Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. – Die ersten fünf Verhandlungstage

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1. Verhandlungstag, 16.06.2020

Das Verfahren gegen Stephan Ernst wegen Mordes, versuchten Mordes und Verstößen gegen das Waffengesetz sowie gegen Markus Hartmann wegen Beihilfe zum Mord wurde eröffnet. Der Vormittag war geprägt von Anträgen der Verteidigungen, am Nachmittag wurde die Anklage verlesen. Abschließend wendeten sich der Richter mit persönlichen Worten an die Angeklagten.

Der Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt wurde vom vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel eröffnet. Neben den Angeklagten samt ihrer Verteidigung waren die beiden Nebenklageparteien anwesend: Familie Lübcke, bestehend aus den beiden Söhnen und seiner Witwe, plus ihr Anwalt Prof. Dr. Holger Matt sowie der Überlebende des rassistischen Angriffs, Ahmet I., der von RA Hoffmann und einer Dolmetscherin begleitet wird. Weitere Verfahrensbeteiligte sind zwei Vertreter der Generalbundesstaatsanwaltschaft, Dieter Killmer und Herr Otto, sowie der Gutachter Prof. Dr. Leygraf. Der Hauptangeklagte Stephan Ernst sitzt zwischen seinen Verteidigern, Mustafa Kaplan und Frank Hannig; in der Reihe vor ihm der Mitangeklagte Markus Hartmann mit seiner Verteidigung Nicole Schneiders und Björn Clemens.

Gleich zu Beginn meldeten die Verteidigungen an, Anträge stellen zu wollen. RA Kaplan stellte als erster einen Befangenheitsantrag gegen den vorsitzenden Richter sowie Anträge zum Ausschluss der Verteidigung Hartmanns und zur Aussetzung der Hauptverhandlung. Er argumentierte, der Richter habe Clemens und Schneiders als Verteidigung zugelassen, obwohl er von einem Interessenskonflikt von RA Schneiders Kenntnis gehabt habe. Dieser ergebe sich daraus, dass Schneiders Ernsts ersten Rechtsanwalt Waldschmidt bei einer Vernehmung aufgrund einer Anzeige wegen Strafvereitelung als Beistand vertreten habe. Es bestünde zudem die Gefahr der Informationsweitergabe, weswegen die Verteidiger abzulehnen seien. Außerdem beklagte Kaplan, dass das Aktenvolumen zu hoch, die Bestellung eines dritten Verteidigers jedoch abgelehnt worden sei.

Im Anschluss stellte Kaplans Kollege RA Hannig einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens aus Infektionsschutzgründen. Durch die Beschränkungen im Saal sei zudem keine ausreichende Öffentlichkeit gegeben. Weiterhin begründete er seinen Aussetzungsantrag damit, dass aus Presseveröffentlichungen neue Erkenntnisse zum Mord bekannt geworden waren, die erst noch ausermittelt werden müssten. Er beschwerte sich zudem darüber, das Gericht habe ihm keine Unterstützung beim Aktenblättern während der Verhandlung gewährt.

Nach einer Pause meldete sich die Verteidigung Hartmanns zu Wort: Auch RA Schneiders stellte einen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung für mindestens drei Wochen, da sie mehr Zeit für die Sichtung der Akten benötige. Zudem habe das Gericht formale Fehler bei ihrer Beiordnung gemacht. Schneiders beantragt außerdem den Prozess aufgrund seiner Besonderheit durch die Corona-Schutzmaßnahmen in Bild und Ton zu dokumentieren.

Ihr Verteidiger-Kollege Clemens beantragte nicht nur das Verfahren auszusetzen und die Anklage nicht zu verlesen. Er forderte, das ganze Verfahren einzustellen und seinen Mandanten zu entschädigen. Clemens begründete dies mit suggestiven Ermittlungen sowie einer Vorverurteilung in der Presse. Diese sei auch dadurch entstanden, da sensible Dokumente öffentlich zugänglich auf eine juristische Datenbank hochgeladen worden seien. Außerdem habe die Generalbundesstaatsanwaltschaft die Anklage zusammen mit einer Presseerklärung raus gegeben ohne die Verteidigung vorab zu informieren. So hätte es zu wenig Zeit gegeben, sich auf Presseanfragen vorzubereiten.

