Der rechte Terroranschlag in Halle: „Gamification of Terror“

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Am 09. Oktober 2019 wurden in Halle/Saale zwei Menschen bei einem antisemitischen und rassistischen Terroranschlag getötet. Der Täter versuchte zuvor schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen. Diese war voll besetzt, da dort Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, begangen wurde. Auch durch die von den Menschen in der Synagoge selbst ergriffene Schutzmaßnahmen wie das Verbarrikadieren der Türen konnte ein Massaker verhindert werden. Vor der Tür erschoss der Täter eine vorbeilaufende Frau. Danach fuhr der Täter weiter zu einem Dönerladen, wo er eine weitere Person erschoss. Er verletzte außerdem zwei Menschen schwer.

Veronika Kracher hat wenige Stunden nach dem Anschlag das Video des Täters und sein Manifest angesehen, analysiert und die Verbindungslinie zu anderen rechtsterroristischen Anschlägen gezogen. Wir veröffentlichen hier ihren Text, der zuerst auf Facebook erschien.

von Veronika Kracher

(CN: Mord, Antisemitismus)

„Hello, my name is anon, and I think the holocaust never happened“, spricht ein junger Mann in die Kamera. Und weiter: „Feminism is the cause of declining birth rates in the West, which acts as a scapegoat for mass immigration, and the root of all these problems is the Jew”. Hochgeladen wird die antisemitische und antifeministische Tirade auf der Streaming-Plattform „Twitch“, weniger Stunden später hat sie sich über das ganze Internet verbreitet.

Antifeminismus, der große Austausch, und der Jude als Strippenzieher – Das kennt man doch irgendwo her. Das kann man jedenfalls so nicht stehen lassen. Es gilt also, Rache zu nehmen.
Wenig später wird der 27 Jahre alte Neonazi aus Sachsen-Anhalt versuchen, mit zwei selbst gebauten Schrotflinten bewaffnet am letzten Tag von Yom Kippur in die Synagoge von Halle einzudringen.

Er hatte Sprengstoffsätze um die Synagoge herum deponiert, mehrere Granaten auf den jüdischen Friedhof geworfen und versucht, die Tür des Gebäudes zu öffnen, in dem sich zum Zeitpunkt der versuchten Tat zwischen 70 und 80 Jüdinnen und Juden aufhielten – heute ist der letzte Tag von Yom Kippur.
Das Ganze hat er mit einem auf seinem Helm befestigten Smartphone oder einer Kamera gefilmt und auf dem Streaming-Portal twitch.tv hochgeladen. Mein Kollege Roland Sieber (der herausragende Arbeit zu dieser neuen Form von rechtem Terror macht) hat mir das Video zukommen lassen.
Ich habe es angesehen.
Es ist grauenvoll.
Man erinnert sich an Brandon Tarrant, der bei seinem Angriff auf die Moschee in Christchurch, Neuseeland, genau das gleiche getan hatte: sie live im Internet übertragen. Seine Fans auf 8chan sollten ihm ja bei seiner Tat zuschauen können, ihm zujubeln, ihn anfeuern den „Highscore zu knacken“, also so viele Menschen wie möglich zu ermorden.

„Nobody expects the internet SS“, scherzt er zu Beginn des Livestreams, während er mit dem Auto sein Ziel ansteuert.
Er flucht, während er versucht die Tür der Synagoge aufzubrechen, woran er, zum Glück, scheitert. „Aber vielleicht kommen sie ja raus“, und er wirft einen vermutlich selbst gebastelten Sprengsatz über die Mauer.
Nach ungefähr 5 Minuten, die er BEWAFFNET und in RÜSTUNG vor der Synagoge steht, kommt eine Passantin vorbei, sein erstes Opfer. Nicht die Polizei. „Muss das sein, während ich hier langgehe“ fragt sie, sie wirkt erstaunlich… gelassen angesichts der Tatsache dass da ein bewaffneter Mann steht? – und er erschießt sie.
Er steht über fünf Minuten vor der Synagoge. Bewaffnet. Wirft Brandsätze. Wo ist die Polizei? Wird eine Synagoge an einem wichtigen jüdischen Feiertag nicht polizeilich geschützt? UND ERMORDET EINE FRAU? Wieso rufen die Anwohner*innen oder Passant*innen nicht die Cops?
WIESO KANN EIN MANN ÜBER FÜNF MINUTEN SCHWER BEWAFFNET VOR EINER SYNAGOGE STEHEN; JEMANDEN ERSCHIESSEN UND NICHTS PASSIERT?!

