Für eine geschlechterreflektierte Perspektive auf das Netzwerk des NSU – Stellungnahme des Forschungsnetzwerkes Frauen und Rechtsextremismus zur Verurteilung von Beate Zschäpe und ihren Mitangeklagten im NSU-Prozess

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München, Berlin, Hamburg, Nürnberg, Frankfurt, Greifswald, Marburg, Wien u.a.
12. Juli 2018

Das Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus schließt sich der am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess auf die Straße getragenen Forderung „Kein Schlussstrich!“ an. Wir, die wir uns tagtäglich wissenschaftlich, journalistisch und pädagogisch mit dem Thema Gender und Rechtsextremismus beschäftigen, mahnen trotz des gestrigen Schuldspruchs gegen Zschäpe erneut Gesellschaft, Medien und Ermittlungsbehörden an, Frauen als rechtsextrem motivierte Täterinnen ernst zu nehmen. Dies bedeutet zum einen, nicht die Selbstinszenierung Zschäpes als Opfer ihrer Liebe mit zu tragen, und zum anderen, in dem Bemühen um Aufklärung auch weitere neonazistische Frauen in den Blick zu nehmen.

„Es kommt nicht darauf an, was sie sagt, sondern auf das, was sie nicht sagt.“ Dieses Statement der Überlebenden Ay. des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße gilt heute umso mehr.1 Es muss um die Aufklärung des gesamten NSU-Komplexes gehen. Zschäpe selbst hat dazu nie beigetragen, weder direkt noch indirekt. Die Fokussierung auf sie und die Reproduktion geschlechterstereotyper Klischees, die sie entweder als unschuldiges Opfer oder abnormaler „Teufel“ zeigen, muss ein Ende haben. Es kann keine Antwort auf die immer wieder gestellte Frage geben, wie eine Frau so überzeugend sympathisch oder gar sexy sein könne und gleichzeitig eine bewusst handelnde neonazistische Terroristin. Die Frage beruht auf der Verkennung der Realität: Auch Frauen waren und sind Täterinnen und damit verantwortlich für ihre Taten. Wir begrüßen die Entscheidung des Vorsitzenden Richters, Zschäpes Mittäter- und damit auch ihre Mitwisserinnenschaft als bewiesen anzusehen. „Hätte ich weitere Kenntnisse, würde ich sie spätestens jetzt hier preisgeben, da es für mich keinerlei Grund mehr gibt, irgendetwas zu verschweigen.“ Allein dieser Satz Zschäpes im Rahmen ihres letzten Statements vor Gericht am 28. Juni 2018 ist nicht nur Ausdruck ihrer Empathielosigkeit sondern so einfach als Lüge zu enttarnen, dass es eine Selbstverständlichkeit sein müsste, ihrer Einlassung und ihren letzten Worten das Vertrauen auf Aufrichtigkeit zu entziehen. Sie sind als ein letzter Hohn gegenüber den Angehörigen zu werten, deren Forderung nach Informationen über die Auswahl der Mordopfer und die Offenlegung der MittäterInnen Zschäpe bis zuletzt willentlich nicht nachkam. Die skandalös niedrigen Haftstrafen für die Unterstützer der terroristischen Vereinigung Wohlleben, Eminger und Gerlach verdeutlichen die systematische Engführung des Gerichtes auf ein isoliertes Trio, nicht auf den NSU als Netzwerk.2

Zschäpe konnte nicht zuletzt schon in ihrem Leben im Untergrund feststellen, dass die Strategie, sich als friedfertige soziale Frau zu inszenieren, erfolgversprechend ist. Dem ist der Vorsitzende Richter mit seinem Urteil und der Anerkennung der besonderen Schwere der Schuld zwar nicht gefolgt, doch gilt dies weder für den NSU-Prozess an sich noch den rechten Terror insgesamt. Wenn weibliche Neonazis überhaupt in den Fokus der Behörden und letztendlich in den Zeug*innenstand kamen, so konnten wir beobachten, wie vergeschlechtlichte Strategien der Zurückweisung von Verantwortung für die eigenen Taten und Mittäterinnenschaft zum Tragen kamen: „In der Zeit von 1996-2000 habe ich vier Kinder bekommen, ich war dann nicht mehr präsent“, behauptete Antje Pr., Gründungsmitglied der Sektion Sachsen von Blood & Honour. Von ihr wird berichtet, sie habe bei einem Szene-Treffen im Juni 1998 eine Radikalisierung der Szene gefordert, man solle die Politik in Form von Anschlägen aus dem Untergrund heraus weiterführen.3 Auch die im Prozess als Zeugin geladene Katrin D., damals Teil der Chemnitzer Skinhead-Szene, behauptete vor Gericht: „Dann war ich schwanger, dann war ich raus.“ Mitte der 2000er Jahre arbeitete sie jedoch in einem Nazi-Szeneladen, zur Aussage vor Gericht reiste sie mit einem weiteren mutmaßlichen Unterstützer an.4 Die Reihe ließe sich fortsetzen und durch diejenigen Frauen ergänzen, die an verschiedenen Punkten der Ermittlungen durch die Behörden immer wieder dank des Rasters des Geschlechterklischees der friedfertigen Frau ausgesiebt wurden.
Wenn vom Unterstützungsnetzwerk des NSU gesprochen wird, dürfen die Namen von Frauen nicht fehlen. In einer „Gewalttäter Rechts“ Liste des Thüringer Landeskriminalamtes tauchte beispielsweise Corryna G. als einzige Frau neben Zschäpe auf. Sie war seit Mitte der 90er Jahre in der nordhessischen Naziszene aktiv. Dort hatte sie Kontakte ins kriminelle Rocker- und Rotlichtmilieu. Bei ihrer Aussage im hessischen Untersuchungsausschuss 2017 erklärt G., den Tatort in Kassel zu kennen und vor dem Mord 2006 drei mal dort gewesen zu sein. Damals sei sie mit einer Mitgefangenen aus dem offenen Vollzug in der JVA Baunatal dorthin gefahren, um im Internet zu surfen. Doch weder ihre Behauptung, dies sei das am nächsten zu erreichende Internetcafé gewesen, stimmt, noch bestätigt ihre damalige Mitgefangene die Aussage.5 Ihre mutmaßliche Beteiligung an dem Ausspionieren eines Tatortes und damit der Auswahl des Mordopfers Halit Yozgat muss ebenso aufgeklärt werden wie die mögliche Beteiligung von Susann E. am Taschenlampen-Bombenanschlag in Nürnberg 1999.

Der Abschluss dieses ersten Strafverfahrens kann nur eines der ersten Puzzlestücke der Aufklärung der Verbrechen des NSU sein. Zu viele Fragen sind offen geblieben, unter denen in erster Linie die Hinterbliebenen, Angehörigen und Überlebenden zu leiden haben. Weder ist mit der Verurteilung der Angeklagten die Ikonisierung einer Rechtsterroristin abgewendet, noch sind weitere Schuldige, Mitwisserinnen oder Mittäterinnen ermittelt oder gar verurteilt worden. Als Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus fordern wir: Um das Phänomen Rechtsterrorismus allgemein und den NSU speziell verstehen zu können, muss Gender als Analysekategorie miteinbezogen werden – nicht zuletzt damit die beteiligten Frauen im Umfeld des NSU nicht so unsichtbar und nebensächlich bleiben, wie sie es im Nachhinein gerne sein wollen.