Die Anträge wurden durch die Bundesanwaltschaft allesamt abgelehnt. Die Nebenklage äußerte sich zu den Anträgen folgendermaßen: RA Hoffmann nannte es wünschenswert, mehr Öffentlichkeit im Prozess zu haben. Er befürwortete auch eine Protokollierung des Prozesses. Alle anderen Anträge seien unbegründet. Der Auftritt der Verteidigungen habe gezeigt, dass diese gegeneinander arbeiteten. Der Verteidiger der Familie Lübcke, RA Matt, merkte an, es sei für die Nebenklage nur schwer erträglich, dass der Prozessauftakt von den Anträgen der Verteidigungen, die er allesamt ablehne, bestimmt sei.

Nach der Mittagspause wurde durch Oberstaatsanwalt Killmer die Anklage verlesen: Stephan Ernst wird angeklagt, Walter Lübcke aus niederen Beweggründen getötet und gegen das Waffenrecht verstoßen zu haben. Weiterhin wird er wegen versuchten Mordes an Ahmet I. angeklagt. Markus Hartmann wird angeklagt, bei der Tötung Beihilfe geleistet und gegen das Waffenrecht verstoßen zu haben. Der Angeklagte Ernst vertrete eine von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragene völkisch-nationalistische Grundhaltung, die sich auch gegen Repräsentant*innen der freiheitlichen und demokratischen Bundesrepublik Deutschland richtete. Beide Angeklagten seien in den 2000ern in der Kassler Kameradschaftsszene aktiv gewesen und hätten sich bei einer Kasseler Firma, wo beide arbeiteten, wieder getroffen. In gemeinsamen Gesprächen hätten sie sich wieder radikalisiert und den Beschluss gefasst, sich zu bewaffnen. Sie hätten gemeinsame Schießtrainings absolviert – sowohl legal in Schützenvereinen als auch illegal im Wald. Gemeinsam besuchten sie politische Veranstaltungen. Hartmann habe Ernst seine erste Waffe, eine Schrotflinte, verkauft. Über Hartmann habe Ernst den Kontakt zu Elmar J. bekommen, der ihm Schusswaffen verkauft habe. Gemeinsam haben sie die Veranstaltung zur Eröffnung einer Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden besucht, bei der Walter Lübcke aufgetreten war. Von diesem Auftritt fertigten sie ein Video an, das Hartmann anschließend auf YouTube hochgeladen hatte. Ernst habe seit diesem Auftritt seinen Hass auf den Politiker projiziert und den Plan gefasst, ihm etwas anzutun. Er habe das Wohnumfeld des Politikers über Jahre hinweg ausgespäht, um ihn dann am 01.06.2019 zu ermorden. Ernst habe weiterhin am 06.01.2016 Ahmet I., der zu dem Zeitpunkt in der Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden lebte, mit einem Messer hinterrücks von einem Fahrrad aus attackiert und schwer verletzt. Der Geschädigte hatte vernommen, dass der Angreifer zuvor eine Parole rief, die das Wort „Deutschland“ enthalten habe. Ernst habe durch die Tat seinen Hass auf Geflüchtete ausgelebt und durch die rein willkürliche Auswahl des Opfers darauf abgezielt, Angst unter den in Deutschland Schutz suchenden Menschen zu verbreiten.

Der Prozesstag endete damit, dass sich der vorsitzende Richter an die beiden Angeklagten wandte und ihnen nahelegte, ein reuevolles Geständnis abzulegen.

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Der Bericht bei NSU-Watch Hessen

2. Prozesstag, 18.06.2020

Der Prozesstag drehte sich maßgeblich um das erste Geständnis, das Stephan Ernst am 25. Juni 2019 im Polizeipräsidium Kassel abgelegt hatte. Dessen viereinhalbstündige Aufzeichnung wurde im Gerichtssaal gezeigt.

Die Verhandlung begann erneut mit einem Befangenheitsgesuch der Verteidigung Ernst gegen den Vorsitzenden Richter Sagebiel und Teile des Senats. RA Mustafa Kaplan begründete dieses mit Bezugnahme auf eine Ansprache des Vorsitzenden Richters an Ernst und Hartmann vom Vortrag. Darin hatte Sagebiel die Angeklagten eindringlich zu einer Aussage aufgefordert. Zudem hatte der Richter Ernst und Hartmann aufgefordert auf ihn und nicht auf ihre Anwälte zu hören. Außerdem beantragten Ernsts Anwälte das Vernehmungsvideo ihres Mandanten mit seiner Aussage vom 25. Juni 2019 als Beweismittel nicht zulassen. Sie begründeten ihren Antrag damit, dass Ernst von den vernehmenden Beamt*innen nicht belehrt worden sei und unter Betäubungsmittel gestanden habe. Während der Befangenheitsantrag vertagt wurde, wies das Gericht den Antrag gegen die Vorführung des Video zurück.

