Prozessbeobachtung: Antiziganismus handlungsleitend. Urteilsverkündung in Berlin: Rassistische Messerattacke als Mordversuch gewertet.

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Von Friedrich Burschel

„Es ist nicht einfach zu plädieren an einem Ort, wo man eine Art Tribunal gegen Rassismus abhalten will“, so stieg der Verteidiger der Angeklagten in sein Plädoyer ein. Er nahm damit Bezug auf die Tatsache, dass der Gerichtssaal bisher stets überfüllt war mit interessierten Prozessbeobachter*innen. Mit diesem Einstieg machte er aber vor allem deutlich, wie er seine Mandantin vor einer Verurteilung wegen versuchten Mordes in zwei Fällen bewahren wollte. Schließlich sei, so der Verteidiger weiter, ein solches Tribunal schon im NSU-Verfahren, das dafür vielleicht geeigneter gewesen wäre, nicht richtig gelungen. Sein Job als Verteidiger war es, den Tathergang so zu relativieren und den Zustand seiner Mandantin als so jenseits von Gut und Böse darzustellen, dass am Schluss allenfalls ein versuchter Totschlag mit einer so niedrigen Strafe herauskommen würde, dass das Gericht die Verurteilte sogar aus der U-Haft und bis zum regulären Haftantritt entlassen könnte.

In einer durchzechten und mit reichlich Drogen befrachteten Nacht müsse der 38-jährigen Denise H., so die Darstellung ihres Verteidigers, irgendetwas wie eine schwere Kränkung widerfahren sein, was einen plötzlichen Stimmungsumschwung verursacht haben könnte. Soweit lag der Verteidiger noch auf der Linie des Gutachtens, das der psychiatrische Sachverständige kurz vor den Plädoyers erstattet hatte. Es bescheinigt der Angeklagten gewisse Merkmale eines Borderline-Syndroms, starken Drogenabusus und depressive Verstimmungen. In dieser komplexen Symptomatik erkannte der psychiatrische Gutachter sogar Hinweise für eine verminderte Schuldfähigkeit der Probandin. Ob sich so der Gewaltexzess erklären lässt, den die Frau dann in der U-Bahn-Linie 6 entfesselte, war denn auch die entscheidende Frage dieses letzten von fünf Verhandlungstagen im Verfahren wegen versuchten Mordes vor dem 35. Strafsenat des Landgerichts Berlin.

Was war passiert an jenem 30. März 2019? Schon am U-Bahnhof Kurt-Schmacher-Platz erspähte die Angeklagte einen bettelnden Menschen, den sie für einen Roma hielt und haltlos zu beschimpfen begann. Sie ließ erst von ihm ab, als die U-Bahn einfuhr und sie einstieg. Mit ihr stiegen drei weitere Personen ein, die sie kurze Zeit später ebenfalls ihrem Feindbild gemäß als Roma ausmachte und wiederum ohne Grund zu beschimpfen begann. Die Angeklagte näherte sich den Sitzenden, einer Frau und zwei Männern, entlud brüllend einen Schwall übelster rassistischer Beleidigungen über sie und schlug wild auf sie ein. Dabei benutzte sie hinlänglich bekannte Schmähworte gegen Sinti und Roma und ließ zunächst nicht von ihren neuen Opfern ab. Sie ließ erst – so dokumentieren es nicht nur die Videoaufnahmen der Tat, so bekunden es auch etliche Zeugen*innen – kurz von ihnen ab, um sich zur Seite zu drehen und etwas aus ihrer Tasche hervorzuziehen: ein Messer. Mit diesem Messer stach sie nun auf ihre Opfer ein. Auf die 49-jährige rumänische Romnja Maria D., die sich vor ihren Mann warf, hieb sie mit dem Messer mehrfach ein und verletzte sie unter anderem am Hals lebensgefährlich. Als die Betroffenen nun zur Gegenwehr übergingen, stach Denise H. erneut zu und traf den Schwager der bereits Verletzten in die Brust, in durchaus lebensbedrohlicher Nähe zum Herzen. Erst jetzt schritten Mitreisende ein, zerrten die Täterin an der Station Rehberge aus der U-Bahn, entwanden ihr mit erheblichen Schwierigkeiten das Messer und hielten sie bis zum Eintreffen der Polizei fest. Einen der so Handelnden brüllte die Täterin an: „Bist du bescheuert, ich bin Deutsche! Bist Du behindert, du bist auch Deutscher und fällst mir in den Rücken?“

