Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – Dokumentation

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Am Abend des 18. September 2021 wurde der 20-jährige Alexander W. im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein ermordet – in der Tankstelle, in der er jobbte, um sich unter anderem den Führerschein zu finanzieren. Der Täter war knapp zwei Stunden zuvor bereits in der Tankstelle gewesen, ohne eine Mund-Nase-Bedeckung zum Schutz vor Corona zu tragen. Alex W. hatte ihm zu diesem Zeitpunkt wegen der fehlenden Maske den Kauf von Bier verweigert. Später kehrte der Täter mit einer scharfen Waffe im Hosenbund zurück in die Tankstelle. Diesmal trug er eine Maske. Er stellte sich in die Schlange vor der Kasse. Als er an der Reihe war, nahm er die Maske herunter, zog seine Waffe und schoss dem Opfer ins Gesicht. Alex W. war sofort tot.

Der Täter – der Rechte und Pandemieleugner Mario N. – stellte sich am Sonntag nach der Tat vormittags bei der Polizei und gestand. Am 21. März 2022 wurde der Prozess wegen Mordes gegen N. vor dem Landgericht Bad Kreuznach eröffnet. Im Prozess wurden N.s rechte Gesinnung, sein Rassismus, sein verschwörungsideologisches Weltbild, seine Misogynie und seine allgemeine Menschenverachtung deutlich. Klar wurde auch, dass diese Gesinnung bereits deutlich vor der Pandemie vorhanden war. Nach 24 Verhandlungstagen wurde N. am 13. September 2022 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung legten jeweils Revision gegen das Urteil ein. Am 10. Januar 2023 teilte das Landgericht mit, dass beide Revisionen zurückgenommen wurden. Das Urteil ist damit rechtskräftig.

Die Berichte zu allen Verhandlungstagen findet ihr hier.

Wir danken den Prozessbeobachter*innen für ihre Arbeit!

Übersicht der Verhandlungstage

 

Der Angeklagte wollte „ein Zeichen setzen“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 1. Verhandlungstag, 21. März 2022

Am Montag, 21. März, begann vor der 1. Strafkammer des Landgerichtes Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz) das „Strafverfahren wegen eines Tötungsdelikts in einer Tankstelle in Idar-Oberstein“, dem Mord an Alexander W., gegen Mario N.

Verfahrensbeteiligte sind neben dem Angeklagten und dessen Verteidigern Rechtsanwalt Axel Küster und Rechtsanwalt Alexander Klein: Das Gericht, bestehend aus der Vorsitzenden Richterin Dr. Claudia Büch-Schmitz und den Richtern Dr. Hamel und Stöhr sowie den beiden Schöff*innen; die Staatsanwaltschaft vertreten durch Oberstaatsanwältin Nicole Frohn und Staatsanwältin Patricia Richter; als Nebenklägerin die Mutter des Opfers, vertreten durch Rechtsanwältin Ruth Streit-Stifano Espósito.

N. soll laut Anklage am 18. September 2021 einen Tankstellenmitarbeiter erschossen haben. Nach der verlesenen Anklage hatte der 20-jährige Alexander W. den Angeklagten beim Betreten der Tankstelle aufgefordert, einen Mund-Nase-Schutz zu tragen. Da N. der Aufforderung nicht nachkam, verwehrte Alexander W. ihm den Kauf von zwei Sechserpacks Bier, so die Anklageschrift. Nachdem N. in einer anderen Tankstelle Bier gekauft hatte, soll er zunächst nach Hause gefahren sein. Dort sei er zu dem Schluss gekommen, dass er die Situation nicht auf sich beruhen lassen könne. Schon lange habe er sich durch die Corona-Beschränkungsverordnungen „belastet“ gefühlt. Doch habe er seinem Frust gegenüber der Politik keine Luft verschaffen können, also habe er Alexander W. für die „Gesamtsituation mitverantwortlich“ gemacht. Mit einer Waffe soll N. dann erneut in die Tankstelle zu Alexander W. gefahren sein, versucht haben, ihm durch provokantes Herunterziehen des Mund-Nase-Schutzes eine Reaktion zu entlocken, um daraufhin in Tötungsabsicht auf W. zu schießen. Der in den Kopf getroffene Alexander W. fiel zu Boden und starb sofort. N. soll sich dann einfach den Mund-Nase-Schutz wieder über das Gesicht gezogen und die Tankstelle verlassen haben.

Das ist der Tathergang, wie ihn die Staatsanwaltschaft Mario N. zur Last legt. Angeklagt ist N. wegen Mordes unter den Gesichtspunkten der Mordmerkmale der Heimtücke und der sonstigen niedrigen Beweggründe. Bei der Befragung bei der Polizei habe N. angegeben, „ein Zeichen setzen“ zu wollen. Ein Zeichen gegen die Maskenpflicht – in Form eines Mordes. Außerdem habe N. bereits seit 2014 zwei Schusswaffen besessen. Einen Revolver Smith & Wesson – die Tatwaffe – sowie eine Pistole Ceska, bei der die Seriennummer unkenntlich gemacht sei. Dass er wissentlich für diese Waffen keine waffenrechtliche Erlaubnis hatte, wird ihm ebenfalls zur Last gelegt.

Ausgerechnet in diesem Prozess trägt die Vorsitzende Richterin nicht selbst konsequent Mund-Nase-Schutz und erlaubt auch dem Angeklagten und allen anderen Verfahrensbeteiligten, den Mund-Nase-Schutz abzusetzen. Von dieser Möglichkeit machte der Angeklagte dann tatsächlich Gebrauch. Richterin Büch-Schmitz sorgte damit für den Tiefpunkt des Tages.

Das Landgericht Bad Kreuznach und die Staatsanwaltschaft präsentierten in Anwesenheit der Mutter des Opfers, die als Nebenklägerin persönlich im Gerichtssaal war, auch ansonsten einen chaotischen Prozessauftakt. Bereits der erste Prozesstag musste vertagt werden, noch bevor N. mehr als nur seine Personalien angeben konnte.

Gleich nach Anklageverlesung ließ die Richterin CDs mit Akteninhalten verteilen. Das Material liege seit vergangenem Mittwoch der StA Bad Kreuznach und seit Donnerstag dem Gericht vor. Es sei versucht worden, das Material elektronisch an die Verteidigung zu übermitteln, was aber aus technischen Gründen gescheitert sei. Es handelte sich, wie sich herausstellte, um etwa 1.300 Seiten, unter anderem eine kriminalpsychologische Bewertung und um Akten der Ermittlungsgruppe (EG) „Tanke“, die zum Mord an Alexander W. ermittelte. Die Verteidigung beantragte die Vertagung, um sich die Akten anschauen zu können.

In diesen Akten finden sich Verweise auf andere Akten zu Strafsachen in Zusammenhang mit der „Querdenken“-Szene aus Rheinland-Pfalz, unter anderem auf ein Ermittlungsverfahren gegen eine Person, die mittels 3-D-Drucker eine Waffe hergestellt habe, weitere Exemplare in großer Stückzahl habe fertigen und auf Telegram weitere Personen für den bewaffneten Kampf gegen die Regierung habe gewinnen wollen. Es wurde auch der Redebeitrag des ehemaligen baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Stefan Räpple zitiert, den dieser auf der Kundgebung der rechtsoffenen „Querdenken“-Szene in Mainz am 26. September 2020 gehalten hatte. Räpple hatte dort dazu aufgerufen, die Regierung gewaltsam zu stürzen. [Räpple wurde am 19. Januar 2022 zu 10 Monaten auf Bewährung und 2.400€ Strafe verurteilt.]

Die Verteidigung beantragte neben der Vertagung vorsorglich die Beiziehung auch dieser Akten. Zunächst wurde jedoch geklärt, ob sich diese Akten überhaupt auf den Angeklagten beziehen oder lediglich auf andere Personen. Nach einer Unterbrechung rief Oberstaatsanwältin Frohn bei der Generalstaatsanwaltschaft in Koblenz an, um zu erfragen, ob ein Bezug zu dem Angeklagten N. bestünde. Nachdem der Bezug verneint wurde, zog die Verteidigung ihren Beiziehungsantrag zurück.

Nach längerem Hin und Her wurde der Prozess vertagt, entweder auf den kommenden Freitag, 25. März, oder den Donnerstag nächster Woche (31. März). Das darf sich die Verteidigung nun bis Donnerstagvormittag (24.3., 10 Uhr) aussuchen.

 

„Es ist nicht nur sein Leben, was verloren ging.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 2. Verhandlungstag, 25. März 2022

Der 2. Verhandlungstag im Prozess zum Mordfall an Alexander W. am Freitag, den 25.03.2022, verlief mit einer umfassenden Einlassung des Angeklagten Mario N. sowie einer anschließenden Befragung der Mutter von Alexander W. sehr emotional.

Zunächst verlas Verteidiger RA Klein die schriftliche Einlassung des Angeklagten. Der Angeklagte gestand bei seiner Befragung durch das Gericht ein, dass das Opfer als Projektionsfläche für ihn austauschbar war. Er habe zu sich gesagt, „bis hierher und nicht weiter“, bevor er den Entschluss gefasst habe, ein zweites Mal zu der Aral-Tankstelle zu fahren. Er habe sich, so Mario N., nach dem ersten Besuch in der Tankstelle „gedemütigt“ gefühlt, wie er dem Gericht mitteilte. Die Verteidigung versucht offensichtlich von Mario N. ein Bild als Opfer eines schwierigen Elternhauses sowie der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu zeichnen. Er habe erhebliche Umsatzeinbußen im Jahr 2020 hinnehmen müssen. Außerdem habe N. vor der Tat übermäßig viel Alkohol konsumiert. N. gab dazu an, 10 bis 12 Dosen Bier getrunken zu haben.

Bei seiner Befragung gab N. an, dass sein Vater ihm, als er acht Jahre alt war, eine Waffe an den Kopf gehalten und ihm damit gedroht habe. Der Vater habe lange Zeit ein Alkoholproblem gehabt. Seitdem habe er, N., Angst vor seinem Vater gehabt. Weiterhin sei er in seinem Elternhaus schon früh mit Waffen in Kontakt gekommen, woraufhin er eine Faszination für diese entwickelt habe. Im Rahmen von Besuchen bei seiner Schwester in den USA habe er regelmäßig an Schießtrainings teilgenommen. Sein Schwager, zu dem er ein brüderliches Verhältnis gepflegt habe, habe ihn dorthin mitgenommen. Auf Nachfrage von Richter Dr. Hamel, ob er sich selbst als sicheren Schütze einschätze, antwortete N.: „Ziemlich sicher“. In den USA habe er mit allen möglichen Waffen Schießen gelernt – von Revolver über halbautomatische Gewehre bis hin zu einer vollautomatischen Kalaschnikow.

Die Mordwaffe sowie die weitere gefundene Waffe der Marke Ceska nahm der Angeklagte im Jahr 2013 von seinem Vater an sich. Seitdem habe, so N., die Ceska in einer Schublade in seinem Wohnzimmer gelegen und die Mordwaffe der Marke Smith & Wesson geladen und jederzeit schussbereit in einer Schublade im Schrank seines Schlafzimmers. Trotzdem gab es im Besitz des Vaters anscheinend noch eine dritte Waffe, denn im März 2020 schoss dieser in seiner Wohnung „um sich“, wie N. dem Gericht berichtete. Der Vater verletzte N.s Mutter schwer und tötete anschließend sich selbst. Dies habe den Angeklagten zusätzlich schwer belastet, wie er in der Befragung mitteilte. Trotzdem habe N. psychologische Betreuung abgelehnt. Er gab an, dass er von „Psychologie als Wissenschaft nicht so viel“ halte.

Mario N. glaubte zwar an die Existenz des Coronavirus, verneinte jedoch dessen Gefährlichkeit. Nachdem er verschiedenen Quellen gefolgt sei, habe sich für ihn, so N., ein Bild ergeben, dass eine Infektion mit dem Virus nicht gefährlicher sei als eine Grippe. Deshalb lehnte er die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ab. Im Laufe der Zeit und mit zunehmender sozialer Isolierung sei er „immer tiefer in die Blase gerutscht“. Seine Schwester und weitere Bekannte hätten sich von ihm distanziert. Auf der Suche nach „Verantwortlichen“ habe er sich in seinen Social Media-Gruppen „mitreißen“ lassen. Die „Schuldigen“ seien ihm in diesen „Foren“ präsentiert worden. Seitens des Gerichtes gab es keine Nachfragen, um welche „Foren“ es sich dabei genau handelt.

N. habe sich in den Chats mit seinen Gewaltfantasien zunehmend enthemmt, seine Sprache sei immer „roher“ geworden. Er habe sich in einem „Bedrohungsszenario“ gewähnt, weil im Zuge der Coronamaßnahmen seiner Meinung nach „der Staat umgebaut wird“. N. zog in der Befragung Parallelen zur DDR. Auf die abschließende Frage der Vorsitzenden Richterin Claudia Büch-Schmitz, wie N. heute zu den Coronamaßnahmen stehe, entgegnete dieser, dass sich seine Einstellung nicht geändert habe. Noch immer findet er, dass „ein Großteil der Maßnahmen unnötig sind“, auch wenn er zugibt, dass sich die vielen „Impftoten nicht bewahrheitet haben“.