Im nachfolgen Verlauf wurde das viereinhalbstündige Video vorgeführt. In diesem erzählt Stephan Ernst zunächst, wie er in der extrem rechten Szene aktiv geworden sei. Ernst nennt NPD-und Kameradschaftskreise sowie „Autonome Nationalisten“ und „Reichsbürger“. Weitere Konkretisierungen nimmt er jedoch nicht vor. Infolge seiner Beteiligung an einem Überfall mit rund vierhundert Neonazis auf eine 1. Mai-Versammlung des DGB in Dortmund 2009 habe er sich, so erzählt Ernst, von der rechten Szene distanziert. Ab 2011 habe er sich zudem von seiner nationalsozialistischen Anschauung gelöst, sei in therapeutischer Behandlung gewesen und habe ein anderes Leben führen und Teil dieser Gesellschaft sein wollen.

Ab 2013/2014 habe er sich jedoch repolitisiert. Er gibt an zu diesem Zeitpunkt auch wieder Kontakt zu Markus Hartmann gehabt zu haben. Hintergrund sei ein gemeinsamer Arbeitgeber gewesen. Mit Hartmann habe er sich sowohl auf der Arbeit, als auch im gemeinsam besuchten Schützenverein in Sandershausen viel über Politik unterhalten. Dadurch sei sein altes „Weltbild“ reaktiviert worden und er habe sich wieder radikalisiert. Schließlich sei Ernst über Hartmann an Waffen gekommen. Angetrieben von der gemeinsamen Idee, dass sich „Deutsche“ gegen die aktuellen politischen Entwicklungen wehren müssten, hätten sich beide bei dem Unternehmer für Haushaltsauflösungen aus Nordrhein-Westfalen, Elmar J, diverse Waffen besorgt. Fortan hätten sie gemeinsam Schießübungen in Waldstücken bei Kassel praktiziert und einige der Waffen an Arbeitskollegen weiterverkauft.

Der Großteil der Vernehmung widmet sich der Bürger*innenversammlung in Lohfelden vom 14. Oktober 2015, in der Dr. Walter Lübcke als Reaktion auf rechte Störer*innen im Saal sagte: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Ernst führt an, dass er und Hartmann gemeinsam zu dieser Veranstaltung gefahren seien und Hartmann die Aussage gefilmt und ins Internet gestellt haben soll. Nachfolgend habe Ernst damit begonnen, über Walter Lübcke im Internet zu recherchieren und sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie er Lübcke eine „Abreibung“ verpassen könne. Ernst sei zudem von „Schlüsselerlebnissen“ zu seiner Tat getrieben worden. Neben der Bürger*innenversammlung von Lohfelden führte er u.a. die „Silvesternacht von Köln“ (2015) sowie den islamistischen Anschlag in Nizza (2016) an. Anfang Januar 2016 sei er, aufgebracht durch die Ereignisse der Silvesternacht durch die Straßen von Kassel-Forstfeld (einem an Lohfelden angrenzenden Stadtteil) gelaufen, habe Wahlplakate zerstört und einen „Ausländer“ mit den Worten angeschrien, man müsse „euch allen den Hals aufschneiden“. Dabei dürfte es sich um den 6. Januar 2016 handeln. An diesem Tag wurde der Nebenkläger Ahmet I. von hinten durch einen Stich mit einem Messer in den Rücken schwer verletzt. Die Generalbundesanwaltschaft geht davon aus, dass Ernst der Täter ist und hat ihn aufgrund dessen wegen versuchten Mordes angeklagt. Ernst bestreitet diese Tat bisher.