Dann entscheidet er sich dazu, wenn er schon keine Juden ermorden kann, mit dem nächstbesten Vorlieb zu nehmen, nämlich Menschen mit Migrationshintergrund; er bezeichnet sie allerdings anders. Auf der – erstaunlich zielgerichteten Fahrt – zu dem Dönerladen, in dem er sein zweites Opfer ermorden wird, entschuldigt er sich bei seinen Zuschauern: „I tried to kill some [unverständlich], and now I’m here, and then I’ll die like the loser I am“, sagt er. An anderer Stelle geißelt er sich weiter: “Verkackt. Was willste erwarten von einem NEET“, also „Not in Education, Employment, or Training“. Ich habe schon häufiger die These aufgestellt, dass der Terrorakt in ihrem und durch ihren eigenen Narzissmus gekränkte Männer zu „Ultra-Chads“ transzendieren lässt, die Wiedergutmachung all der erfahrenen Kränkungen ist. Der Attentäter von Halle konnte seinen geplanten, antisemitischen Massenmord nicht durchführen, er ist also ein Loser. Er wird niemals ein „Giga-Chad“ sein, sein Highscore ist zu lausig.
In dem Dönerladen erschießt er einen Gast, der sich weinend hinter den Getränkekühlschränken verschanzt hat. Danach rennt er noch einmal heraus, flucht über seine Waffe, setzt sich wieder ins Auto – es wirkt alles sehr unkoordiniert. Schließlich geht er noch einmal in den Dönerladen zurück, um ein weiteres Mal auf den Leichnam des Ermordeten zu schießen, wie aus Trotz. „Alle Waffen haben versagt“ schimpft er, und gibt zu: „Ich habe bewiesen, wie wertlos improvisierte Waffen sind“. Dann, nach einem kurzen Statement übre seinen Zustand und auf der Fahrt über die Autobahn, wirft er sein Telefon weg. Das Video endet mit Autos, die an dem auf der Straße liegenden Handy, über das die letzten 30 Minuten zwei Morde und ein versuchter Terroranschlag übertragen wurden, vorbei brettern.

Seine Opfer waren die 40 Jahre alte Jana L. aus Halle und der zwanzigjährige Kevin S. aus Merseburg. Kein Vergessen.

Beginnen wir mit dem Zynismus: es ist ein Glück, dass der Täter keinen Zugang zu besseren Waffen hatte. Hätte er anstatt seiner selbstgebauten Schrotflinte eine, sagen wir, funktionierende Halbautomatik besessen, dann…
Der Täter hatte geplant, an Yom Kippur in eine Synagoge einzudringen um Juden zu ermorden. Weil Juden Schuld sind am Feminismus und an den sinkenden Geburtenraten und am großen Austausch (was denn sonst), und weil er, als tapferer Kämpfer für die weiße Rasse, inspiriert von anderen tapferen Kämpfern für die weiße Rasse wie Anders Breivik oder Brandon Tarrant, etwas dagegen tun wollte. Kein Loser und „NEET“ mehr sein, sondern ein Rächer seines Volkes.
(Der „Große Austausch“, die ultimative Neonazi-Theorie, die Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus unter einen Hut bringt, weil Juden die Frauen zum Feminismus und die Männer zur „Schwulerei“ verführen und parallel Geflüchtete nach Europa schippern, die den Kontintent „übervölkern“, das Ziel ist, was soll es denn sonst sein, ein Genozid an den Weißen. Antisemiten lieben es nun einmal, ihre eigenen Vernichtungsfantasien auf andere zu projizieren und sich selbst als Opfer zu inszenieren).
Das lässt meines Erachtens daraus schließen, dass der Täter nicht in den im Osten doch ausgesprochen gut organisierten Nazi-Strukturen wie Ostkreuz oder Combat 18 vernetzt gewesen sein muss – ansonsten hätte er besser funktionierende Waffen besessen.
Sein Vokabular wie „Anon“ oder „NEET“, als auch seine so offensichtliche Hommage an Brandon Tarrant legen die Vermutung nahe, dass durch das Internet radikalisierte und einzeln agierende Rechtsterroristen inzwischen auch in Deutschland angekommen sind. Er agierte einzeln, aber war kein Einzeltäter – hinter ihm eine Armada aus Online-Neonazis und seine ideellen Vorbilder. Ein weiteres Indiz dafür, dass er eher aus der Ecke des Online-Rechtsradikalismus stammt, ist, dass er einen Track von Alek Minassian hört – jenem „Incel“, der im Oktober 2018 in Toronto mit einem Auto in eine Menschenmenge raste und zehn Menschen tötete.