Auf die Einlassung des Angeklagten folgte die Zeuginnenbefragung der Mutter des Opfers. Sie berichtete, wie sie von dem Tod ihres Sohnes erfuhr. Sie hatte ihn den ganzen Tag nicht gesehen und wusste auch nicht, dass er an diesem Abend in der Tankstelle arbeitete. Als sie davon erfuhr, dass in der Nähe der Aral-Tankstelle etwas passiert sei, fuhr sie zum Tatort. Dort habe die Polizei ihr mitgeteilt, dass ihr Sohn als Opfer betroffen ist. Noch vor der Vernehmung bei der Polizei erfuhr sie im Warteraum der Polizeiwache von zwei Zeuginnen den Ablauf der Tat. Diese hatten sich während der Tat im Verkaufsraum der Tankstelle aufgehalten. Laut seiner eigenen Aussage hat der Angeklagte die Zeuginnen während seiner Tat nicht gesehen.

Die Mutter von Alexander W. beschrieb ihren Sohn als „fröhlichen und lebensfrohen Menschen“, er sei „immer hilfsbereit gewesen und bei allen sehr beliebt“, habe dementsprechend einen großen Bekanntenkreis gehabt. Eine Entschuldigung von Mario N. lehnte sie ab, sie wolle ihm keine Absolution für seine Tat geben. Sie wird, so stellte sie fest, dem Mörder ihres einzigen Kindes nie verzeihen können, denn „es ist nicht nur sein Leben, was verloren ging“.

An diesem zweiten Prozesstag wurde deutlich, dass der Mord an Alexander W. nicht einfach als isolierte Tat eines Einzelnen betrachtet werden kann. Auch wenn die Verteidigung – unter anderem mit den Verweisen auf Alkoholkonsum – versucht, die Zurechnungsfähigkeit des Täters bei der Tat in Zweifel zu ziehen, wurde klar, dass die Tat einen wesentlich politischen Hintergrund hat. Dies zeigt schon die geschilderte zunehmende Enthemmung des Täters. Diese wurde wenn nicht ausgelöst, so doch mindestens zugespitzt von einer Parallelwelt aus Desinformation und Verschwörungsideologie auf Social Media, in der sich der Täter bewegte. In dieser „Blase“ werden vermeintliche Schuldige präsentiert und Gewalt bis hin zu Mord wird als legitimes Mittel im sogenannten Widerstand gegen die angebliche Errichtung einer „Diktatur“ angesehen. Der Prozess muss sich auch mit diesen Hintergründen befassen, wenn er die Tat erfassen will. Dass es zu den „Foren“ keinerlei Nachfragen seitens des Gerichtes gab, lässt allerdings befürchten, dass es dazu nicht kommt.

 

„Als wäre es das Normalste auf der Welt.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 3. Verhandlungstag, 31. März 2022

Am dritten Verhandlungstag wurden zunächst die Videobeweise aus diversen Überwachungskameras gezeigt. Die Nebenklägerin, Mutter des Opfers, verließ den Saal, bevor die Videos gezeigt wurden. Gezeigt wurden insgesamt 12 Videos in drei Blöcken. (1. Block: Erster Besuch ARAL Tankstelle, Diskussion; 2. Block: Bierkauf anschließend bei BFT Tankstelle; 3. Block: Zweiter Besuch ARAL Tankstelle, Tatgeschehen). Die Tat selbst wurde von zwei Kameras aufgezeichnet. Jeweils frontal ist dabei aus Sicht des Opfers sowie des Täters der tödliche Schuss dokumentiert. Was auch zu sehen ist: Es gibt mindestens einen Augenzeugen. Alex W. war zum Zeitpunkt seines Todes nicht alleine mit dem Täter. Ein Kollege arbeitete unmittelbar neben ihm im Bistrobereich der Verkaufstheke.

Nach einer kurzen Pause wurde am heutigen Verhandlungstag dieser Arbeitskollege als Zeuge gehört. Geflohen aus Syrien vor Krieg und Tod wurde er nun erneut zum Opfer, als Augenzeuge dieser Gewalttat. Er schildert den Verlauf der Arbeitsschicht aus seiner Sicht, den ersten Besuch des Täters an diesem Abend, die Diskussion, den zweiten Besuch des Täters und schließlich die Tat. Wie er selbst fliehen, aber Alex nicht mehr helfen konnte. Der Zeuge hatte bereits den ersten Besuch des Täters miterlebt und Alex habe ihm anschließend erzählt, der Täter habe ihm die Faust entgegengestreckt, als er draußen weglief. Diese Aussage bestätigen auch die Videoaufnahmen. Beim zweiten Besuch des Täters befand sich der Zeuge gerade vor der Tankstelle zur Rauchpause. Er brach diese ab, weil er das Gefühl gehabt habe, es könnte etwas passieren: „Vielleicht wird er Alex schlagen oder die Tankstelle demolieren.“ Nach kurzem Blickkontakt mit dem Täter nach der Tat, konnte der Zeuge fliehen. Bis Ende Februar 2022 war der Zeuge in Therapie. Er hofft, im Herbst sein Studium wieder aufnehmen zu können. An der Tankstelle, oder überhaupt als Kassierer, könne er nicht mehr arbeiten.

Zwei auch mit dem Opfer Alex W. befreundete junge Frauen wurden ebenfalls Augenzeuginnen und damit Opfer der Tat von Mario N. Sie besuchten Alex in der Tankstelle, um sich mit ihm für einen Clubbesuch nach seiner Schicht zu verabreden. Eine der beiden erlitt unmittelbar durch den Schuss ein Knalltrauma, war bewegungsunfähig und wurde von ihrer Freundin am Arm weggezogen. Ebenso wie der Kollege von Alex W. flüchteten sie die Straße entlang Richtung Polizeidienststelle. Die dritte Zeugin begann ihre Aussage unter Tränen mit den Worten: „Alex war meine erste große Liebe, er war mein bester Freund“.

Die Schilderungen ergeben auch auf Nachfrage des Gerichts, der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft ein eindeutiges Bild zum Verhalten des Angeklagten. Er wirkte auf keine der Zeug*innen alkoholisiert. Der Umgang des Angeklagten mit der Waffe wirkte erfahren und entschlossen. Die Zeug*innen beschreiben das Verhalten vor, während und nach der Tat als „kühl“, „normal“. Es habe, so die zweite Zeugin, „nicht gewirkt als wäre er nervös, als ob das was Unmenschliches wäre“. Nachdem er die Waffe gezogen habe, habe er auch direkt gezielt und geschossen. Die Zeug*innen hatten Angst vor weiteren Schüssen, sind seit der Tat psychisch schwer belastet und die Beschwerden dauern bis heute an.

Eine weitere Zeugin stand zum Bezahlen an der Kasse an, hatte getankt. Mario N. stand hinter ihr. Er habe auf sie etwas hibbelig gewirkt, als habe er Zeitdruck. Alkoholgeruch nahm sie an ihm nicht wahr. Die beiden jungen Frauen ließen sie vor. Die PIN der EC-Karte funktionierte nicht, woraufhin sie zum Wagen zurückkehrte; Alex W. legte ihren Kassenbon zur Seite. Als der Schuss fiel, habe sie am Fahrerfenster gerade ihren Lebensgefährten wegen der PIN angesprochen, so die Zeugin. Zunächst hätten sie das Geräusch nicht einordnen können, die Kinder hätten von der Rückbank gefragt, „warum das so laut war gerade“. Als dann der Täter mit Waffe in der Hand aus dem Gebäude trat, sei klar gewesen, um welches Geräusch es sich gehandelt haben muss. N. steckte sich, so die Zeugin, die Waffe unters T-Shirt „als wäre nix passiert“; laut ihrem später als Zeugen gehörten Lebensgefährten „so selbstverständlich, so locker und dann läuft er so ganz normal Richtung Polizei“. Beide Erwachsene und beide Kinder sahen den Mann mit der Waffe. Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war: Der kleine Sohn, das berichtete die Zeugin, habe die Tat beobachtet.

Ihr Lebensgefährte, der dann als Zeuge gehört wurde, verfolgte zunächst den Täter, kehrte dann wieder um und betrat die Tankstelle. Er fand das Opfer, bat seine Freundin, Polizei und Rettungskräfte zu rufen. Alex W. antwortete nicht auf Ansprache, es gab keine Lebenszeichen mehr. Der Mann hatte gehofft, ihm noch helfen zu können. Er habe, so der Zeuge, die Schusswunde gesehen: „Da war klar, da brauch ich nicht viel machen.“

20 Minuten nach dem ersten Notruf waren Polizei und SEK da, weitere 10 Minuten später der Rettungsdienst. Oberstaatsanwältin Frohn erklärte, dass diese Abläufe normal seien nach einem Schusswaffeneinsatz, der Rettungsdienst dürfe erst anfahren, wenn die Lage unter Kontrolle ist.

Der Sohn hatte nach der Tat tagelang Fieber, aß und trank nicht, benötigte Kinderarzt und Kinderseelsorge. Man müsse das im Auge behalten, das könne später noch Schaden auslösen, wurde der Mutter geraten. Die Mutter des Jungen ist bis heute psychisch von der Tat belastet.

Es folgte ein Gutachten zur phonetischen Textanalyse durch die Sachverständige Braun. Diese bezeichnete das sprachliche Verhalten des Täters als „unaufgeregt“. Der von ihr nachvollzogene Wortwechsel deutet für Prozessbeobachter*innen auch nicht darauf hin, dass das Opfer eine Chance hatte, die Tat abzuwenden.

Mario N. hat Alex W. erschossen. Er hat die Tat gestanden, es gibt Videobeweise und die Aussagen der Augenzeug*innen. Angeklagt ist er wegen Mordes mit den Merkmalen der Heimtücke und sonstigen niederen Beweggründe. Seine Verteidigung setzt auf den Alkoholkonsum als Entlastung. Die Aussagen des heutigen Verhandlungstages stehen dem entgegen. Auch der Vorwurf der Heimtücke wurde heute nicht entkräftet, sondern eher erhärtet.

Die Radikalisierung des Angeklagten über Jahre und letztendlich seine Tat haben Alex W. das Leben gekostet, der Mutter ihren Sohn genommen und mindestens fünf weitere Menschen psychisch schwer verletzt. Die Nachahmungsdrohungen in den Wochen nach der Tat sind eine weitere Folge. Der Angeklagte Mario N. schaute sich die Videos seiner Tat nicht an. Auch während der Zeugenaussagen betrachtete er die Tischplatte, stützte seinen Kopf auf den Händen ab. Ungläubig blickte er zur Zeugin, als diese von ihrem Sohn als weiteren Tatzeugen berichtete.

 

„Ich möchte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, darum habe ich gesagt, ich bin verlobt.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 4. Verhandlungstag, 1. April 2022

Der Prozesstag begann mit leichter Verspätung. Als erstes wurde der Zeuge Kevin R. befragt, ein Kollege des Opfers. R. beschrieb Alex als umgänglichen Kollegen, mit dem man auch mal Quatsch machen konnte. Gegenüber der Kundschaft beschrieb er Alex als freundlich. Anmaßend oder streitlustig habe er ihn nie erlebt. Die Tat sei bis heute präsent; sie würden Alex nicht vergessen. Seit der Tat werden Kunden, die den Mund-Nasen-Schutz nicht oder nicht korrekt tragen nicht mehr auf die Maskenpflicht hingewiesen: „Aus bekannten Gründen.“ Der Zeuge wurde nach einer guten Viertelstunde entlassen.

Es folgt die Inaugenscheinnahme von Bildern des Tatortes, der Tankstelle und des Opfers.

Der zweite für den Tag geplante Zeuge konnte aufgrund einer Corona-Infektion nicht aussagen und wird zu noch unbekanntem Zeitpunkt erneut geladen.

Nach einer Unterbrechung sollte es mit der dritten Zeugin, Anni L., der Freundin des Angeklagten, weitergehen. Doch es ging nicht über die Feststellung der Personalien hinaus, da die Frage nach der Beziehung zu dem Angeklagten nicht klar war. Die Frage, ob die Zeugin, wie von der Verteidigung im Vorfeld eingebracht, mit dem Angeklagten verlobt ist – und damit ein Zeugnisverweigerungsrecht hat – oder nicht, nahm den Prozess eine weitere Viertelstunde in Anspruch. Dann unterbrach die Vorsitzende Richterin für zehn Minuten.

Danach erläuterte Oberstaatsanwältin Frohn der Zeugin das Zeugnisverweigerungsrecht nach Strafprozessordnung (StPO). Daraufhin sagte die Zeugin aus, dass sie nie die Absicht gehabt habe, den Angeklagten zu heiraten, sie habe das nur in einer Email geschrieben, um Angeklagten keine Schwierigkeiten zu machen. Die Verteidigung beantragte daraufhin einen Zeugenbeistand und eine*n Dolmetscher*in für die Zeugin.

Der Prozess pausierte erneut. Die Nebenklagevertretung merkte später an, dass die Verteidigung die Unterbrechungen nutze, um intensiv auf die Zeugin einzureden, was ein lautstarkes Wortgefecht zur Folge hatte. Ebenso lautstark trat die Verteidigung im Gericht gegenüber der Anklage und dem Gericht auf. Ein möglicher Grund für die Zaghaftigkeit der Vorsitzenden Richterin Dr. Claudia Büch-Schmitz in der Entscheidungsfindung. Erst nach der Unterbrechung gibt die Vorsitzende bekannt, den Antrag auf Zeugenbeistand abzulehnen und das Zeugnisverweigerungsrecht nicht anzuerkennen aber dem Antrag auf eine*n Dolmetscher*in folgt. Damit wird auch diese Zeugin entlassen.