Im Vernehmungsvideo erklärt Ernst, dass die gesellschaftlichen Umstände ihn zu dem Entschluss gebracht hätten , dass man Walter Lübcke, den er für die Ereignisse verantwortlich machte, „etwas antun“ müsse. In der Folge sei er mehrmals nach Wolfhagen-Istha gefahren, um den Ort und das Haus des Kasseler Regierungspräsidenten auszuspähen. Schließlich habe er beschlossen, ihn während der örtlichen Kirmes zu ermorden. Ernst gesteht den Mord und macht in langen Ausführungen Angaben zum Tathergang. Darüber hinaus verrät er sein Waffenversteck auf dem Gelände seines Arbeitgebers. Am Ende der Vernehmung beteuert er, dass es ihm leidtun würde und er die Tat bereue. Der Prozesstag endete mit der Sichtung des Videos.

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3. Prozesstag, 30.06.2020

Der Verhandlungstag befasste sich zentral mit der Videoaufzeichnung des zweiten Geständnisses von Stephan Ernst von Anfang Januar 2020, in dem er sein zurückgezogenes erstes Geständnis, zugunsten eines alternativen Ablaufs der Tat mit anderer Vorgeschichte revidiert.

Zu Beginn des Prozesstages wurden zunächst Anträge der Verteidigungen aus vorangegangenen Verhandlungstagen, etwa Befangenheitsanträge gegen einzelne Richter*innen oder Anträge zur Aussetzung des Verfahrens, abgewiesen. Bevor die vierstündige Aufzeichnung des zweiten Geständnisses gezeigt wurde, kündigte Ernst über seine Verteidigung an, sich nach der Sommerpause schriftlich im Prozess äußern zu wollen.

Im präsentierten Vernehmungsvideo behauptet Ernst – entgegen seiner Aussage im ersten Geständnis, er habe Walter Lübcke allein aufgesucht und erschossen – er sei mit Hartmann gemeinsam zu Lübckes Wohnort gefahren, um ihm eine „Abreibung“ zu verpassen und ihn zu schlagen. Dabei habe sich unbeabsichtigt der tödliche Schuss aus der Tatwaffe gelöst, die Hartmann in der Hand hielt. Immer wieder drehte sich die Vernehmung um vermeintliche Abläufe der Tat, sowie deren Vor- und Nachbereitung. Dabei wird im Video wiederholt deutlich, dass die vernehmenden Ermittler Ernsts Behauptung, sein erstes Geständnis sei eine Lüge gewesen, keinen Glauben schenken.

Auf Nachfrage der Ermittler erklärt Ernst im gezeigten Video, wie es zu dem ersten Geständnis kam: Als er in Untersuchungshaft saß und noch keinen Anwalt hatte, habe ihn der Szeneanwalt Dirk Waldschmidt über Sozialarbeiter der JVA kontaktiert und seine Vertretung angeboten. Waldschmidt habe ihm sinngemäß gesagt, dass er sowieso verurteilt würde, da seine DNA-Spuren am Opfer gefunden worden waren. Er solle Hartmann und die restliche Szene nicht belasten und die Tat auf sich nehmen. Die „Gefangenenhilfe“ würde dann seine Familie und die Abbezahlung seines Hauses unterstützen. RA Hoffmann äußerte nach Beendigung der Sichtung des Vernehmungsvideos, bei der von Ernst genannten Gefangenenhilfe könnte es sich um die Nachfolgeorganisation der neonazistischen „Hilfsgemeinschaft nationaler Gefangener“ (HNG) handeln. In der Vernehmung behauptet Ernst, ihm erschien die Option, die Tat allein auf sich zu nehmen, als einzige und beste Lösung. Er habe damit zudem die Hoffnung verbunden, als Held der Szene und Märtyrer dazustehen. Weiter führt Ernst aus, er habe mit seinem ersten Geständnis den Verdacht, hinter dem Mord an Walter Lübcke stünde ein Netzwerk oder es gebe Verbindungen zum NSU, ausräumen wollen. Ebenso gibt er an, wiederkehrend mit Hartmann über Lübcke und den Entschluss, etwas gegen ihn unternehmen zu wollen, gesprochen zu haben. Das Vernehmungsvideo endet damit, dass ein neuer Termin für die dritte Vernehmung ausgemacht wird, dessen Video am vierten Verhandlungstag gezeigt wird.

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4. Prozesstag, 02.07.2020

Am vierten Prozesstag wird die Videoaufzeichung der dritten Vernehmung von Stephan Ernst durch den Ermittlungsrichter und das hessische LKA in Augenschein genommen. Zu Beginn werden kurz die Entscheidungen über die Anträge der Verteidungen mitgeteilt sowie die Inhalte der kommenden Prozesstage festgelegt.

