„Die Gerechtigkeit ist so greifbar, sie liegt vor meinen Augen, aber ich komme nicht dran.“ – Statement von Ahmed I. zur Urteilsverkündung im Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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Am 28. Januar 2021 wurde in Frankfurt das Urteil im Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. gesprochen. Stephan Ernst wurde wegen des Mordes an Walter Lübcke zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt, die Sicherungsverwahrung vorbehalten. Für den Mordversuch an Ahmed I. wurde er hingegen – trotz erdrückender Beweislage – freigesprochen. Nach dem Ende des Prozesstages gab Ahmed I. ein Statement vor der Presse, welches wir hier dokumentieren.

„Meine Frage ist noch immer: Woher kommt Blut an das Messer von Stephan Ernst? Wie kommt mein Blut an das Messer im Haus von Stephan Ernst? Diese Frage muss geklärt werden. Ein Prozess ist nur zu Ende, wenn alle Fragen beantwortet sind. Aber meine Frage ist nicht beantwortet. Ich will, dass jemand diese Frage beantwortet. Dann erst habe ich meine Ruhe wieder. Warum glaubt der Staatsanwalt, dass es Stephan Ernst war, aber die Richter nicht? Ich kann das nicht verstehen. Ihr schuldet mir eine Antwort.

Alle sollen wissen: Es war eine rassistische Tat. Ich bin davon überzeugt und ich zweifle nicht daran, dass es Stephan Ernst war. Für ihn ist der Freispruch eine Bestätigung. Er hatte einen Plan, er hat darüber nachgedacht, wie man eine Straftat macht, ohne bestraft zu werden und es hat funktioniert. Stephan Ernst ist ein Rassist. Er ist nicht allein. Es gibt viele Rassisten. Nicht nur Stephan Ernst, viele dieser Rassisten werden nun denken: ‚Wir haben es geschafft‘. Der Freispruch für den Mordversuch gegen mich ist ein Signal an Rassisten und Nazis, dass sie nicht bestraft werden. Stephan Ernst hat es geschafft.

Bis zum 29. Oktober 2020 lief es im Prozess gut und es war alles okay. Aber nach meiner Aussage und meiner Befragung durch die Prozessbeteiligten im Gericht war etwas anders. Vor diesem Prozesstag war mein Gefühl: Wir schaffen das. Es gibt genügend Beweise. Endlich wird alles untersucht und es wird Antworten geben. Der Angriff auf mich wird untersucht und bestraft. Der Tag meiner Aussage fühlte sich an, als ob das Gericht gegen mich wäre. Niemand hat mich wirklich reden lassen zu den Dingen, die wichtig sind – oder mir mit Respekt zugehört. Ich wurde nicht zu den Dingen gefragt, die wirklich wichtig sind. Die Fragen, die mir gestellt wurden, hatten nichts mit dem Angriff auf mich zu tun. Das hat mir ein schlechtes Gefühl gegeben. Und dieses Gefühl hat sich bestätigt.

Nach diesem 25. Prozesstag ist die Stimmung gekippt. Gegen mich. Alles war anders. Ich wurde als Opfer nicht mehr gehört. Der Richter hatte kein Interesse mehr an meinem Fall, an meiner Akte, an dem, was ich zu sagen habe. Ich war dann unsichtbar. Es fühlte sich an als wäre es erledigt. Im Dezember 2020 sagte das Gericht dann: „Im Moment haben wir große Zweifel, dass wir Stephan Ernst wegen dem Angriff auf Ahmed I. verurteilen werden“. Der Prozess lief noch. Aber es wirkte, als ob da schon alles entschieden war.

Es war so wenig Interesse im Gericht für mich. So kannst du dich verhalten, wenn es um einen kleinen Unfall geht und ein Auto einen Schaden hat. Aber es wurde versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich wurde mit einem Messer angegriffen. Ich sollte getötet werden. Wenn du einen Tag in meinem Leben lebst, dann weißt du wie schwer es ist. Lebe einen Tag in meinem Körper und du spürst, wie schwer es ist. Die Bauchschmerzen, die Kopfschmerzen, die Rückenschmerzen, die Sorgen. Ich werde jeden Tag daran erinnert, was vor fünf Jahren am 6. Januar 2016 passiert ist. Wenn ich nicht zu meinem Recht komme, dann ist das etwas, das mein Leben beeinflusst.