Um 12:13 Uhr rief die Vorsitzende den Zeugen Helmut Ne. auf. Der präsentierte sich zunächst als Bekannter, der gemeinsam mit dem Angeklagten mit dem Hund spazieren ging. Über Telegram habe der Angeklagte ihm Bilder von Raumschiffen geschickt. Sie sprächen über Fotografieren, die Arbeit und Corona. Gerade das letzte Thema führte die Vorsitzende zu der Frage, ob ein weiteres Engagement zur Sprache gekommen sei. Der Zeuge sagt, er wisse davon nichts. Bei dem Angeklagten sei das ein empfindliches Thema gewesen: verlorene Aufträge, eingebrochenes Geschäft, Verzweiflung. Dann habe der Angeklagte wegen Corona nicht zur Beerdigung des Vaters oder ins Krankenhaus zur Mutter gedurft – auf die der Vater geschossen hatte, bevor er sich selbst erschoss. „Im Fieberwahn“, will der Zeuge wissen. Woher er das weiß, fragt ihn an diesem Tag niemand. Diese Gespräche endeten laut dem Zeugen im Mai 2021, nachdem dieser sich hat impfen lassen.

Davor unterhielten sich Zeuge und Angeklagter nicht nur, wenn sie die Hunde ausführten. Sie haben auch zusammen gegrillt und über Telegram geschrieben. Die Protokolle dieser Chats [im Folgenden kursiv]  zeichneten ein anderes Bild von ihrer Beziehung und ließen deutliche Rückschlüsse auf das Weltbild des Zeugen, vor allem aber des Angeklagten zu. Daher wurden sie dem Zeugen vorgehalten. Der nahm Stellung etwa zu Verschwörungserzählungen wie dem „Großen Austausch“, nach dem ab 2030 nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa „nicht mehr da“ wären: „Dann sind wir ganz Multi-Kulti“. Oder wie die USA den Lockdown eingestellt hätten, nachdem er „seinen Zweck erfüllt“ habe und Joe Biden Präsident geworden sei. „Nichts Negatives“ findet Helmut Ne. daran. Das sei ganz normal. Außerdem witzelten Angeklagter und Zeuge darüber, wer nach „Walhalla“ käme oder phantasierten über die Revolution. Das klinge „zwar jetzt doof“, aber er sähe „hier keine Lösung ohne Gewalt“ mehr, kommentierte der Angeklagte auf Telegram.

Außerdem ging es in den Telegram-Chats um Verschlüsselungstechnik und darum, wie man sich Waffen beschaffen könne, ohne aufzufallen. Besonders letzteres bot vor dem Hintergrund, dass der Zeuge Mitglied in einem Schützenverein ist, Anlass zu Nachfragen. Er hat einen Waffenerlaubnisschein mit der Erlaubnis Munition herzustellen. Anstatt Munition zu kaufen, stellt er sie für unterschiedliche Kaliber selbst her. Darunter welche für Waffen des Kalibers .357, das Kaliber mit dem der tödliche Schuss auf das Opfer abgegeben wurde. Auf den Einwand der Verteidigung, den Zeugen über den Paragraphen 55 StPO [Auskunftsverweigerungsrecht bei Fragen, bei deren Beantwortung man sich der Gefahr der Strafverfolgung aussetzt] aufzuklären, erwiderte die Vorsitzende Richterin, dass sie keine Anhaltspunkte dafür sehe. Auch die Staatsanwaltschaft sah dafür keine Anhaltspunkte. Die konkrete Frage, ob der Zeuge Munition an den Angeklagten weitergereicht hat, wird nicht gestellt. Der Zeuge Ne. wurde um 13:53 Uhr entlassen.

Nach einer kurzen Mittagspause rief die Vorsitzende den Zeugen Manfred Ru. auf. Der Nachbar des Angeklagten wollte offensichtlich nicht aussagen. Er habe nichts gehört, wisse nichts, habe nichts gesehen, so der Zeuge. Auch Protokolle von Gesprächen der Polizei mit ihm, die ihm vorgehalten wurden, oder Drohungen der Oberstaatsanwältin änderten daran nichts. Nach einer halben Stunde wurde der Zeuge wieder entlassen.

Als letztes rief die Vorsitzende den Zeugen Markus W. auf. Der Geschäftsfreund des Angeklagten berichtete, er habe diesen vor 20 Jahren kennengelernt. Er zeichnet das Bild eines überforderten Talents, beschreibt dessen Arbeitsweise, Beziehungsprobleme, Krisen und wie er ihm mit einem Finanzplan geholfen habe. Der Angeklagte sei nicht so strukturiert, habe Alkohol getrunken und Drogen genommen, mutmaßte der Zeuge. Mario N. sei nie politisch aktiv aufgetreten. Wenn er sich in Themen reingesteigert habe, sei N. manisch gewesen, habe etwa in einem Computerspiel gigantische Welten für sich selber gebaut.

Nachdem der Zeuge entlassen worden war, endete der Prozesstag um 16:23 Uhr.

 

„Es ist etwas ganz Schlimmes passiert. Ich glaube, Alex ist tot.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 5. Verhandlungstag, 06. April 2022

Der Prozesstag begann mit einer Diskussion zwischen RA Klein und der Vorsitzenden Richterin Büch-Schmitz. Klein stellte einen mündlichen Antrag, die Sitzung nur bis Mittag anzusetzen, da der Angeklagte Mario N. durch die Überwachungsmaßnahmen des Gefängnisses sehr übermüdet sei: Er wird stündlich geweckt, um zu kontrollieren, dass er noch am Leben ist, weshalb er nicht schlafen könne. Des weiteren bat er das Gericht darauf einzuwirken, dass die Überwachungsmaßnahmen vor den Verhandlungstagen gelockert werden. Die Richterin wies die Bitte mit dem Verweis auf getrennte Zuständigkeiten zurück. Außerdem könne er einen Antrag stellen.

Als erster Zeuge sagte der Inhaber der Aral-Tankstelle aus. Er beschrieb das Opfer Alex W. als „wohlerzogenen und intelligenten“ jungen Mann, der sehr beliebt war. Oft seien Freund*innen in der Tankstelle gewesen. Alex bewarb sich im Januar 2021, weil er seinen Führerschein finanzieren wollte. Bei Teambesprechungen sei oft über den Umgang mit der Maskenpflicht gesprochen worden, so der Zeuge. Die Angestellten waren angewiesen, die Kunden „nett und sanft“ auf fehlende oder falsch getragene Masken anzusprechen. Weil der Eigentümer oft mit Alex zusammen im Verkaufsraum der Tankstelle gearbeitet hat, wusste er zu berichten, dass Alex „immer dementsprechend reagiert hat – so, wie es sein sollte“.

Zu dem Tatabend berichtete er, dass Alex an dem Abend mit einem weiteren Beschäftigten gearbeitet habe. Der Mitarbeiter habe zum Tatzeitpunkt einen Meter neben Alex an der Kaffeemaschine gestanden. Als der Schuss fiel, sei er er aus dem Verkaufsraum hinaus direkt zum gegenüberliegenden Polizeirevier gerannt. Noch beim Rennen habe der Mitarbeiter ihn, den Eigentümer, auf dem Mobiltelefon angerufen und ihm mitgeteilt: „Es ist etwas ganz Schlimmes passiert. Ich glaube, Alex ist tot.“ Daraufhin sei er selbst direkt zur Tankstelle gefahren, so der Zeuge

Auf eine Frage der Richterin wie jetzt die Situation in der Tankstelle ist, antwortete der Zeuge, dass sich alles normalisiert habe, auch durch den Wegfall der Maßnahmen. Ohnehin habe es Absprachen mit dem Ordnungsamt und dem Bürgermeister von Idar-Oberstein gegeben, dass seine Angestellten seit der Tatnacht die Maskenpflicht nicht mehr durchsetzen mussten. Die Sicherheitslage habe es nicht hergegeben. In der ersten Woche nach dem Mord seien außerdem einige ohne Maske in die Tankstelle gekommen. Auf dem Eigentümer wirkte dies, als wollten diese Personen provozieren.

Als weitere Zeug*innen waren ein Kriminaltechniker und die leitende Ermittlerin der Kriminalpolizei geladen. Diese rekonstruierte anhand der Videoaufzeichnungen aus der Tankstelle, wie N. diese bei seinem ersten Besuch mit Maske in der Hand betrat und die Maske im weiteren Verlauf in seine Gesäßtasche steckte. In N.s Einlassung hatte es noch geheißen, dass er nicht wisse, wo er die Maske gehabt hat. Die Zeugin wertete außerdem Daten aus, welche das LKA von N.s Telefon wieder sichtbar machen konnte. Dies waren Suchverläufe zu Corona sowie zu Politiker*innen der AfD.

Bei der abschließenden Inaugenscheinnahme verschiedener englischsprachiger Telegram-Videonachrichten von Mario N. an seinen in den USA lebenden Schwager, der Polizist ist, wurde N.s Weltbild deutlich. In diesen im Prozess von einer Dolmetscherin übersetzten Nachrichten leugnete er den Klimawandel und die Corona-Pandemie und verbreitete Verschwörungserzählungen zum Anschlag auf das World Trade Center 2001. Er sei sich sicher, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft bald zusammenbrechen würden. Dafür verantwortlich machte N. „eine Million Afrikaner, die bald herkommen“ sowie George Soros, der „bei dieser Invasion, die Hände mit im Spiel hat“. Die extrem rechte AfD war für N. „die einzige Alternative“, die allerdings „keine Chance hat, da ihr der Makel als Nazis anhaftet“. Denn „Deutsche können mit Patriotismus nicht umgehen“, wie N. seinem Schwager in der gleichen Videonachricht mitteilt.

Gefestigt hat er sich dieses extrem rechte Weltbild u.a. durch Videos des rechten, verschwörungsideologischen US-Radiomoderators Alex Jones. Dessen Sendungen und Beiträge schaute N. regelmäßig und sehr gern, wie er seinem Schwager in einer weiteren Videonachricht mitteilte.

Der Prozesstag endete mit dem Abspielen von Videonachrichten an N.s Schwager von der Tatnacht und dem Morgen danach. In einer Nachricht von 20:20 Uhr kündigt N. an: „Ich bin fast so weit meine 357er aufzuheben und hinzugehen. Ich schieße dem verdammten Scheißkerl in den Kopf“. Am nächsten Morgen teilte N. mit, dass er sich nun der Polizei stelle und wahrscheinlich für lange Zeit ins Gefängnis muss. Er endet mit: „Das werden die letzten Nachrichten sein, die du von mir hörst“.

Um 17:45 Uhr wurde der 5. Verhandlungstag im Prozess um den Mord an Alex W. beendet.

 

Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 6. Verhandlungstag, 8. April 2022

Nach Verhandlungsbeginn teilte Richterin Büch-Schmitz mit, dass der Angeklagte Mario N. die Schuhe, die er zur Tatzeit trug, heute anhabe. Diese sollten kriminaltechnisch untersucht werden. N. gab sein Einverständnis, dass die Schuhe durch die Polizei in der JVA „gehoben“ und erforderlichenfalls mit auf die Dienststelle genommen werden.

Erster Zeuge an diesem Verhandlungstag war der Polizeibeamte J. von der Kriminalinspektion Trier. Er gab an, dass er zum Tatzeitpunkt in Bereitschaftsregelung auf dem Rückweg von einem Einbruchsdelikt in Idar-Oberstein gewesen sei. Nach der Funkmitteilung „Schuss/Schüsse gefallen in Tankstelle“ hätten sie sich die Schutzwesten angezogen und seien zum Tatort gefahren. Beamte der Polizeiinspektion Idar-Oberstein, die direkt gegenüber dem Tatort liegt, seien schon vor Ort gewesen, es habe eine Täterbeschreibung gegeben. Der erste Versuch die Videoaufzeichnung einzusehen sei gescheitert, der Tankstelleninhaber habe dann die Videosicherung unterstützt. Der Täter, so der Zeuge, habe auf der Aufnahme sichtbar bei Verlassen der Tankstelle gestikuliert, entweder mit der Faust oder dem Mittelfinger, jedenfalls habe er eine „Gewaltgeste“ gezeigt. Es sei dann die Fahndung gefolgt, es habe diverse Fehlhinweise auf mögliche Täter gegeben, denen teilweise auch Maßnahmen gefolgt seien. Sein Dienstende, so der Zeuge, sei um 8 Uhr morgens gewesen. Der Zeuge hat außerdem eine Zeugenvernehmung mit dem bereits im Prozess als Zeugen gehörten Arbeitskollegen des Opfers geführt, dieser sei „höchst traumatisiert“ gewesen. Auf Frage von Büch-Schmitz sagte der Zeuge, dass bei seiner Ankunft bereits Rettungskräfte da gewesen seien, die aber nichts mehr hätten tun können.

Der zweite Zeuge war der Kriminaltechniker KHK Volker G. von der KI Wittlich. G. weist darauf hin, dass die zentrale Untersuchung durch die Kriminaltechnik in Trier durchgeführt worden sei und er keine Kenntnisse vom Untersuchungsergebnis habe. Die Kriminaltechnik Trier sei gegen 0:00 Uhr gekommen, sein eigener Einsatz sei gegen 4:15 Uhr beendet gewesen. G. berichtete davon, dass er sich spurentechnisch auf die Mülltonnen konzentriert habe, wegen des ersten Aufenthalts des Täters an der Tankstelle. Sie hätten eine medizinische Maske in Bereich der Blumenauslage gesichert wegen des Hinweises, dass der Täter sie dort nach der Tat weggeworfen habe, außerdem die Plexiglas mit Durchschuss, daktyloskopische Spuren an Kühlschränken und das auf der Theke stehende Sixpack Becks. Bei der Projektilsuche in der Rückwand des Kassenbereichs sei das entsprechende Wandstück ausgeflext worden. Eine Spurensicherung am Opfer hätten sie nicht durchgeführt, weil ohnehin die Obduktion angestanden habe. Das Opfer habe einen Einschuss im linken Auge gehabt, sowie eine Austrittswunde am Hinterkopf. Zur Auswertung der Videoaufnahmen sagte der Zeuge, der Täter habe „ganz normalen Schrittes“ den Tatort verlassen. Reanimationsversuche seien zuerst von zwei Polizistinnen der gegenüberliegenden Wache, dann von zwei Rettungsassistenten und zwei Notärzten lange Zeit fortgeführt worden. Nach einer Inaugenscheinnahme von Bildern wurde der Zeuge entlassen.

