Reihe „Blickpunkt Hessen“ I: Abgründe in Kassel – Nazi-Szene mit mörderischer Dynamik

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Mitglieder der Kasseler Nazi-Szene bei einem Aufmarsch in Göttingen am 29.10.2005. Foto: NSU-Watch

In der Reihe „Blickpunkt Hessen“ veröffentlichen wir Texte, die nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dem Mordversuch in Wächtersbach und dem rassistischen Anschlag von Hanau das Bundesland in den Blick nimmt, in dem Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Wir fragen: Was macht Hessen als eines der Schwerpunktländer von deutschem Rechtsterrorismus aus? Welche Neonazinetzwerke gibt es? Welche Verantwortung tragen die Behörden?

Reihe „Blickpunkt Hessen“ I: Abgründe in Kassel – Nazi-Szene mit mörderischer Dynamik

von Ulli Jentsch

Seit dem Mord an Walter Lübcke steht die Szene in Kassel und Nordhessen im Fokus der Ermittlungsbehörden. Nach und nach wurde deutlich, dass die heute als vermutliche Täter verhafteten Stephan Ernst und Markus H. eine langjährige politische Biografie teilen. Jetzt wurden neue Details bekannt, die den Mord an Halit Yozgat und die Szene der 2000er Jahre verbinden.

Anfang März veröffentlichte die antifaschistische Rechercheplattform Exif einen langen Bericht mit vielen Details, die als »Nicht verfolgte Spuren im Mordfall Halit Yozgat« bezeichnet werden.[1] Darin geht es im Kern um drei Personen und deren mögliche Verbindungen zum NSU-Mord in Kassel: M. K., Corynna G. sowie Markus H. Alle drei gehörten damals einer Szene an, schreibt Exif, die »stets überschaubar war, doch immer ihre Organisierungs- und Erlebnisräume hatte: In Fußball- und Eishockey-Stadien, in Rocker-Clubhäusern und in diversen Kneipen. Ihr harter Kern bestand aus einigen Dutzend Personen und war […] von Spitzeln der Geheimdienste durchdrungen. Dennoch – oder gerade deswegen – konnte die Kasseler Szene eine mörderische Dynamik entfalten.« Die Veröffentlichung der Antifaschist*innen lässt vermuten, dass das Internetcafé von Halit Yozgat ebenso wie seine Person in der Kassler Neonaziszene bekannt war. Es gäbe damit weitere, konkrete Hinweise auf die möglichen Tippgeber*innen bei einem NSU-Mord. Und die Frage steht im Raum, warum bei den Ermittlungen manche Schlüsse nie gezogen wurden.

Der Nazi-Nachbar
Die erste der drei im Bericht genannten Personen, von der nur die Initialen M. K. genannt werden, wohnte zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat zwei Häuser vom Tatort in der Holländischen Straße entfernt. Es ist schon unglaublich genug, dass solch ein Fakt erst heute bekannt wird. Doch mehr: er gerät auch noch 2008 in das Raster der Ermittler*innen, weil er zu den Bekannten von Benjamin Gärtner gehörte. Gärtner hatte als Informant aus der Kasseler Naziszene regelmäßigen Kontakt zu Andreas Temme, jenem Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes (VS), der am Tatort des NSU-Mordes anwesend war. Die Ermittler*innen suchten damals nach einer möglichen Tätergruppe um Temme, die für jene Mordserie verantwortlich sein könnten, von der wir heute wissen, dass der NSU sie begangen hat. Temme hatte sich schließlich nicht nur nach dem Mord auffällig benommen und versucht, die ermittelnden Beamt*innen zu täuschen, er war auch Stammgast in dem Internetcafé gewesen.
Das Ergebnis der Ermittlungen 2008: M. K. war am Tattag mit seinem Handy in jener Funkzelle eingeloggt, die einen Umkreis von zwei Kilometern um das Internetcafé von Halit Yozgat umfasst. Er war zu jenem Zeitpunkt bereits mehrfach als Gewalttäter aufgefallen, seine Aktivitäten mit anderen Nazis in Kassel, z.B. als Eishockey-Fan, waren auch dem VS bekannt. Trotzdem gibt es keinen Hinweis darauf, dass dieser Treffer zu irgendwelchen weiteren Aktivitäten in den Ermittlungen geführt hätten. Ein Nazi mit Kontakt zum direkt oder indirekt involvierten Personenkreis, der zwei Häuser weiter wohnt? Kein Thema, mit dem sich die damals ermittelnde Polizeibehörde in Kassel oder auch andere später befasst haben.