Für die Staatsanwaltschaft und die Nebenklagevertreterinnen der beiden Verletzten stand ein Tötungsvorsatz fest und für sie lag mit dieser Vielzahl an abwertenden, rassistischen und hasserfüllten Beschimpfungen der Täterin das Mordmerkmal des „niedrigen Beweggrundes“ zweifelsfrei vor. Der Staatsanwalt erklärte: „Das ist klar, das kann nicht sein, dass man angegriffen wird, nur weil man einer bestimmten Gruppe angehört“. Er forderte eine Haftstrafe von 4 Jahren für jeden der begangenen versuchten Morde, die er als getrennte Taten ansah, und plädierte so für eine Gesamtfreiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Die Nebenklagevertretung betonte in ihrem Plädoyer mehrfach den Hintergrund der Tat und was die Tat für ihre Mandanten so traumatisierend mache: nämlich nicht nur die Stichverletzungen und der brutale Angriff als solche, sondern vor allem auch die Infragestellung ihres Lebensrechts als Angehörige einer ohnehin missachteten und diskriminierten Minderheit. Auch die Beteuerungen der Angeklagten, sie sei trotz der erdrückenden Beweislage durchaus keine Rassistin, hielt die Nebenklage für unglaubwürdig. Wäre die Tat nicht so gut dokumentiert und gäbe es nicht so viele weißdeutsche Zeug*innen, argumentierte die Nebenklage, hätte sich die Angeklagte sicher nicht zu ihrer „lapidaren Pro-Forma-Entschuldigung“ in Abwesenheit der Nebenkläger*innen herabgelassen und hätte vermutlich auch damit rechnen dürfen, dass ihre Tat milde beurteilt worden wäre. Das sei nämlich die Erfahrung vieler von Gewalt betroffener Sinti und Roma, dass ihren Aussagen nur geringer Glaube geschenkt werde und Täter*innen oft mit milden Strafen davonkämen.

Der Verteidiger dagegen hatte sich auffällig an seinen Vergleich mit dem NSU festgebissen und blieb dabei, dass doch der mörderische Rassismus von Leuten, die „von Thüringen nach Hessen fahren“, um dort planvoll und heimtückisch Menschen mit Kopfschüssen zu töten, nicht mit dem von ihm durchaus eingestandenen Rassismus seiner Mandantin vergleichbar sei, die völlig vollgedröhnt und außer sich wild um sich gestochen habe. Die Angeklagte, die noch während des letzten Hauptverhandlungstages erneut abstritt, Rassistin zu sein, entschuldigte sich in ihren letzten Worten ein weiteres Mal bei den Betroffenen.

Das Gericht erkannte dann tatsächlich auf versuchten Mord in einem und vorsätzliche gefährliche Körperverletzung in weiteren tatmehrheitlichen Fällen und setzte das Strafmaß sogar drei Monate höher an, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte: 4 Jahre und 9 Monate Freiheitsentzug. Der Vorsitzende Richter unterstrich, dass die antiziganistischen Äußerungen während der Tat als handlungsleitendes Motiv und eben niedriger Beweggrund gelten könnten. Zwar sei der versuchte Mord „im Versuchsstadium steckengeblieben“ und die Verletzungen bei den Betroffenen seien glücklicherweise nicht so schwer gewesen, von einer Tötungsabsicht sei dennoch auszugehen. Mildernde Umstände wie die psychischen Probleme der Angeklagten könnten indes eine Vorbelastung wegen gefährlicher Körperverletzung sowie die erheblichen psychischen Folgen für die Verletzten nicht aufwiegen.