Die Zeugin KK Michaela Hein von der Kriminaldirektion Trier berichtet im Folgenden, dass sie mit zwei Kollegen kurz nach G. eingetroffen sei, sie berichtet, dass sie eine Blutlache im Kassenbereich vorgefunden und eine Schleifspur bis in den Bereich Bäckertheke, die durch die Rettungskräfte verursacht worden sei. Dort habe das Opfer gelegen in einer weiteren großen Blutlache. Sie schilderte das blutverschmierte Gesicht und die blutdurchtränkten Haare des Opfers. Im weiteren Verlauf sei sie abberufen worden zur Dienstelle Idar-Oberstein zur Schmauchspurensicherung an der verdächtigen Person. Später habe sie eine Waffe .357 Magnum erhalten als Asservat, an der keine Schusszeichen erkennbar gewesen seien. Die Waffe sei ans LKA weitergeleitet worden zur Untersuchung, ob das sichergestellte Projektil aus dieser Waffe stammt. Die Ceska habe sie nicht untersucht, so die Zeugin, sondern nur ans LKA zur Untersuchung weitergeleitet.

Die Vorsitzende Richterin wies die Angehörigen von Alex W. darauf hin, dass nun Bilder des Leichnams zu sehen sein würden, woraufhin zwei Personen den Zuschauerbereich verließen. Als bei der folgenden Inaugenscheinnahme Bilder des Gesichts von Alex W. zu sehen waren, wendete der Angeklagte den Blick ab und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.

Nächster Zeuge war Thomas H. von der Kripo in Trier. H. war Ermittlungsbeamter bei der Durchsuchung des Hauses von N. Im Wohnzimmer in einem Rollcontainer hätten sie, so der Zeuge, die Ceska – „wohlgemerkt Kleinkaliberwaffe“ – nebst einem Speedloader befüllt mit Patronen für die Tatwaffe Magnum aufgefunden. Das Magazin der Ceska sei geladen, die Waffe aber nicht durchgeladen gewesen. Die Magnum sei im Keller aufgefunden worden. Auf einen Vorhalt von Büch-Schmitz hin erinnerte sich der Zeuge daran, dass er ein Einhandmesser von Walther auf dem Abstelltisch neben der Couch gefunden habe, Klinge im Griff. In die weiteren Ermittlungen war H. nicht eingebunden.

Als letzte Auskunftsperson wurde der Waffensachverständige Alexander G. [?] gehört. Er berichtete über die beiden gefundenen Schusswaffen und die Munition sowie das in der Tankstelle gesicherte Projektil. Unter anderem erwähnte er, dass bei der Ceska 6,35mm die Seriennummer an zwei Orten unwiederherstellbar entfernt worden sei. Eine Herkunftsermittlung sei bei der Ceska nicht möglich gewesen. Ein BKA-Abgleich habe keine registrierten Straftaten in Verbindung mit den beiden Waffen ergeben. Beide Waffen und die Munition seien erlaubnispflichtig. Als wichtigstes Ergebnis der Ausführungen des Sachverständigen lässt sich festhalten, dass das Projektil aus der Tankstelle aus der bei N. gefundenen Waffe .357 „Magnum“ stammt. Züge und Felder im Rechtsdrall entsprächen den Spuren am Geschoss, so der Sachverständige, Vergleichsgeschosse hätten Übereinstimmung ergeben.

Nachdem der Sachverständige entlassen wurde, wies Büch-Schmitz auf eventuelle Zusatztermine am 29.04., 16.05. und 30.05.2022 hin.

Der Verhandlungstag endete um 11:20 Uhr.

„Wenn ich das alles nicht wüsste, wäre ich nie in diese Situation gekommen.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 7. Verhandlungstag, 11. April 2022

Der Verhandlungstag begann mit der Vernehmung eines Polizisten der Kriminalinspektion Idar-Oberstein. Er hatte am Vormittag des 19.09.2021 bei den Ermittlungen mitgewirkt. Der Polizist gab an, dass Mario N. sehr gefasst auf ihn gewirkt habe, außerdem habe sich N. kooperativ verhalten und bei allen Maßnahmen mitgewirkt. In Gesprächen habe sich N. „klar ausgedrückt“. N. habe nicht betrunken auf ihn gewirkt, auch habe er keinen Alkohol riechen können.

Vor der Einführung des ersten Videos der polizeilichen Vernehmung von Mario N. am 19.09.2021 legte RA Klein Widerspruch gegen die Inaugenscheinnahme ein. Bereits am 2. Verhandlungstag hatte die Verteidigung einen Antrag gestellt, die ersten polizeilichen Vernehmungen nicht als Beweismittel zuzulassen. Die Verteidigung begründet dies damit, dass der hinzugerufene Pflichtverteidiger RA Franzmann kein Fachanwalt für Strafrecht ist, weshalb N. die nötige, ihm rechtlich zustehende kompetente Beratung verwehrt worden sei. Über diesen Antrag wurde noch nicht abschließend entschieden. Nach 15-minütiger Beratung wies die Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz den Widerspruch zurück. Über die Verwertung der Vernehmung als Beweismittel muss noch entschieden werden.

Bei dem anschließenden Video der ersten polizeilichen Vernehmung wurde deutlich, weshalb die Verteidigung versucht, dieses Video als Beweismittel in Frage zu stellen. Mario N. machte während der ganzen Befragung einen sehr selbstsicheren und überlegten Eindruck – ganz so, als würde er es genießen, dass jemand Interesse an seiner Gedankenwelt hat und ihm zuhört. Mehrmals gab N. an, dass er die Tat bei vollem Bewusstsein durchgeführt habe. Ihm seien die Konsequenzen klar gewesen. Nahezu kühl gibt N. an: „Ich habe ganz bewusst die Maske runtergezogen, er hat reagiert wie erwartet, ich habe ihn in den Kopf geschossen. Ich wollte auch den Kopf treffen.“ Sehr klar schildert N. auch seine Gedanken vor der Tat: „Irgendeiner muss jetzt mal zeigen, dass hier Grenzen sind“, denn „alles was Leute über die NS-Zeit erzählt haben“ erkannte N. im Zuge der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wieder.

Für N. waren alle mitschuldig, die sich an die Auflagen zur Eindämmung des Coronavirus gehalten haben. Alex W. diente in dem Moment der Tat für N. als Projektionsfläche, denn er „komme nicht an Merkel ran, an Soros ran, an Spahn ran“. „Es ging nicht um den Menschen an sich, sondern um die Geschichte. Es musste ein Zeichen gesetzt werden“, bestätigte N. die Beliebigkeit der Wahl des Opfers, als er auf die Frage, ob es ihn störte, dass sich Kameras in der Tankstelle befanden, antwortete. Zusätzlich fühlte sich N., als ihm der Verkauf der Ware verweigert wurde, wie „ein Idiot behandelt“, „jetzt ist es schon so weit, dass du dich von einen Tankstellenboy anschnauzen lassen musst“. Auf die Frage, ob er schon einmal vor der Tat ähnliche Gedanken gehabt hätte, antwortete N: „Wenn ich hundert Männer mit Eiern zusammenkriege, würde ich eine Armee gründen und die Verantwortlichen ausschalten.“ N. zeigt damit, wer die eigentlichen Adressaten seines Hasses waren.

N. gab an, er habe alle „Machenschaften“ von Politiker*innen nachrecherchiert; aufgrund seines Berufes habe er einige Fähigkeiten diesbezüglich. Auf die Nachfrage, von wo er seine Infos bezogen hat, blieb N. allerdings vage. Er gab lediglich an, dass er die „freie Presse“, zum Beispiel „Tichys Einblick, Welt und Spiegel“, regelmäßig gelesen habe. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk lehne er hingegen ab, denn N. ist davon überzeugt, dass „man sich das sucht, was Sinn macht“ und im ÖRR habe er keinen Sinn gefunden. Zu seinem Medienkonsum fügte N. hinzu, „wenn ich das alles nicht wüsste, wäre ich nie in diese Situation gekommen“.

Als letzter Zeuge des 7. Verhandlungstages wurde der Beamte, der N. vernommen hat, befragt. Er gab ebenfalls an, dass er N., als sehr ruhig und bedacht wahrgenommen habe. N. habe sich normal ausgedrückt und normal Blickkontakt gehalten, ohne zu starren. Außerdem sei er mit der IT-Auswertung beauftragt gewesen, so der Zeuge. Von 11 Geräten seien mehrere Terra-Byte Daten ausgewertet worden. Auf dem Laptop von N., mit dessen Auswertung der Zeuge hauptsächlich beauftragt war, fand er mehrere Bilder von Waffen. Unter anderem ein Foto, auf dem zwei Sturmgewehre, zwei Pumpguns, mehrere Kleinfeuerwaffen sowie die dazugehörige Munition zu sehen waren. Es handelt sich um das Waffenarsenal von N.s in den USA lebendem Schwager.

Um 14:30 Uhr wurde der Zeuge entlassen und der Verhandlungstag beendet.

„Er fand die Pistolen cool, darum wollte er die haben“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 8. Verhandlungstag, 13. April 2022

Der achte Prozesstag teilte sich in zwei Teile auf. Ein Großteil des Tages berichtete die Lebensgefährtin des Angeklagten Mario N., Anni L., über ihr Erleben des Tages vor der Tat. Ihre Befragung behandelte stark den Alkoholkonsum und die psychische Ausgangslage des Angeklagten mittelfristig vor der Tat und am Tattag selbst. Anschließend berichteten drei Polizeibeamte aus Trier, die in dem Fall ermittelten und Datenträger des Angeklagten ausgewertet hatten, welche seiner Aussagen sie für das Verfahren als relevant befunden haben.

Der Prozesstag begann mit einer erneuten Auseinandersetzung zwischen Verteidiger Klein und der Vorsitzenden Richterin Claudia Büch-Schmitz. Mit seinen Unterbrechungen hat der Rechtsanwalt einen schweren Stand im Prozess, dennoch scheint er der Meinung zu sein, die Befragung der Richterin, Oberstaatsanwältin Frohn oder Nebenklagevertreterin Streit-Stifano Espósito im laufenden Satz unterbrechen zu können. Insbesondere die Vertretung der Mutter des Opfers könne „die Uhr danach stellen“, wann sie von dem Verteidiger unterbrochen wird. Die Vorsitzende Richterin erklärte ihm nochmal explizit die vorgesehene Reihenfolge in der Befragung von Zeug*innen.

Der Tattag

Mit der für den Tag bestellten Dolmetscherin konnte die Befragung der Freundin des Angeklagten Anni L. nachgeholt werden. In ihrer Befragung schilderte diese den Ablauf des Tattages. Am Morgen seien sie und der Angeklagte gegen 11 Uhr gemeinsam einkaufen gewesen. Schon gegen 11:30 Uhr erreichte die Polizei ein Anruf: N. meldete eine Entenjagd, die an ein Privatgrundstück grenzte, was ihn aufgeregt habe. Danach sei er, so die Zeugin, ins „Globus“-Einkaufszentrum gefahren, um Wasser zu kaufen. Um 15 Uhr habe er dann mit den Vorbereitungen zum Grillen begonnen und dabei das Biertrinken angefangen. Irgendwann in der folgenden Zeit habe es eine Meinungsverschiedenheit mit seiner in den USA lebenden Schwester gegeben, über die N. sich auch geärgert habe. Um 18 Uhr habe er nach sieben Bier angefangen Kaffee zu trinken. Um 18:30 Uhr will sich die Zeugin auf die Couch gelegt haben.

Was im weiteren Verlauf passierte, lässt sich aus anderen Quellen wie Chatverläufen und Aussagen anderer Zeug*innen folgendermaßen rekonstruieren: Um 19:48 Uhr hat N. bei dem späteren Opfer erfolglos versucht, Bier zu kaufen, was er dann um 20 Uhr in einer anderen Tankstelle geschafft habe. Um 20:20 Uhr schickte er seinem Schwager Jason W., einem Polizisten in den USA, eine Sprachnachricht, in der er die Tat ankündigte. Der reagierte, indem er ihm sagte, dass er sich melden solle, wenn er wieder nüchtern ist, seine Schwester ärgere sich wegen solchem Blödsinn. Um 21:19 Uhr erschoss N. sein Opfer Alex W.

Gegen 22 Uhr, so gibt es die Zeugin L. in ihrer Aussage vor Gericht weiter an, will sie dann von N. geweckt worden sein, sie habe das Auto durchsucht, sie habe ihm die Autoschlüssel gegeben und sei duschen gegangen, bevor sie gegen 23:30 Uhr ins Bett gegangen sei. Von der Tat will sie aber erst am nächsten Morgen erzählt bekommen haben.

Der Fokus auf den Alkoholkonsum des Angeklagten ist relevant für die Klärung der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Ein Alkoholtest wurde erst am nächsten Tag durchgeführt. Da nicht klar ist, wie hoch der Alkoholpegel des Angeklagten zur Tatzeit tatsächlich war und was der Angeklagte zwischen der Tat und dem Alkoholtest getrunken hatte, suchte insbesondere die Verteidigung nach weiteren Gelegenheiten, bei denen die Zeugin nicht ausschließen könne, dass er getrunken habe. So fragte der Verteidiger, ob der Angeklagte nicht beim Einkauf im Globus getrunken haben könne. Die Zeugin konnte das nicht ausschließen, da sie ja nicht dabei war.