Als Vertreter für die Nebenklage der Familie Lübcke war an diesem Prozesstag RA Klingel anwesend. Richter Sagebiel teilte zu Beginn der Sitzung die Ablehnung aller Anträge der Angeklagten mit und begründete dies. Anschließend gab er noch die weitere Planung für die Beweisaufnahme bekannt und kündigte an, dass für den Prozesstag noch eine Szene aus dem zweiten Vernehmungsvideo gezeigt wird owie das Video der dritten Befragung von Stefan Ernst.

RA Clemens legte einen Verwertungswiderspruch gegen das Videobeweismittel des zweiten Geständnisses ein. Der Ermittlungsrichter habe darin zu Ernst gesagt, dass Hartmann sich bei seinem Verhör darüber gewundert habe, dass er nur wegen Beihilfe, nicht aber wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt sei. Das fände sich so nicht im Protokoll von Hartmanns Vernehmung wieder, daher bestünde der Verdacht, dass der Richter Hartmann in den Fokus habe bringen wollen.

Richter Sagebiel lehnte den Antrag ab und die beiden Videos wurden abgespielt. Die kurze Videosequenz der Vernehmung vom 26.06.2019 wurde nachgereicht, da die zweite Kameraperspektive fehlte, anschließend wird das Video der dritten Vernehmung von Stephan Ernst für den Rest des Prozesstages mit kurzen Pausen gezeigt.

Stephan Ernst wird bei der Vernehmung von seinem Anwalt Frank Hannig sowie dessen Frau begleitet, sie sitzen vor Stellwänden, an denen verschiedene Bilder mit Luftaufnahmen des Hauses der Familie Lübcke hängen, anhand derer Ernst von den Beamten zum genauen Tatablauf befragt wird. So werden seine Laufwege nachvollzogen und aufgezeichnet und er gibt an, von welchen Seiten aus Hartmann und er sich der Terrasse genähert hatten.

Stephan Ernst belastet Markus Hartmann in der Vernehmung schwer und gibt an, sie hätten beide zusammen den Entschluss gefasst, Walther Lübcke etwas antun zu wollen, als sie sich auf dem Rückweg von der AfD-Demonstration in Chemnitz befunden hatten. Dabei habe Hartmann den Zeitpunkt der Kirmes ausgewählt. Sie seien daher auch gemeinsam mehrmals beim Haus der Lübckes gewesen und hatten sich die Umgebung angeschaut, wobei Hartmann die Vorteile des Hauses für einen Übergriff hervorgehoben habe.

Die Beamten befragen Ernst zur Tötungsabsicht, da verschiedene Aspekte unschlüssig scheinen. So gibt Ernst an, sie wollten Lübcke entweder schlagen oder treten oder Sachschaden an seinem Haus verursachen. Allerdings hatten beide weder Handschuhe noch Maskierung auf oder dabei, weshalb die Beamten schlussfolgern, dass das Opfer nicht mehr in der Lage sein sollte, die Täter zu erkennen. Außerdem ließen beide ihre Handys zuhause und zeigten damit, dass sie ein Gespür für Repression und polizeilicher Verfolgung aufweisen. Frank Hannig gibt an, dass sein Mandat dieses Wissen und die Fähigkeiten durch seiner Anti-Antifa-Arbeit erworben hatte und Ernst ergänzt, dass sie Lübcke so stark haben schlagen wollen, dass er sich nicht mehr an die Täter erinnern könnte. Daher hatten sie an die Handys gedacht sowie gestohlene Kennzeichen an das Fahrzeug montiert.

Eine weitere offene Frage sind die Zeug_innenaussagen, die zwei Autos am Tatort sowie an Ernsts Wohnort gesehen haben wollen, darunter auch Ernsts Frau, die Reifenqueitschen gehört haben will. Ernst hat dafür keine plausible Erklärung.

Ernst wird zu seinen Arbeitskollegen, denen er Waffen verkauft hatte. Er sei ein großes Risiko eingegangen, als er Herrn L. gebeten hatte, beim Vergraben der Waffen Schmiere zu stehen. Ernst möchte sich zum Verhältnis der beiden nicht weiter einlassen.