Auf Foren wie „Kohlchan“, dem deutschen 4chan-Ableger, auf 4chan, Kiwifarms, dem Incel-Forum, wird der Angriff als stellenweise False Flag-Aktion bezeichnet: jemand, der so gut auf die Tat vorbereitet sei, könne doch nicht so offensichtlich versagen. Der primäre Tenor ist, sich über den Täter lustig zu machen. Er hat nur zwei Menschen getötet, lol. Das ist die Kritik, die auf diesen Foren geübt wird: er hat seine Tat nicht konsequent durchgezogen, deshalb wird er verspottet. Was für ein „Noob“. Außerdem wird darüber lamentiert, dass es zu verstärkten Maßnahmen gegen Rechts kommen wird (as if!), und das obwohl lediglich zwei Menschen ermordet wurden. Hätte er die Betenden in der Synagoge ermordet, hätte sich das alles wenigstens gelohnt. Naja; dieser ganz spezielle Typus von Chan-Nazis eben.
Der ganze Livestream, in dem zwei Menschen ERMORDET werden, in dem der Täter versucht, einen antisemitischen Massenmord zu begehen, wird kommentiert wie ein Let’s Play; Trauer über die Verstorbenen, Entsetzen über einen versuchten Terroranschlag, Fehlanzeige. Und das Ding ist: man fühlt sich beim Zuschauen durchaus an einen First Person-Shooter erinnert. Die zweite Waffe, die an der Wand der Synagoge lehnt, wie die Waffen in Videospielen, über die man drüber laufen muss und schon ist sie im Inventar. Das Zielfernrohr der Schrotflinte, das beim Laufen hin- und herbaumelt. Es hat die Ästhetik eines Videospiels, und es lädt, vor allem bei ohnehin so zynischen und verrohten Menschen wie Kohlchan-Usern, zu einer entfremdeten Betrachtung ein. Die Ästhetik der Live-Übertragung von Terrorakten suggeriert: das alles ist wie ein Videospiel, die Menschen die erschossen werden sind designierte Opfer, das ist alles ein großer Spaß („Knack den Highscore“).

Zudem veröffentlichte er eine Art… „Manifest“ online: 11 Seiten, auf Englisch.
Es beginnt mit einer Aufzählung seiner Waffen – weit mehr als die zwei, die er bei sich trug, insgesamt 6 Schusswaffen und ein Langschwert.
Anschließend zählt er auf, was er zu tun gedenkt, unter anderem, andere „unterdrückte Weiße“ mit dem Livestream zu motivieren, es ihm gleichzutun.
Das Video sollte also als Ansporn für andere Rechtsterroristen dienen. Wichtigstes Ziel jedoch ist es, so viele Juden wie möglich zu ermorden.
Sein Plan führt er aus als: „Reingehen und so viele Menschen wie möglich umbringen.“
Anfangs hatte er geplant, eine Moschee oder ein linkes Zentrum anzugreifen, fährt er fort – aber welchen Rolle spielen hundert ermordete Migranten, wenn jeden Tag neue nach Europa geschifft würden? Nein; die einzige Lösung sei es, Juden umzubringen, die hinter Marxismus und Einwanderung stecken würden (auch hier wieder: Anders Breivik und Brandon Tarrant als ideelle Vorbilder).
„Wenn ich sterbe, aber auch nur einen Juden getötet habe, war es das wert“.
Es folgt eine Aufzählung, wie Achievements in einem Videospiel. Es ist genau die gleiche Art, mit der in Videospielen Achievements benannt werden: der Titel der Errungenschaft, und was dafür getan werden muss, in diesem Fall: wie und wen er ermordet haben möchte. Gamification of Terror.
Es endet in der Aufforderung, zu einem „Techno-Barbar“ zu werden, sich der entzivilisierung hinzugeben („Dedomesticate yourself“) und alle Juden zu töten.
Belohnt wird man mit der absoluten Anime-Männerfantasie, einem „Cat girl“, also einem Mädchen mit Katzenohren. Vielleicht, überlegt er, gibt es aber auch „Waifus“, also Anime-Ehefrauen, in Walhalla.

Es ist alles so unglaublich verstörend. Die von Tarrant inspirierte und beim Anschlag auf die Synagoge in Poway, bei dem rassistischen Terrorangriff in El Paso, und nun auch in Halle intendierte „Gamification of Terror“ ist ein neues Phänomen des (Rechts)terrorismus, der das ganze für die Zuschauer zu einem zynisch kommentierten Livestream verkommen lässt, den Terroristen für einen Moment in die Rolle eines YouTube-Stars Typus PewDiePie („Subscribe to PewDiePie!“, Brandon Tarrant) hebt, und man zeigen kann was man drauf hat in Sachen Menschen ermorden.

Es ist eine neue Form von Terror, oder eher: der INSZENIERUNG von Terror. Und sie hat heute zwei Menschen das Leben gekostet – es hätten so viele mehr sein sollen; die hätten sterben müssen, weil der Täter ein verdammter Antisemit war, der Jüdinnen und Juden ermorden wollte.
Wir müssen Rechtsterrorismus, und die Rolle die das Internet als Instrument der Radikalisierung und Rekrutierung bedeutet, endlich vermehrt unter die Lupe nehmen.
Mein aufrichtiges Beileid den Angehörigen der Opfer, Jana L. und Kevin S.
Hoffen wir, dass der Kampf gegen Antisemitismus bei mehr bleibt als Beileidsbekundungen und Lippenbekenntnissen.
Auf dass sich so etwas nicht noch einmal wiederholt.

Verdammt, was für ein SCHEISSTAG.