Daneben spielt für die Verteidigung der psychische Zustand des Angeklagten eine wichtige Rolle. RA Klein fragte etwa, worüber sich der Angeklagte an dem Tag am meisten geärgert habe. Für die Zeit vor der Tat gab die Zeugin auf Fragen (vor allem der Verteidigung) an, dass der Angeklagte Stress im Job gehabt habe und nannte Trauer über die Beerdigung des Vaters des Angeklagten in dessen Abwesenheit. In Bezug auf die Waffen des Vaters, die der Angeklagte bekommen hat, sagte die Angeklagte: „Die Pistolen fand er cool, darum wollte er die haben.“ In dem Zusammenhang beschrieb L. den Angeklagten als paranoid, sprach sogar laienhaft von einer bipolaren Störung; sie habe da mal was gelesen. Im Gespräch zwischen N. und ihr sei Corona schon ein Thema gewesen, Politik aber nicht. Da habe sie das Thema gewechselt. Später zitieren Ermittler der Polizei aus Chatverläufen, wie sich N. im Gespräch mit L. rassistisch äußerte. Für die Frage der Schuldfähigkeit nicht uninteressant: Der Zeuge B., Ermittler der Kriminalinspektion Trier, berichtete, dass das LKA gelöschte Chats wiederherstellen musste. Wann N. die Daten auf seinen mehreren Rechnern, Handys und Tablet gelöscht hatte, wurde in dem Prozess nicht gefragt.

„Ich lande dieses Jahr noch wegen Mord oder Totschlag im Knast.“

Die Ermittler haben auch weitere Äußerungen N.s [kursiv]  in seinen Chats gefunden, die nicht nur für das Verfahren relevant sind und Rückschlüsse auf sein misanthropisches Weltbild zulassen, sondern auch zeigen, dass N. schon das letzte Jahr über häufiger angekündigt hatte, einen Menschen zu töten. Im Oktober 2020 schrieb er: „Maskenpflicht auf dem Globus-Parkplatz. Ich lande dieses Jahr noch wegen Mord oder Totschlag im Knast.“ Im Zusammenhang mit dem Thema möglicher Bußgeldforderungen kündigte er im Dezember 2020 an, würde er jemanden vor seiner Haustür erwischen, erlebe „der das neue Jahr nicht mehr“.

Gegenüber dem im Prozess (noch) nicht gehörten Zeugen Stefan H. schrieb er auf die Behauptung, dass Corona nur ein Fake sei, dass er sich im Gegenteil wünsche „die Menschheit müsste mal um zwei Drittel dezimiert werden“. Seine Endzeitfantasien richteten sich nicht nur entpersonalisiert gegen Menschen, er nannte auch konkrete Personen. Neben Jens Spahn – bei dem er keine Probleme hätte, ihm „die Kehle durchzuschneiden“ – nannte er „die Rothschilds“. Der Bezug auf die Bankiersfamilie Rothschild ist eine der wichtigsten antisemitischen Chiffren und Bestandteil vieler Fantasien von einer vermeintlichen ‚jüdischen Weltverschwörung‘. Sie und andere bekannte „player“, so N. gegenüber seinem Schwager in einer Videobotschaft, würde er gerne mal „ohne Strom sehen“. Er sei nicht in der Lage eine Armee aufzustellen und Politiker zu beseitigen, aber er sei in der Lage ihnen die elektrische Versorgung zu nehmen.

Während der Polizeibeamte B. in seiner Zeugenvernehmung im Prozess davon berichtete, durchsuchten parallel Polizist*innen in Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern 21 Wohnungen von Mitgliedern der „Vereinten Patrioten“. Diese ehemaligen Soldaten, Prepper und Reichsbürger hatten geplant, Gesundheitsminister Lauterbach zu entführen, die Strominfrastruktur zu sabotieren und damit einen Umsturz herbeizuführen. In der am 7. Prozesstag gezeigten ersten polizeilichen Vernehmung hatte sich N. folgendermaßen geäußert: „Wenn ich hundert Männer mit Eiern zusammen kriege, würde ich eine Armee gründen und die Verantwortlichen ausschalten.“

„Der Mario sagte, es gibt bald einen Krieg in Deutschland. Wenn die Flüchtlinge immer mehr Kinder bekommen, sind wir die Fremden im eigenen Land.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 9. Verhandlungstag, 2. Mai 2022

Der Prozesstag startete mit der Vernehmung von Tim K., der als Ersthelfer am Tatort war und versuchte Alex W. zu reanimieren. Er kannte W. auch persönlich, ist bekannt mit dem Tankstellenbetreiber. K. beschrieb Alex W. als freundlich, aufgeschlossen, höflich. Bei den Gesprächen handelte es sich zwar nur um Smalltalk, aber auf Nachfrage der Verteidigung des Angeklagten konnte der Zeuge nichts Negatives berichten. Der Zeuge wurde nach einer knappen Viertelstunde wieder entlassen.

Direkt anschließend begann die Vernehmung von Matthias S. Auch S. konnte nicht wirklich viel berichten. Er war einige Male mit seinem Cousin und dem Angeklagten mit dem Hund spazieren. Das aber sei dann nicht mehr gegangen. N. habe nur das Thema Corona gekannt, habe das Thema nicht wechseln können. Nach der Tat habe er, so der Zeuge, die Polizei gerufen. Er will von seinem Cousin gehört haben, dass das „der Mario“ war, und sei dann zur Polizei gefahren. Auf Nachfrage der Verteidigung, wieso er das getan habe, antwortete S.: „Na, der hat doch einen erschossen!“

Vieles von dem, was der Zeuge S. angab, hatte er von seinem Cousin. Nur das nicht, gab der Cousin, Stefan H., an, der als nächster Zeuge geladen ist. Der klärt auch auf, dass viele dieser Gespräche zwischen den beiden Cousins auf Hörensagen basieren.

Auch der Zeuge H. scheint dem Angeklagten nicht wirklich nahe zu stehen. Eine „Hundebekanntschaft“, die vor viereinhalb Jahren begann. Mehr habe „der Mario“ nicht gewollt, nichts Privates. Es hat beinahe den Anschein, als hätte der Angeklagte kein persönliches Nahumfeld über diese „Hundebekanntschaften“ hinaus. Der Zeuge H. gab sich kooperativ, berichtete dem Gericht von Jobs, die Naumann ausgeschlagen habe, weil er regelmäßig einen Mund-Nasen-Schutz hätte tragen müssen. Für die Bewertung des psychischen Stresses durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf N.s berufliche Situation ist diese Information von zentraler Bedeutung. Als Richter Dr. Hamel die Befragung übernahm, wurde der Zeuge unruhig. Der Richter ließ sich von dem Zeugen Chatnachrichten zwischen ihm und dem Angeklagten bestätigen. Vor allem die Art, wie herabwürdigend beide über Menschen gesprochen hatten, mit welcher Selbstverständlichkeit Gaskammern, Mordfantasien und ganz konkrete Androhungen von Mord immer wieder zwischen ihnen ausgetauscht wurden, vermittelt einen Eindruck, welche Sicht der Angeklagte auch schon vor der Corona-Pandemie auf die Welt hatte. Nur waren es davor noch andere, gegen die sich die Wut des Angeklagten richtete. H.: „Der Mario sagte, es gibt bald einen Krieg in Deutschland (…). Er meinte, dass die Flüchtlinge sich immer weiter ausbreiten, immer mehr Kinder bekommen und wir die Fremden im eigenen Land sind.“ Diese Erzählungen vom „Rassenkrieg“ sind weltweit Angriffsmotivation weißer Rassisten, wie auch beim NSU, die eine tödliche Konsequenz nach sich zogen.

Der Zeuge gab an, er habe „nichts gegen Ausländer“, er habe ja auch immer deeskaliert, nur „die Schmarotzer“ störten ihn. Der Zeuge wurde um 12:40 entlassen.

Als nächstes wurde die Sachverständige Prof. Dr. Tanja Germerott, Rechtsmedizinerin an der Uni Mainz aufgerufen. Sie berichtete von der Obduktion des Opfers und kam zu dem Schluss, dass Alex W. sehr schnell verstorben sein muss. Die Sachverständige wird nach einer Viertelstunde wieder entlassen.

Abschließend an diesem Tag stellte die Phonetikerin Prof. Dr. Angelika Braun von der Uni Trier ihr Gutachten vor. Sie hatte die Videodateien überarbeitet, die bislang mit verzogener Tonspur vorlagen, und sie transkribiert. Dazu wurden im Prozess erneut die Videos des ersten Streitgesprächs und der Tat abgespielt. Mit der passenden Tonspur wurde ersichtlich, wie wenig Zeit das Opfer hatte, um auf die Situation zu reagieren. Nachdem der Angeklagte seine Maske demonstrativ an der Kasse heruntergezogen und gegrinst hatte, sagte Alex W.: „Maske hoch.“ Der Täter reagierte mit „Echt?“, Alex W. darauf: „Ja, echt.“ Dieser Dialog und der dann folgende Schuss waren eine Abfolge weniger Sekunden.

Noch immer ist nicht alles deutlich zu verstehen, was sich zwischen dem Angeklagten und dem Opfer abgespielt hatte. Die Verteidigung fragte, ob der Angeklagte bei seinem ersten Besuch in der Tankstelle wirklich „Blödes Schwein“ sagte oder es auch ein „Behalt dein‘ Scheiß“ sein könne. Eine Frage, die an diesem Prozesstag noch eine Stunde lang diskutiert wurde.

Der Prozesstag endete um 15:45 Uhr.

 

Ach Mama, hör bitte auf mit dieser Panikmache“
Prozess zum Mord an Alex W. In Idar-Oberstein –
10. Verhandlungstag, 4. Mai 2022

Am 10. Prozesstag wurden zwei Kriminalpolizisten sowie ein Sprachsachverständiger für Englisch gehört. Dabei ging es vor allem um Chatinhalte des Angeklagten Mario N., insbesondere Videonachrichten.

[Achtung: Im Folgenden werden rassistische, ableistische und gewaltverherrlichende Äußerungen wiedergegeben. Wiedergabe der Aussagen nach Gehör, teilweise lückenhaft. Es handelt sich im Folgenden nicht immer um die Übersetzungen der Zeugen/Sachverständigen, teilweise wurden die Übersetzungen von NSU-Watch vorgenommen.]

Der erste Zeuge, Alex M. von der Kriminaldirektion Trier, war zu den Ermittlungen hinzugezogen worden zur Mobiltelefonauswertung, besonders Audio, Medien, Bilder. Es geht laut M. um eine Vielzahl Daten, größtenteils ohne Tatrelevanz. Es sei darum gegangen, ein Bild vom Angeklagten und dessen Gedankenwelt zu bekommen.

Der Zeuge nannte dann eine Datei mit Tatbezug, einen Online-Chat aus dem Computerspiel „Doom“. Darin finde sich eine Äußerung des Angeklagten über die Corona-Beschränkungen, diese machten ihn aggressiv, derjenige der ihn darauf hinweisen würde, dass er eine Maske tragen solle, müsse sich darauf einstellen „den Arsch versohlt zu bekommen“. M. sagte, der Angeklagte sei Coronaleugner, Pandemieleugner, der Zeuge erwähnte Staatsfeindlichkeit und Politikfeindlichkeit.

Dann ging es um 300 Videodateien im Selfie-Format, aufgenommen, so der Zeuge, beim Gassigehen, beim Grillen, in Alltagssituationen. Sie seien über den Messenger Telegram versendet worden, maximal 59 Sekunden seien dort möglich, viele seien kürzer. Nachrichten dieser Art seien an Mutter und Schwester gegangen, die meisten in Englisch an seinen Schwager Jason W. [einen US-Polizisten]. M. beschreibt eine „lebensnahe Gemütslage, authentisch“. Inhaltlich sei es um deutsche Politik, Pandemie, Flüchtlingszuzug gegangen. Aber auch die Mondlandung und die Anschläge vom 11. September 2001 seien Thema gewesen. Letztere habe N. als eine Inszenierung der Regierung betrachtet. N. habe geäußert, dass es Corona nicht gebe, das sei nur eine Grippe.

M. bezeichnete den Angeklagten als Impfgegner, belegt durch dessen Äußerung, er würde sich auch gegen seine Familie wenden, wenn ein Impfzwang drohe, das mache ihn aggressiv. In seinem Vermerk seien 50 Videos tatbezüglich exemplarisch aufgelistet, so M. Die Übersetzungen habe er selbst vorgenommen.

Richter Hamel fragte nach dem Zeitpunkt der „Doom“-Aufnahme. Der Beamte sagte, das wisse er nicht mehr. Hamel hielt vor, dass die Software den 29.08.2021, 18:42 Uhr ausgelesen habe.

Im weiteren Verlauf werden Aussagen des Angeklagten vorgetragen, die wir hier in Auszügen wiedergeben. Er habe, so N. in einer Chatnachricht, überlegt ins Restaurant zu gehen, habe aber „keine Lust auf verdammten Maskenscheiß“. Eine Aussage im Zusammenhang mit einem Vergleich zum Masketragen im Supermarkt war, dass „Hitler nicht allein verantwortlich“ gewesen sei, weil „andere auch nicht Nein gesagt haben“. Er wolle, so eine Äußerung N.s, „nicht Teil des nächsten Holocaust“ sein.

Auf die Frage, ob es bei der Auswertung Hinweise auf Alkoholkonsum N.s gegeben habe, sagte M., es gebe Selfie-Videos beim Grillen mit Alkohol. In einem Video heiße es, N. freue sich die ganze Woche auf freitags, Bier trinken. Wenn er die ganze Woche nichts trinke, sei die Freude größer.