Militante Nazistin war Besucherin
Die zweite Person ist die Neonazistin Corynna G. Sie hatte bereits bei einer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages 2017 zur Überraschung aller zu Protokoll
zur Überraschung aller zu Protokoll gegeben, dass sie das Internetcafé in der Holländischen Straße gekannt habe und mehrfach dort gewesen sei. Bei den Nachfragen, warum sie ausgerechnet dort zeitweise aus und eingegangen sei, gab sie unglaubwürdige oder nachweislich falsche Antworten. Es könnte sogar sein, dass sie mit dem VS-Mitarbeiter Temme dort gewesen ist. Denn: die damalige Freigängerin der JVA Baunatal hatte sich aus der Haft heraus dem VS angeboten und dieses Angebot dürfte auch bei Temme auf dem Schreibtisch gelandet sein. Denn nur er und zwei weitere Mitarbeiter*innen bearbeiteten damals solche Fälle.
Corynna G. ist ein Beispiel wie aus einem antifaschistischen Lehrbuch, wie der militante Beitrag weiblicher Aktivistinnen in der Naziszene durch die sexistischen Genderstereotype, die in den Ermittlungsbehörden herrschen, strukturell übersehen wird. G. ist seit den 1990er Jahren eine typische Netzwerkerin der Szene, stammt aus Thüringen, war vermutlich dem späteren NSU-Kerntrio bekannt. Sie war aktiv in der Nationalistischen Front, in der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei und der Wiking-Jugend, die alle drei verboten wurden. Sie war ständig mit hochrangigen Kadern der Szene liiert, was offenbar dazu führte, dass sie als „Freundin von“ abgetan wurde. Sie hat laut Aussagen von ehemaligen Bekannten den bewaffneten Kampf propagiert, gehörte zum Umfeld von Blood & Honour.
Vollends zur Stereotype wird das Bild von G. bezüglich möglicher Kontakte zum VS oder anderer Geheimdienste. Exif schreibt hierzu: „Die Parlamentarier:innen des hessischen NSU-Untersuchungsausschuss verfügten über Hinweise, dass Corryna G. in ihrer Zeit in Österreich 2000 bis 2003 für einen österreichischen Geheimdienst gespitzelt hatte. Bei diesbezüglichen Fragen berief sich G. auf ein Aussageverweigerungsrecht und ein Zeugnisverweigerungsrecht und als ihr dies nicht zugestanden wurde, wich sie aus und lavierte herum.“ Die Rolle der G. in der Kasseler Naziszene zum Zeitpunkt des Mordes, ihre Kontakte zu Temme, zum VS insgesamt: alles dies ist in Hessen weiterhin unaufgeklärt.

Der „Stadtreiniger“: 2006 und 2019?
Die dritte Person in diesem Kontext ist der Kasseler Nazi Markus H., der wegen der vermutlichen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke in Untersuchungshaft sitzt. Seitdem ist etliches über seine militante neonazistische Biografie bekannt geworden. Darunter auch seine Aktivitäten in einem Nazi-Webforum, wo er sich den Namen „Stadtreiniger“ gab und mit anderen Usern über praktische Vorbereitungen auf den bewaffneten Kampf sowie über militante Strategien diskutierte. Eben dieser „Stadtreiniger“ wurde einige Wochen nach dem Mord an Halit Yozgat zum Verhör gebeten. „Die Polizei hatte festgestellt, dass H. auffallend häufig eine Internetseite angeklickt hatte, die über den Mordfall und die Ermittlungen berichtete. Die Polizei wollte von ihm wissen, woher sein Interesse am Fall Yozgat rührte. Es war eine Routinebefragung, die nur wenige Minuten dauerte.“ schreibt Exif. H. erklärte, so der Artikel, sein Nachbar sei mit dem Ermordeten persönlich bekannt gewesen, er selber habe ihn auch einmal zufällig getroffen, daher das Interesse. Dem befragenden Beamten reichte dieser Hinweis: „Nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen.“ wurde wohl auf dem Blatt notiert.
Es fehlt jeder Hinweis darauf, dass man mit H. einen militanten Nazi mit einer langen Geschichte in der Szene in Kassel vor sich sitzen hatte. Hatte man das tatsächlich übersehen? Ignoriert? Oder war H. auch ein Spitzel beim VS? Es ist aktenkundlich belegt, dass damals sieben Personen der Kasseler Nazis für den VS berichteten, nur einer ist bisher identifiziert.

Konsequenzen
Die in dem Bericht vorgelegten Hinweise sind deutlich und lassen kaum einen anderen Schluss zu, als dass während der Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat noch massiver versagt und eventuell auch vertuscht wurde, als bisher bereits vermutet. Bisher galt der stärkste Zweifel stets der Person Temmes und seiner Rolle als VS-Mitarbeiter, „denn er war vor Ort, als Halit Yozgat erschossen wurde.“ Alleine dieser Fakt reicht, um dem Mann nicht zu glauben, bis er nachvollziehbare Gründe für seine Anwesenheit und sein Verhalten liefert. Und das hat er bis heute nicht. Und die neuen Hinweise? Temme hatte offenbar das Internetcafé als Treffpunkt mit seinen Nazi-Spitzeln benutzt. Gärtner hatte den Ort einmal nachweislich abgelehnt, weil der Besitzer „Türke sei“. Corynna G. könnte mit ihm zusammen vor Ort gewesen sein. Ein weiterer Nazi wohnte zwei Häuser weiter. Und alle Hinweise dazu wurden nicht verfolgt. Die polizeilichen Ermittlungen in Kassel scheinen nicht nur durch die Blockaden des VS und des Innenministeriums unter Volker Bouffier gebremst worden zu sein: entweder saß der VS bei manchen Ermittlungen direkt mit am Tisch oder man hatte andere, eigene Gründe, Nazis mit Samthandschuhen anzufassen.
Das muss das Parlament in Hessen für eine Weile beschäftigen. Es wäre ein fataler Fehler, den geplanten hessischen Untersuchungsausschuss auf die Untersuchung des Mordes an Walter Lübcke zu beschränken: die Morde und Mordversuche in den letzten beiden Jahrzehnten gehören zusammen.

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Fußnote:

[1] Exif-Recherche, Nicht verfolgte Spuren im Mordfall Halit Yozgat, http://exif-recherche.org vom 1.3.2020. Folgende Zitate von hier, soweit nicht anders gekennzeichnet. Einige Nachnamen wurden anonymisiert.

Der Text erscheint auch in Ausgabe 88 des apabiz-Rundbriefs monitor.