2014 zutreffend rekonstruierte. Und obwohl zu allem Überfluss auch noch das erste NPD-Verbotsverfahren an der tiefen Durchsetzung der Nazi-Partei mit behördlich gedungenen Zuträgern aus der Nazi-Szene blamabel scheiterte. Trotzdem scheint Schily der Meinung zu sein, einen guten Job gemacht zu haben.

Eine rechte Gefahr in Deutschland? Woher denn: Noch im Oktober 2004 – wenige Monate nach dem Anschlag in der Keupstraße – unterstellt der Bundesinnenminister einer Deutsch-Afghanin, die mit ihrer Familie vor deutschen Neonazis in die USA geflüchtet war und dort als Flüchtling anerkannt wurde, die Situation Deutschland „völlig verzerrt“ darzustellen, das Problem aufzubauschen oder gar zu erfinden. Er verlangt vom damaligen US-Justizminister Ashcroft, das Asylurteil dürfe so keinen Bestand haben und müsse mit dem Hinweis überprüft werden, „dass es sich, anders als im Urteil formuliert, in Deutschland gefahrlos leben lasse“. Die 46-jährige Asylsuchende hatte ein Gericht in San Francisco davon überzeugt, „dass die Bundesregierung ‘mehr unwillig als unfähig’ gewesen sei, die ‘ausländerfeindliche Gewalt’ zu stoppen“. In den 17 Jahren in Deutschland seit ihrer Flucht aus Afghanistan hatte die Familie mit tätlichen Angriffen und massiven Bedrohungen durch Neonazis in Hamburg-Bergedorf zu kämpfen, hieß es im Spiegel.
Das muss die Frau dann ja frei erfunden haben.