Verteidiger RA Küster wollte von M. wissen, ob es Hinweise in den Videos gibt, dass N. trotz Problemen mit der Maskentragepflicht Maske getragen hat. M, verneinte das. Küster hielt vor, dass es in einem Video, in dem N. unter anderem davon spricht, dass Geimpfte „reingelegt“ worden seien, auch heißt, dass er Maske trage, damit Mitarbeiter im Supermarkt keine Probleme bekommen.

Auf die Frage Küsters nach Hinweisen darauf, was die Maßnahmen mit N.s Psyche machen, antwortete M., dass N. geäußert habe, er wolle in den nächsten drei Jahren auswandern, weil er es in Deutschland nicht mehr aushalte, auch wegen der Flüchtlingspolitik. Auf die Frage Küsters, ob M. auch andere Adjektive gefunden habe außer „aggressiv“, nannte M. „traurig“ und „enttäuscht“. Küster zitierte dann weitere Passagen aus Videos, u.a. dass N. es hasse, über Corona zu reden, dass es sein Hirn so sehr belaste, dass er keine Lust mehr habe mit dem Teleskop den Nachthimmel zu betrachten, dass N. von „Panikmodus“ gesprochen habe.

Küster sprach dann von „emotionaler Betroffenheit“ und zitiert den Vermerk damit, dass N. fluche, andere mit Ausdrücken belege. M. sagt, es sei um die mimisch-gestische Darstellung des N. in den Videos gegangen. Küster fragte dann nach der vom Zeugen genannten Staatsfeindlichkeit und fragte dann, ob N. auch Demokratiefeindlichkeit gezeigt habe. M. antwortete: „Staatsfeindlich, nicht demokratiefeindlich.“

Um 09:44 Uhr wurde der Zeuge M. unvereidigt entlassen.

Es folgte dann der Zeuge H., der Kommissarsanwärter beim BKA ist. Zum Tatzeitpunkt hat er ein Praktikum beim K11 in Trier gemacht, bei der Durchsuchung beim Angeklagten fotografiert und eine Lichtbildmappe angefertigt. Außerdem war er zur Auswertung von IT-Asservaten eingesetzt. Von ihm ausgewertet wurden drei Festplatten: Diese beinhalteten, so H., 200.000 Dateien ohne ermittlungsrelevante Inhalte, bspw. 93.000 Anwendungen zu Programmierzwecken. Außerdem hat er eine SD-Karte ausgewertet mit wenigen Fotos, hauptsächlich von Mario N. im Wald, und ein I-Pad, das zu privaten Zwecken genutzt worden sei: Internet, Kommunikation mit Chatpartnern. Es sei nicht täglich genutzt worden. Überprüft wurden Internetverlauf, installierte Anwendungen, Chats und Notizen. Zum Internetverlauf sagte H., dass sich Websites finden würden, die die Corona-Pandemie verharmlosten und zitiert: „Herzstillstand nach Impfung – das Schweigen aller Beteiligten!“ – „Grundrechte nur noch Manövriermasse?“ Das I-Pad sei zum Tatzeitpunkt nicht genutzt worden. H. berichtete, dass N. ein Umfrageportal selbst erstellt habe. Dieses sei öffentlich zugänglich gewesen. Auch als N. schon in U-Haft gesessen habe, seien dort Fragen gestellt worden wie zum Beispiel, ob man nach einem Jahr Lockdown noch an Corona glaube, ob man die Impfung der Familie zulassen würde. Weiter wurden 90 Notizen gefunden, deren Verfasser unklar ist bzw. sind, dabei handelt es sich um verschiedene Textdateien. Zeuge H. beschreibt diese mit den Worten „Anzweifeln Aussagekraft Coronatest“, „EU-kritische Haltung“ und „Weltuntergangsszenario“.

Es hätten sich, so H., 5.800 Chatnachrichten gefunden, nicht tägliche Kommunikation. Die meisten seien an N.s Mutter gegangen. Darin verharmlose N. Corona, zweifele dessen Existenz aber nicht an. Bei den Medien fänden sich 39.000 Fotos und Videos, aus diesen Videos auch eine Reihe der Selfie-Videos auf Englisch zu diversen Themen. Es gehe um eine Kommunikation mit einem bis dahin unbekannten Zeugen [N.s Schwager Jason W.]. Darin sage N. zum Beispiel, dass die Welt eher abkühle, der menschengemachte Klimawandel sei ein „Hoax“; Fridays for Future seien „fucking morons“. Die Fotos seien hauptsächlich Memes, ein großer Teil gesellschaftskritisch, thematisch bspw. in Richtung „Grundgesetz verstorben am …“.

Bei der Durchsuchung seien zwei Schusswaffen gefunden worden, so H. Der Zeuge wurde dann zu Bierdosen auf und im Anwesen von H. befragt. Richter Hamel wollte alle Biersorten wissen. Es wurden 65 Fotos aus der Lichtbildmappe zur Durchsuchung an N.s Adresse in Idar-Oberstein gezeigt. Unter anderem handelte es sich laut Zeuge um eine inaktive Überwachungskamera an der Haustür, ein Beil über dem Spiegel im Flur direkt hinter der Eingangstür im Innern. Dann wurden in einer Schublade in einem Wohnzimmertisch eine Kleinkaliberwaffe Ceska gefunden, ein Schnelllader für einen Revolver, eine Taschenlampe. Im Schlafzimmer seien Festplatten in einem Kuscheltier versteckt gewesen. Es seien außerdem 49 Stück Patronen für eine Waffe 357 Magnum in einer Schachtel und weitere in einem extra Blister gefunden worden. Auf dem Nachttisch habe ein scharfes Messer gelegen, an der Wand Dekowaffen (Beil und Schwert). Im Büro seien ein Geldbeutel mit Führerschein des verstorbenen Vaters und ein Messer in einem Karton gefunden worden.

In einem Video vom September 2019 an den Schwager gehe es um Greta Thunberg. Darin äußere N., er langweile sich, brauche einen neuen Vertrag. Nach Beginn der Pandemie gehe es in einer Nachricht von N. an seine Mutter um Corona: „Ach Mama, hör bitte auf mit dieser Panikmache“ – „Wie du meinst, ich nehme das ernst“ – „Ich nicht“. Weiter schreibe N. an seine Mutter, dass gesunde Ernährung ausreiche [um sich vor Covid zu schützen]. Außerdem spreche N. davon, dass „die“ schon mal üben würden, „wie man die dumme Bevölkerung im Zaum hält“, deshalb nähmen „die“ auch noch mehr Migranten auf.

Nach der Entlassung des Zeugen und einer Pause ging es um 13:42 Uhr weiter mit der Vernehmung des Sachverständigen Ochsenfeld, Sprachsachverständiger für Englisch, bisher Gerichtsdolmetscher und -übersetzer, das erste Mal Gutachter.

Er habe sich, so Ochsenfeld, die 57 Selfie-Videos N.s an den Schwager angehört, sie verschriftet auf Englisch und anschließend übersetzt auf Deutsch. Es wurden dann alle 57 Nachrichten abgespielt und jeweils die Verschriftlichung auf Deutsch vorgelesen. Zu einzelnen Nachrichten gab es Nachfragen. Die Nachrichten wurden zum Teil nicht chronologisch abgespielt.

27 Nachrichten im Zeitraum vom 27.08.21 bis 02.09.21: N. versucht seinem Schwager ausschweifend zu erklären, dass es schwierig sei jemanden von etwas zu überzeugen, was die Person nicht glaubt. Er selbst glaube daran, dass die Amerikaner auf dem Mond waren, aber wissen tue er das nicht. Heutzutage sei es einfach die Welt zu kontrollieren, man verbreite Informationen oder Falschinformationen. Man brauche keine 1.000 Leute [zur Verbreitung], „heute schaust du auf dein fucking Smartphone und siehst es am anderen Ende der Welt“. N. hat dem Schwager Studien geschickt, dieser solle sich selbst informieren. N. sinniert über sein Alter, ob er eine Midlife-Crisis habe; er habe vor fünf Jahren noch gedacht, er sei der „greatest guy in town“. Es sei wichtig im Leben, was man getan habe. Auf weiteren Nachrichten, aufgenommen nachts, ist N. sichtlich betrunken, sagt u.a., er sei hier oben mit seinem Teleskop, aber all der Scheiß beschäftige ihn („I’m up here with my telescope … all this shit is occupying your fucking mind“). Er spricht von „fucking doctors“, von Hitler, der „wirklich gute Absichten“ gehabt habe. N. zitiert das bekannte Zitat von Martin Niemöller über den NS [falsch]: „Als sie die Sozialisten geholt haben, habe ich nichts gesagt, ich bin kein Sozialist. …“ Dann spricht er davon, dass er in einem Panikmodus sei, versuche die Menschen aufzuwecken („I’m in a panic mode, trying to wake people up in a hurry“).

N. wirft dem „Bruder“, wie er seinen Schwager nennt, vor, sich bestimmt nicht mal 20 Prozent von dem angeschaut zu haben, was er ihm geschickt hat, nicht darüber nachdenke und dass er, der Schwager, den „shot“ (die Impfung) nehmen solle, es sei ihm, N., am Ende egal („You don’t even think about what I’m saying. I don’t care, in the end if you want to get the shot, get the shot“). N. spricht dann – mittlerweile betrunkener – von „dummen Trotteln“ („stupid morons“), vom „fucking stupid president“ [gemeint ist Joe Biden], den man statt Trump genommen habe. Er spricht von der „verdammten Impfung“ („fucking vaccine“) und davon, dass er sich dafür entschieden habe, den Impfstoff nicht zu nehmen.

In Nachrichten vom 03.09.21 geht es darum, dass N. kein mobiles Netz mehr nutze, nur noch WiFi. Er beklagt die digitale Identität auf Smartphones, Führerschein, Ausweis, Bankkonto. Wenn das gelöscht würde, habe man keine Identität mehr. Es gebe „eine Menge falscher Leute, auch in der Regierung“.

In Nachrichten vom 05.09.21. geht es darum, dass Covid-19 laut N. nie existiert habe („covid is bullshit“). Er wolle das Wort eigentlich gar nicht wiederholen, das stärke nur das Argument der Leute, die einem die Spritze verpassen wollen. [N. erkennt die Existenz von Coronaviren an, leugnet aber Covid-19, deshalb will er ‚Covid‘ nicht im Sprachgebrauch nutzen.]

N. spricht über Viren, diese „töten ihre Wirte nicht, nur in sehr seltenen Fällen“. Er trage die Maske nur, wenn er zu Norma oder Lidl einkaufen gehe, weil die Leute, die dort arbeiten, unter dem Druck stünden, die Auflagen durchzusetzen. Es gebe nicht so viele Tote hier [durch die Impfung], weil die Dosen viel kleiner seien [als etwa in den USA].

In einer Nachricht vom 11.09.21 heißt es, in den USA kosteten die höher dosierten Impfungen viele Leben, so wie in Israel, vielleicht werde das auch hier noch passieren.

In Nachrichten vom 14.09.21 spricht N. unter anderem davon, dass er im Gefängnis landen könne, weil er einen Polizisten erschießt („land/end [?] in jail cause I kill a cop who tries to put shit on me“). Sinngemäß sagt er weiter, dass „sie“ „uns“ sowieso früher oder später alles wegnehmen würden. Er spricht von „fucking state, fucking government“ und davon, dass es immer „geborene freie Menschen“ gegeben habe und er einer davon sein wolle.

In Nachrichten vom 18.09.21 ab 20:20 Uhr, dem Tatabend, äußert N., dass er Jason W. brauche, der aber nicht da sei („I need you and you are not there“). Er sei drauf und dran, seine 357er zu nehmen, einfach dahin zu gehen und dem „fucker“ ins Gesicht zu schießen („I’m about to pick up my 357, just go there, shoot the fucker in the face“). N. räsoniert darüber, dass er einfach seine Maske anziehen könne, um sicher zu gehen, dass niemand weiß, wer er ist („could put my mask on, just to make sure nobody knows who I am“). Er spricht davon, den „motherfucker“ zu erschießen.

Es geht dann um relativ kurz aufeinanderfolgende Nachrichten N.s vom Morgen nach der Tat, dem 19.09.21, ab 08:17 Uhr. Darin spricht N. davon, dass er „dieses Arschloch“ erschossen habe („I shot this asshole“), dass er Jason gestern keine Scheiße erzählt habe. N. sagt, er fahre zur Polizei, um sich zu stellen, dass es das Letzte sei, was Jason W. von ihm für die nächsten 20 Jahre oder so höre. Er sei schon zu Hause gewesen, so N. in einer weiteren Nachricht, er habe ein Zeichen setzen wollen („was in my fucking mind to send a sign“). Er spricht davon, dass immer nur geredet werde („it’s all talk“) [vermutlich gemeint ist, dass alle immer nur redeten, er aber gehandelt habe].

N. sagt, er habe ihn [also Alex W.]  erschossen, er sei tot. N. sagt, das sein Leben nun für immer ruiniert sei („my life is ruined forever now“). In einer weiteren Nachricht sagt N.: „Heute morgen hab ich gedacht, ich hätte mich selbst erschießen sollen“; er sei aber zu feige gewesen.