Anschließend wird Ernst noch zu weiteren Kontakten in der rechten Szene befragt. Er gibt an, dass er und Hartmann mit Alexander S. engeren Kontakt haben, so seien sie gemeinsam auf einer AfD-Demonstration am 01. Mai in Erfurt gewesen und haben regelmäßig über Threema kommuniziert. Sch. Sei ein Freund von Hartmann gewesen, mit dem Ernst ein ‚kameradschaftliches‘ Verhältnis gepflegt habe.

Ernst gibt an, nach 2009 wenig Kontakt zur Kameradschaftsszene gehabt zu haben. Die Beamten fragen nach seinen Kontakten zu Mike S., Bernd Tödter und Stanley Röske. S. habe er nach 2010 ab und zu getroffen, einmal in Hannover und einmal auf dem Flohmarkt. Bei Stanley Röske sei er staunt gewesen, als er hörte dass er Mitglied von Combat 18 sei. Und Bernd Tödter habe er nur einmal kennen gelernt, als Tödter ihn mit zu einer Demonstration im Auto mitgenommen habe. Im Gegensatz zur ersten Vernehmung wird bei Beantwortung der Fragen klar, dass Ernst fest in der Kassler Naziszene verwurzelt war. Er benutzt szenetypische Begriffe und stellt die politische Ausrichtung seines Handelns in den Vordergrund. Ernst gibt an, mit Hartmann zusammen an AfD-Stanntischen teilgenommen zu haben und Geldspenden an die ‚Identitäre Bewegung‘ und die AfD getätigt zu haben.

Nach Ende des Videos wird der Verhandlungstag beendet.

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5. Prozesstag, 03.07.2020

Am fünften Verhandlungstag im Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wurde hauptsächlich die letzte Stunde des dritten Vernehmungsvideos von Stephan Ernst gezeigt. Darin beantwortet Ernst Fragen zu seinem politischen Werdegang und Kontakten in die Naziszene. Im Anschluss an das Video wurden Dokumente und Beschlüsse verlesen.

Zu Beginn der Sitzung wurde die Inaugenscheinnahme des Videos der dritten Vernehmung von Stephan Ernst vom Februar 2020 fortgesetzt, die am vorherigen Verhandlungstag unterbrochen wurde. Darin beschreibt Ernst auf Nachfrage vom verhörenden Staatsanwalt, wie seine politische Entwicklung ablief, nachdem er nach eigener Aussage keinen engen Kontakt zur organisierten Neonaziszene mehr gehabt habe: Die Kameradschaftsszene sei ihm zu extrem in ihrem Rassismus und Antisemitismus gewesen – er sei aber nach wie vor „patriotisch gesinnt“ geblieben. Gespräche mit Hartmann hätten ihn dann langsam wieder „dahin geführt“. Sie hätten viel über „Ausländerkriminalität“ und die angebliche „widerrechtliche Grenzöffnung“ von 2015 geredet, so Ernst. Auch der Eindruck aus Medien habe ihn darin bestärkt, dass eine „Gefahr für das Land“ bestehe.

Der vernehmende Staatsanwalt befragt Ernst daraufhin zu seinen Kontakten in die Neonaziszene, etwa zum Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann. Ernst gibt an, er kenne Karl-Heinz Hoffmann nicht persönlich, dafür aber jemanden, der ihn kenne. Hierzu wolle er sich zu einem späteren Zeitpunkt äußern. Außerdem wird ihm ein Foto gezeigt, auf dem er Alexander S. identifiziert. Auf Nachfrage verneint Ernst, Kontakte zur „Hilfsgemeinschaft Nationaler Gefangener“ zu haben. Benjamin Gärtner, V-Mann des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfVH), kenne er noch aus der Kameradschaftsszene. Geführt wurde Gärtner vom damaligen Mitarbeiter des LfVH Andreas Temme. Zu Temme selbst gibt Ernst an, er kenne ihn nicht persönlich. Kontakte von Hartmann zum NSU seien ihm nicht bekannt. Er habe nur aus einem Gespräch mit Hartmann mal erfahren, dass dieser im Haus eines Bekannten von Halit Yozgat gewohnt habe. Auf Nachfrage der Verhörenden sagt Ernst aus, der Name eines Kasseler Lehrers und Antifaschisten, dessen Name auf einer Liste bei Ernst gefunden und auf den 2003 ein Anschlag verübt wurde, sage ihm nichts. Außerdem wurde Ernst noch zu einem möglichen Einbruchsversuch und Sprengstoffdiebstahl zusammen mit Mike S. im Jahr 2003 befragt. Dazu gibt Ernst an, sie hätten „nur davor gestanden“. Mike S., erzählt Ernst auf Nachfrage seines Anwalts Hannig, hätte mal die Vermutung geäußert, dass Hartmann V-Mann für den Verfassungsschutz gewesen sei. Er selbst hätte das auch mal vermutet, da Hartmann immer „aufgestachelt“ habe. [1]