In Deutschland gibt es Recht und Gerechtigkeit. Ich dachte, wenn es ein Gericht gibt, dann gibt es Gerechtigkeit: Wenn du etwas Strafbares machst, bekommst du auf jeden Fall deine Strafe. Das habe ich gedacht. Aber es ist nicht so. Wenn du geschickt vorgehst, bekommst du keine Strafe. Im Gerichtssaal sitzen mir Neonazis und Rassisten gegenüber und es gibt Beweise dafür, dass Stephan Ernst mich angegriffen hat. Ich habe war von Anfang an sicher, dass es Gerechtigkeit geben würde. Ich hatte die Hoffnung, dass jetzt alle intensiv und gut ermitteln, dass alle gut hinschauen und sich Mühe geben, dass der Angriff auf mich im Januar 2016 endlich ernsthaft und tatsächlich untersucht wird. Ich habe nicht erwartet, dass das Gericht im Dezember 2020 sagt: „Wir werden nicht zu einer Verurteilung kommen“.

Ich verstehe nicht, warum der Richter meinen Fall nach meiner Aussage anders gesehen hat. Ich wurde am Tag meiner Aussage ohne Respekt behandelt. Der Richter hat mir nicht zugehört. Er hat auf seine Uhr geschaut. Er hat mich nicht angeschaut. Er hat mit seinem Nachbarn auf der Richterbank gesprochen. Es war, wie als würde ich gar nicht sprechen. Wollte mir niemand zuhören? Warum nicht? Ich saß dort und niemand hat zugehört. Dem Verteidiger von Stephan Ernst, Mustafa Kaplan aber hat er freie Bahn gelassen, mich alles zu fragen – darunter so vieles, was überhaupt nichts zur Sache tut. Der Richter hat nur einmal zum Verteidiger von Stephan Ernst gesagt: „Das geht nicht“. Kaplan wurde nicht gestoppt. Markus H. hat gelacht. Als wären wir im Kino. Was soll man da fühlen? Es war dann auch nicht der Richter, der gesagt hat ‚Es geht nicht, dass der Markus Hartmann lacht‘, sondern der Nebenklagevertreter der Familie von Walter Lübcke, Professor Matt und der Vertreter der Bundesanwaltschaft. Mein Anwalt Alexander Hoffmann hat zum Gericht gesagt: „Die Frage ist unzulässig“. Das ist sein Recht als mein Nebenklagevertreter und das ist seine Aufgabe. Mein Anwalt wurde für diesen Einwand vom Richter angeschrien. Es ging immer wieder darum, dass das Verfahren schnell gehen soll. Was heißt schnell? Wir sind nicht in einem Laden an der Kasse. Wir sind in einem Prozess. Es geht hier auch um mein Leben. Das Gericht darf seine Aufgabe zügig machen, aber es muss ordentlich arbeiten. Denn der Richter entscheidet über mein Leben.

Wenn der Richter sagt: Stephan Ernst war nicht der Täter, der mir das Messer in den Rücken gerammt hat, dann ist es nach einem Monat vergessen. Ich lebe aber damit bis zu meinem Tod. Und auch, wenn der Richter sagt, Stephan Ernst war es nicht: Ich bin überzeugt, dass es so ist. Ich weiß, was ich erlebt habe. Die Gerechtigkeit ist so greifbar, sie liegt vor meinen Augen, aber ich komme nicht dran.

Für mich ist es wichtig, was die Menschen sagen, nicht nur, was die Richter sagen. Viele sind überzeugt, dass es Stephan Ernst war. Wichtig ist, dass die anderen Menschen erkennen, dass es eine rassistische Tat war und dass niemand wegschaut.

Ich frage mich: Wenn ein so großer Prozess mit so vielen Verhandlungstagen und mehr als sechs Monaten Verhandlungsdauer es nicht geschafft hat, viele Fragen zu beantworten, wie soll es dann ein Untersuchungsausschuss schaffen? Die Abgeordneten müssen sich wirklich große Mühe geben. Sie müssen eine bessere Arbeit machen. Es ist eine Chance nochmal hinzuschauen. Ihr müsst das gut machen. Zu dem Untersuchungsausschuss sage ich: Nehmt mich ernst. Schaut mich an. Hört mir zu. Die Polizei hat Fehler gemacht.“