Es ging dann um Nachrichten im Messenger Telegram aus Juli und August 2021, in denen sich N. über Menschen mokiert, die allein an der Bushaltestelle stehen und Maske tragen, oder davon spricht, dass man nicht mit seiner, N.s, Freiheit oder Gesundheit herumpfuschen solle („you’re not gonna mess with my freedom or health“). Bezüglich seiner Bekannten, mit denen er den Hund Gassi führe und die sich auf die Booster-Impfung freuten, sagt er, dass er diesen gegenüber allen Respekt und Nettigkeit verliere. Er sei normalerweise froh, wenn er diese Leute sehe, aber sie könnten am Ende alle „shedders“ werden („in the end they can all become shedders“). [Mit „shedders“ bezeichnen Impfgegner*innen Personen, die gegen Covid-19 geimpft sind, und bei denen sich – ihrem Glauben nach – Ungeimpfte deswegen anstecken könnten.] Er werde, so N., einen großen Bogen um sie machen. In einer Nachricht sagt N., er überlege wirklich, in die USA zu ziehen; seine Mutter halte ihn hier. Seine Partnerin wolle nach Indonesien ziehen, dort sei aber auch gerade Chaos, die würden auch gerade mit „diesem WHO-Mist“ spielen. In den USA sei der einzige Widerstand, außerdem wäret „ihr“ [also US-Amerikaner]  bewaffnet; N. spricht von „militias“ [bewaffneten rechten Milizen in den USA]  und dass er lieber Bürgerkrieg in den USA führen wolle. N. spricht davon, dass Covid nicht existiere, dass es nur eine Grippe sei, dass es keine Isolate [des Virus]  gebe. Es gebe einen signifikanten Anstieg von Clustern in Krankenhäusern [gemeint sind hospitalisierte Covid-Fälle von Geimpften]. Er habe mit einer Krankenschwester gesprochen, diese fange jetzt an aufzuschreiben. Er habe seine Mutter bei einem Termin fast nicht ins Krankenhaus bringen können, weil sie dort einen „scheiß PCR-Test“ gewollt hätten.

Um 16:34 Uhr wurde der Sachverständiger Ochsenfeld unvereidigt entlassen und der Verhandlungstag beendet.

 

„Intelligent, sehr präzise in seiner Wortwahl, erstaunlich ruhig.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 11. Verhandlungstag, 6. Mai 2022

Der Verhandlungstag begann nach der Regelung von Formalia bezüglich des Selbstleseverfahrens zur Einführung von Akteninhalten, mit der Vernehmung von Richterin Dr. Caroline Walter, die die Anhörung zum Haftbefehl gegen Mario N. am Amtsgericht Bad Kreuznach durchgeführt hat.

Der Beschuldigte habe in Anwesenheit seines Pflichtverteidigers und nach der Belehrung umfangreiche Angaben gemacht, so die Zeugin. Auf den Inhalt der Aussage N.s bei der Polizei sei in der ermittlungsrichterlichen Anhörung nicht eingegangen worden, so Walter auf Fragen der Vorsitzenden Richterin Büch-Schmitz, es habe aber keinen Widerspruch zwischen polizeilicher Vernehmung und Aussagen bei der Anhörung gegeben. Das Protokoll der Vernehmung sei deswegen wenig umfangreich, weil die Protokolle bei paralleler Videoaufzeichnung üblicherweise kurz gehalten würden.

Auf den Alkoholkonsum des Beschuldigten sei nur im Rahmen des versuchten und dann woanders durchgeführten Bierkaufs eingegangen worden. Walter: „Obwohl er es hatte, ist er zurück in den Konflikt gegangen.“ Auf die Frage, welchen Eindruck der Beschuldigte auf sie gemacht habe, sagte die Zeugin: „Intelligent, sehr präzise in seiner Wortwahl, erstaunlich ruhig.“ Auf die Frage nach seinem Verhältnis zu den „Querdenkern“ habe N. geantwortet, er sei keiner bestimmten Gruppe oder Bewegung zugehörig, er habe aber Verständnis für deren Aussagen, deren Denken. Die Zeugin sagte, bzgl. „Querdenken“ erinnere sie evtl. nicht alles richtig, da sei die Erinnerung diffus.

Der Wortlaut N.s, dass er „in Bezug auf die 100 Männer“ [unsicher]  sich so korrigieren wollen, dass er sich „einer solchen Gruppe anschließen würde, wenn es sie denn gäbe“, wird von der Zeugin bestätigt. Walter: „Aber er blieb diffus.“ Der beisitzende Richter Dr. Hamel zitierte N., dass dieser gesagt habe: „Ich möchte nicht im NS-Reich aufwachen oder in der DDR.“ Auf die Frage, warum gerade an diesem Abend, habe N. geantwortet, so hält Richter Hamel weiter vor, dass Alex W. ihn „gemaßregelt“ habe, die Coronasituation sei ihm bewusst gemacht worden, er habe extra die Maske runtergezogen, damit es wieder zu einem Konflikt kommt. Das Mordopfer habe Frust, Wut, vielleicht auch empfundene Verzweiflung abbekommen „wie so ein Ventil“. Hamel zitiert weiter aus dem Video: „Die letzten zwei Tage haben mich mitgenommen, ich bin vorgestern übergeschnappt.“ Richterin Walter bestätigte die Angaben.

Die Verteidigung stellte dann Fragen zum Prozedere der Anhörung, etwa warum die Anhörung so „spät“ gewesen sei, was die Zeugin u.a. mit der anderthalbstündigen Fahrtzeit erklärt, oder – sehr ausführlich – zur Bestellung des damaligen Pflichtverteidigers. Mit dem anwesenden Pflichtverteidiger habe sich N. auf Nachfrage einverstanden erklärt, so Walter.

Dann wurde das Video der Anhörung am 20.01.21 in Augenschein genommen. Nach wenigen weiteren Fragen wurde die Zeugin Dr. Walter entlassen.

Verteidiger RA Klein legte wie bereits zuvor im Verfahren Widerspruch gegen die Verwertung der Angaben aus der richterlichen Vernehmung, Video und Protokoll, auch insoweit auf die polizeiliche Vernehmung abgehoben wurde, ein.

Nach einer Pause wurde Dr. Thomas Kaufmann, Diplom-Biologe, wissenschaftlicher Leiter der Untersuchungsstelle für Blutalkohol an der Uni Mainz, gehört.

Zuvor stellte Büch-Schmitz fest, dass das Polizeipräsidium Trier durch die Staatsanwaltschaft beauftragt worden sei, das Gewicht der Kleidung von N. zu ermitteln. Das Gewicht N.s habe demnach angekleidet 105 kg betragen bei einer Körpergröße von 185 cm. Das Gewicht der Kleidung etwa 900 g gesamt plus Schuhe, N.s Körpergewicht damit ca. 103 kg. Verlesen wurde außerdem eine Mail der JVA zum Gewicht der Schuhe.

Nachdem Richter Hamel die Angaben N.s zu seinem Alkoholkonsum und seiner Nahrungsaufnahme im Zeitraum vor der Tat zusammengefasst hatte, sagte Dr. Kaufmann, er gehe aus von 5,5 Litern zu 4,8 Volumenprozent Alkohol. Die Alkoholisierung hänge von drei Faktoren ab: der Menge nach Resorption, dem Verteilungsvolumen im Körper und den Eliminationsraten; letztere schwankten zwischen 0,1 und 0,2 Promille pro Stunde. Ein grober Überschlag sei 80 Prozent Resorption, Verteilungsvolumen 70 Prozent und 0,15 Promille stündliche Eliminationsrate. Abzüglich der Elimination durch Zeitdauer des Konsums ergäben sich bei den 5,5 Litern wahrscheinliche 1,68 Promille. Berücksichtige man den Zeitablauf von 17 Stunden von der Tat bis zur ersten Blutentnahme (0,1 Promille) und den Konsum nach der Tat (1-2 Biere) sei dies schlüssig zu allen Angaben. Daraus würden 1,73 Promille zum Tatzeitpunkt plus Sicherheitszuschlag errechnet. Richter Hamel fragte zur Resorptionsrate. Diese sei mit 80 Prozent für Bier eher hoch angesetzt, so Kaufmann. Die 1,68 sei eine rein rechnerische Zahl, die 1,73 werde zurückgerechnet von der Blutentnahme und abschließend für die Tatzeit zugrunde gelegt.

In der folgenden Befragung ging es u.a. um das Körpergewicht N.s zur Tatzeit, den Fettanteil, den Sicherheitszuschlag und darum, welche Promillewerte sich bei Berücksichtigung dieser Werte ergäben. Differenzen in diesem Bereich der Berechnung des Blutalkohols seien nicht abzusichern, wiederholte Kaufmann im Laufe der Befragung mehrmals. Auf Anregung von Verteidiger Klein wurde wegen der Gewichtsabnahme N.s während der Haftdauer die Inaugenscheinnahme des Fotos aus der erkennungsdienstlichen Behandlung zur Beurteilung der damaligen Konstitution („damals hatte er einen ordentlichen Bauch“) durch Kaufmann in Augenschein genommen. Verteidiger Klein fragte nach der günstigsten Annahme der Eliminations- und Resorptionsprozesse und zielte dabei auf 90 Prozent Resorptionsrate ab. Dies wies Kaufmann als „vollkommen unrealistisch“ zurück.

Nach einer Unterbrechung fragte Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz, ob die Werte eine Aussage über Gewöhnung zuließen. Anhand dieser Werte sei dies nicht möglich, so Kaufmann, diese ließen nur den Rückschluss auf die akute Alkoholisierung zu. Kaufmann ging auf die Begleitstoffanalyse ein. Die Bestimmung der Begleitalkohole nach so langer Zeit sei nicht möglich, außer bei Methanol, das ein von anderen Alkoholen klar zu unterscheidendes Abbauprofil habe. Oberhalb 0,5 Promille gebe es bei Methanol keinen Abbau, sondern eine kumulative Anhäufung im Blut. Die Methanol-Werte würden zu einer langandauernden Trinkphase passen. Der Konsum ab 17.00 Uhr sei damit weitestgehend bestätigt, allerdings sei dies kein felsenfester Beleg. Es gebe keinen Hinweis auf chronischen Alkoholmissbrauch bei N., eine akute Toleranzbildung durch länger andauernden Alkoholeinfluss sei auszuschließen.

Auf Frage von Nebenklagevertreterin RAin Streit-Stefano Espósito gab Kaufmann an, die Videos der Tat seien nicht aufschlussreich für ihn zur Beurteilung des Grades der Alkoholisierung.

Nachdem Kaufmann entlassen worden war, merkte Oberstaatsanwältin Frohn an, dass bei der zweiten Anfahrt eine Trunkenheitsfahrt nach §316 StGB in Betracht komme.

Bei der folgenden Terminfindung für Zusatztermine gab es einen Schlagabtausch zwischen RAin Streit-Stefano Espósito und RA Klein. Die Nebenklage findet sich hier übergangen bzw. für nicht wichtig genug erachtet. Streit-Stefano Espósito betonte, dass sie hier eine Mutter, die einen schweren Verlust erlitten habe, vertritt, diese aber laut StPO bei Verhinderung keinen Anspruch auf ein Plädoyer am selben Tag wie Anklage und Verteidigung habe.

Damit endete der Verhandlungstag.

 

Rassismus, Misogynie und Hass auf Linke.
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 12. Verhandlungstag, 11. Mai 2022

Der Prozessbeginn war heute für 13:30 Uhr terminiert, tatsächlicher Beginn war um 14:21 Uhr.

Es ging erneut um Video- und Chatnachrichten, die der Angeklagte Mario N. an seinen Schwager Jason W. gesendet hat. Vor Eintreffen des Schwurgerichts wurden acht DIN A4-Seiten ausgedruckte verschriftlichte Videonachrichten kopiert und verteilt. Der Sprachsachverständige Ochsenfeld hatte diese mitgebracht, sie beinhalten auch seine Übersetzungen.

Bei der Auflistung der Beweismittel monierte die Verteidigung, dass diese nicht chronologisch geordnet seien. Dies wurde bei der folgenden Inaugenscheinnahme berücksichtigt und die Videos in chronologischer Reihenfolge abgespielt. Eine Videosequenz wurde gestrichen, weil es sich um eine Dopplung handelte, aus einem der beiden Videos war zunächst nur eine Teilsequenz zur Übersetzung angefordert worden.

Es folgte dann die Inaugenscheinnahme der einzelnen Videos, die Wiedergabe der englischen Verschriftung durch den Sachverständigen und dann dessen Übersetzung.

[Achtung: Im Folgenden werden rassistische, ableistische und gewaltverherrlichende Äußerungen wiedergegeben. Wiedergabe der Aussagen nach Gehör, teilweise lückenhaft. Es handelt sich im Folgenden nicht immer um die Übersetzungen des Sachverständigen, teilweise wurden die Übersetzungen von NSU-Watch vorgenommen.]

In den Chat-Nachrichten springt N. immer wieder von seiner bereits vor der Pandemie anscheinend angespannten beruflichen Situation zu politischen Themen, in den Nachrichten finden sich immer wieder Rassismus und Misogynie, sie strotzen vor Beleidigungen.

In einem vom Video 19.02.19 spricht N. davon, dass die „liberals“ [im US-Kontext am ehesten: „Linke“]  „übernähmen“ („take over“), weil man nicht auf der Hut gewesen sei. Sie würden nicht stoppen, bis es eine weitere Revolution gibt. N. spricht von „fucking socialists, fucking communists“, außerdem von „fucking trash people walking around here“ (in etwa: „verdammte Müllmenschen, die hier rumrennen“), womit er Araber*innen meint. Diese seien am schlimmsten von allen. Mit „den Mexikanern“ [in den USA]  werde man fertig („can cope with them“). N. spricht davon, dass man die AfD wählen solle, um einen Wandel einzuleiten. Er müsse einen Weg für sich finden, Alkohol sei keine Lösung, er höre auf „mit dem Scheiß“.