Der vernehmende Staatsanwalt befragt Ernst zudem zu den „Feindeslisten“, die bei ihm zusammen mit zwei Seiten voller Notizen gefunden wurden. Auf diesen hatte Ernst vermerkt, was bei Straftaten wie Anschlägen auf politische Gegner*innen zu beachten sei. Ernst gibt an, die Datensammlung stamme aus „Anti-Antifa-Zeiten“. Zweck der Sammlung seien aber angeblich nur „Outings“ von Antifaschist*innen gewesen. Die Notizen über die sichere Durchführung von Verbrechen habe er zur „psychologischen Verarbeitung“ seiner Gefängniszeit geschrieben, aber nie vorgehabt sie umzusetzen, behauptet Ernst.

Der vernehmende Staatsanwalt macht im Vernehmungsvideo wiederholt deutlich, dass er Ernsts Ausführungen für unglaubwürdig hält: In seinen Augen scheine es so, dass Ernst aus früheren Verbrechen gelernt und dieses Wissen beim Mord an Walter Lübcke genutzt habe. Er habe versucht, das „perfekte Verbrechen“ umzusetzen. Da passe Ernsts Behauptung nicht, dass er und Hartmann Walter Lübcke „nur eine Abreibung verpassen“ wollten. Als Ernst zum Ausspionieren des Anwesens von Lübcke vor dem Tattag befragt wurde, wofür es Zeugen gebe, bricht Ernsts Anwalt die Vernehmung ab. Damit endete die Wiedergabe des dritten Vernehmungsvideos im Prozess.

Im Anschluss an das Video widersprach Hannig, einer der beiden Verteidiger von Ernst, der Identifizierung von Alexander S. im Video durch Ernst. Ihm sei lediglich ein Lichtbild von Alexander S. gezeigt worden, was keine zulässige Identifizierung sei. Björn Clemens, Verteidiger von Markus Hartmann, erklärte zum Video, dass die Aussagen darin nicht glaubhaft seien: Clemens sprach von einem „Gerüst“, das Ernst schlecht ausgefüllt hätte sobald es um Details ginge. Die Aussage sei immer angepasst an den Ermittlungsstand und enthalte Widersprüche. Es ginge nur darum, Vergünstigungen auf Kosten von Hartmann zu erlangen. Auch Nicole Schneiders, die zweite Anwältin von Hartmann, kündigte an, nach der Sommerpause sich zu dem Video zu äußern; ebenso die Bundesanwaltschaft und der Nebenklageanwalt von Ahmet I.

Im Anschluss nannte das Gericht insgesamt 37 Dokumente, die im Prozess im „Selbstleseverfahren“ aufgenommen werden sollten. Hannig widersprach dem und kündigte an zu beantragen, dass alle Dokumente im Prozess vorgelesen würden. Seinem Mandanten Ernst solle hier ein „kurzer Prozess gemacht werden“, so Hannig. Der vorsitzende Richter Sagebiel widersprach dem deutlich und unterbrach die Verhandlung über die Sommerpause bis zum 27. Juli.

[1] Unabhängig von der zweifelsfrei relevanten Frage, ob Markus Hartmann als V-Person für eine Behörde tätig war, muss die Frage von Ernsts Verteidiger und dessen Antwort in dem Kontext gesehen werden, dass es einer üblichen Abwehrstrategie der extremen Rechten entspricht, V-Leute der Geheimdienste für ihre Taten (haupt-)verantwortlich zu machen. Siehe: https://www.nsu-watch.info/2013/07/sie-bereuen-nichts-der-blick-der-rechten-szene-auf-den-nsu/ und https://www.apabiz.de/2019/die-rechte-und-der-nsu-teil-1/

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