N. selbst korrigierte dann den Übersetzer, es wurde vereinbart „can cope with them“ als „kommt man klar“ zu übersetzen, statt „wird man fertig“. Der Übersetzer ergänzte, um den inhaltlichen Zusammenhang im Video zu zeigen: „Im Gegensatz zu den Arabern in Deutschland.“

Im Video vom 13.04.19 spricht N. davon, dass die globale Erwärmung ein „fucking hoax“ sei, es werde kälter. Im Video vom 07.07.19 beleidigt er die damalige Kapitänin des Seenotrettungs-Schiffes Sea Watch 3, Carola Rackete, sexistisch, die Presse sei [unsicher:] „frogged“ [evtl. gemeint: „fragged“?] und erzähle, dass Sea Watch Leben rette, das sei aber alles „fake“. Er nennt die Deutschen das dümmste Volk auf dem ganzen verdammten Planeten, spricht von merkwürdigen Linken („weird lefties“). Aber die USA hätten Trump; er überlege, in die USA zu ziehen. Er wisse nicht, ob er dauerhaft fest angestellt sein wolle. Er denke dauerhaft über Scheiße wie diese nach, habe das Interesse an seinem Job verloren, die Dinge seien sehr alarmierend. Es sei gut gewesen, bis „fucking Merkel“ 2015 „die Grenzen geöffnet“ habe. Betrunken zu werden, helfe nicht mehr. Jason W. sei der einzige, mit dem er sprechen könne. Er erwähnt zusätzlich, dass Merkel gar nicht legitimiert gewesen sei, „die Grenzen zu öffnen“.

Im Video vom 24.09.19 sitzt N. zu Hause auf einer roten Couch und trinkt Bourbon Whiskey. Er sagt, er habe zweieinhalb Flaschen „finished“, seit er sie bekommen habe, und überlege, ob er Alkoholiker sei, was er dann aber verneint. Dann beleidigt er die Klimaschützerin Greta Thunberg sexistisch, er habe sich in die Hosen gemacht [vor Lachen]  („pissed my pants“). Dann beschimpft er Thunberg ableistisch. Selbst Leute, mit denen er zuvor gearbeitet habe, hätten gesagt, sie gehen zu Fridays for Future, so N. in der Nachricht. Er nennt diese Leute einen „verdammten Haufen Trottel“ („fucking bunch of morons“). Dann sagt er, er brauche einen neuen Auftrag [beruflich].

Im Video vom 28.10.19 spricht über Arbeit, ein „Arschloch“ sei wieder im Projekt dabei, aber mit dem Geld komme er aus den Schulden raus.

Im Video vom 29.12.19 spricht er u.a. davon, dass er seit Bushmills [Whiskey] keine Spirituosen mehr gekauft/getrunken habe, er wolle für Silvester wieder welche kaufen vielleicht. Er spricht über die Winter in seiner Kindheit, da sei der Schnee nämlich früher gefallen, von Oktober bis Januar, aber ab Mitte Januar dann nicht mehr. Heute beginne Schnee erst im Dezember und die Kälte dauere bis März. Er sagt, es würden mehr Leute „aufwachen“, es würde ihn glücklich machen, wenn die Leute etwas mehr wie in den USA wären, wo sie für Trump stimmten. Er spricht davon „Widerstand zu leisten gegen diesen Schwachsinn“. Dann wieder davon, dass die Winter seit Jahrzehnten weiter wanderten.

Nach den Videos wurden dann schriftliche Chatnachrichten von N. an seinen Schwager verlesen inklusive Übersetzungen.

In der ersten Chatnachricht vom 24.11.19 spricht er davon, dass in den USA ein Linker wegen des Klimawandels eine Vasektomie habe machen lassen, der „Idiot“ werde sich nicht mehr fortpflanzen („idiot won’t breed anymore“). In der darauf folgenden Nachricht schreibt er, dass alle „lefties“ das tun sollten. In einer Chatnachricht ca. drei Minuten später schreibt er unter anderem: „Germans invented the gas chambers for those cases, too bad they have become old fashioned“ („Die Deutschen haben für solche Fälle die Gaskammern erfunden, schade, dass sie aus der Mode gekommen sind“). In einer Nachricht vom 28.02.20, also zu Beginn der Corona-Pandemie, schreibt er, dass Youtube in der Tat befohlen worden sei, falsche medizinische Videos zu Covid-19 zu zensieren, „genau so, wie sie es mit allem machen, was gegen die offizielle Propaganda geht“ („just like they do with everything that goes against the official propaganda“).

In der Chatnachricht vom 04.05.20 geht es um Steuern und die Beerdigung seines Vaters, die ein riesiges Loch in seinem Geldbeutel hinterlassen hätten. In einer weiteren Nachricht vom 04.05.20 schreibt N.: „… those fucktards should be shot like fucking rats that they are“ („diese fucktards sollten erschossen werden wie Ratten, die sie sind“). Der Angeklagte amüsierte sich über den Übersetzer, der sich zierte „fucktards“ zu übersetzen. N. versuchte dann eine Konversation über das Schimpfwort zu machen. Auch Richter Hamel war in den Disput involviert. Eine richtige deutsche Entsprechung zu diesem Wort scheint es nicht zu geben, auch der Ursprung konnte zunächst nicht geklärt werden. Später im Prozess wurde festgestellt, dass es sich um eine Kurzversion der ableistischen Beschimpfung „fucking retard“ handelt [diese kann mit „Depp“, „Vollpfosten“ oder ähnlichem übersetzt werden].

Dann stellte die Verteidigung weitere Beweisanträge. Sie beantragte, dass sämtliche Nachrichten zwischen Schwager und N. ab dem 20.02.19 übersetzt werden, da die Englischkenntnisse der Verteidigung nicht ausreichten, um weitere Chatnachrichten auszuwerten. OStAin Frohn widersprach dem Antrag nicht und machte eine Bemerkung über die Englischkenntnisse der Verteidigung, woraufhin ein Streit vom Zaun brach.

Nach einer Unterbrechung wurde der Verhandlungstag um 16:13 Uhr fortgesetzt. Die Anhörung des Sachverständigen Ochsenfeld wurde unterbrochen, nicht beendet. Der gesamte Chatverlauf zwischen N. und Jason W. soll ihm per Mail zugehen. Es handelt sich um 680 Blätter. Der 31.05.22 ab 13:00 wurde als zusätzlicher Verhandlungstermin festgelegt, weitere Termine sollen zwischen den Parteien abgestimmt werden. Für Freitag, 13.05.22, Uhr kündigte die Verteidigung weitere Beweisanträge an. Damit endete der Verhandlungstag um 16:20 Uhr.

 

Beweisanträge und Beschlüsse.
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 13. Verhandlungstag, 13. Mai 2022

Der 13. Verhandlungstag im Mordprozess um Mario N. verlief ereignisarm. Zu Beginn des Prozesses brachte der Verteidiger RA Klein verschiedene Beweisanträge ein. Er forderte ein Vernehmungsvideo vom 20. September 2021 von N.s Mutter bei der Polizei als Beweis einzuführen. Bezüglich N.s Gesundheitszustand beantragte RA Klein eine Ärztin, die Auskunft über N.s Lungenproblem geben kann, als Zeugin sowie einen HNO-Arzt, der N.s Lunge geröntgt hat, als Sachverständigen zu laden.

Außerdem soll der Sachverständige Dr. Kaufmann nochmals einbestellt werden. Dr. Kaufmann fertigte ein Gutachten über N.s Alkoholwert im Blut an dem Tatabend. Aufgrund neuer Erkenntnisse bei der Menge an N.s konsumierten Alkohol am Tattag ergebe sich, so RA Klein, in seinen Nachberechnungen ein höherer Blutalkoholwert. Gegen diesen Antrag legte die Staatsanwaltschaft Widerspruch ein. Sie begründet dies damit, dass ausreichend Zeit gewesen sei, den Zeugen zu befragen. Die Nebenklage schloss sich der Staatsanwaltschaft an.

Als letzten Beweisantrag beantragte die Verteidigung, die Psychologin vom LKA Rheinland-Pfalz zu laden, welche ein kriminalpsychologisches Gutachten über N. gefertigt hat. RA Klein sieht dieses als relevant zur Beurteilung des Mordmerkmals der Heimtücke an. Auch hierbei widersprechen Staatsanwaltschaft und Nebenklage. Sie argumentieren, dass die Bewertung über das Mordmerkmal dem Gericht obliegt und nicht der Psychologin.

Kurz vor Ende des 13. Verhandlungstag um 10:00 Uhr wurde sich auf die nächsten zwei Verhandlungstermine verständigt. Am Dienstag, den 17. Mai 2022 um 14:00 wird der Prozess mit der Vernehmung des Zeugen Dr. Papp weitergeführt. Am 31. Mai 2022 werden weitere Chatnachrichten Mario N.s ausgewertet.

 

Kurzschlussreaktion“
Prozess zum Mord an Alex W. In Idar-Oberstein – 14. Verhandlungstag, 17. Mai 2022

Der Prozesstag begann heute um 14:08 Uhr. Erster Zeuge war KHK Markus B. von der Kriminalinspektion Idar-Oberstein, der die mittlerweile verstorbene Mutter des Angeklagten, Christa N., im Krankenhaus vernommen hat. B. berichtete vom Gespräch mit der Mutter, dass diese nach der versuchten Tötung durch ihren Mann schon einmal im Krankenhaus gewesen sei, danach auch zur Krebstherapie. Ihr Sohn habe sich um sie gekümmert, habe ihr sehr geholfen. Von Waffen habe sie keine Ahnung. Ihr Sohn arbeite „was mit Computern“. Corona sei ein Problem für ihn, er habe aber beim Einkaufen Maske getragen, nur den Globus gemieden. [Anmerkung: Es gab eine Kampagne der Querdenken-Szene gegen die Supermarkt-Kette Globus, nachdem diese sich für die Durchsetzung der Maskenpflicht in den Märkten positioniert hatte.] Mutter und Sohn hätten laut der Mutter, so B., Gespräche über die Pandemie gehabt. Der Sohn habe im Zusammenhang der Chemotherapie dafür gesorgt, dass sich Mutter nicht impfen ließ. Ihr Sohn habe Kontakt zur Schwester in Georgia (USA), auch zum Schwager. Der Sohn sei zufrieden im Beruf. Er trinke am Wochenende schon mal ein paar Bier, für sie sei das okay, er brauche das zum Ausgleich.

Auf Befragung durch die Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz sagte B., die Mutter habe gesagt, sie wisse von Waffen in den USA, aber nichts über Waffen des Sohnes in Deutschland. Er habe den Tod des Vaters mit Corona in Zusammenhang gesetzt, die Corona-Pandemie wäre auch Grund für die Handlung des Vaters damals gewesen. Auf Vorhalt von Richter Hamel bestätigte B., dass die Mutter auf die Frage, ob N. vorher schon mal ausgetickt sei, gesagt habe, dass Mario N. als Jugendlicher, vor etlichen Jahren, mal ausgetickt sei, evtl. habe Alkohol eine Rolle gespielt. Zur beruflichen Situation habe die Mutter gesagt, dass N. einen Auftrag bekommen habe, es gehe jetzt besser, damit wäre er ja zufrieden.

Es folgte die Befragung B.s durch OStAin Frohn. Der Zeuge erläuterte, dass die Vernehmung mehr als Gespräch, nicht ganz im formalen Rahmen, stattgefunden habe, da die Mutter N.s auch als Opfer angesehen worden sei und man sie vor der Presse habe schützen wollen. Die bewusst aufgelockerte Atmosphäre habe allen Beteiligten gut getan. Die Äußerung der Mutter, dass es beruflich jetzt besser gehe, schließe ein, dass es vorher nicht so gut war, so B. Frohn machte dann den Vorhalt, die Mutter habe angegeben, dass der Sohn einen Job verloren habe wegen der Ereignisse um den Vater. Der Zeuge bestätigte den Vorhalt. Auf die Frage, wie die Mutter selbst zu Einschränkungen gestanden habe, sagte B., dass diese geäußert habe: „Wenn das jetzt so vorgeschrieben ist, dann macht man das halt so.“ Sie habe keine Angaben dazu gemacht, warum der Globus gemieden wurde. Zur ärztlichen Behandlung Mario N.s habe sie gesagt, dass er Asthmaspray verschrieben bekommen und Rezepte abgeholt habe. Frohn hielt ergänzend die Angabe vor, dass Mario N. „sehr selten zum Arzt“ gehe.

Der psychiatrische Sachverständige Dr. Werner fragte dann, ob es Schwierigkeiten innerhalb der Familie gegeben habe. Das habe die Zeugin verneint, außer dem Schuss des Mannes auf sie nicht. Sie stehe als Mutter weiterhin zu ihrem Sohn

Es folgte dann die Befragung durch die Verteidigung. Auf Fragen von RA Klein berichtete B. vom Tag des Mordes an Alex W. Dienstbeginn sei Sonntag, 05:30 Uhr gewesen: Große polizeiliche Lage. Er habe sich auf den aktuellen Stand gebracht. Es sei ein Fahndungsbild veröffentlicht worden, es seien Spuren aufgenommen worden, Anrufe, Hinweise. Dann habe es einen Anruf eines Zeugen gegeben: „Ich kenne den, das ist der Mario N.“ Währenddessen habe sich der Täter auf der Wache gestellt, sei von Sondereinsatzkräften festgenommen worden. B. berichtete, er sei im Polizeigebäude nach unten gegangen, dort habe N. gefesselt am Boden auf der Seite gelegen. B. habe sich N. vorgestellt, als dieser noch gelegen habe. Es habe, so B. auf Nachfrage, noch „immense Gefahr bestanden“, die Waffe sei noch nicht gesichert worden. N. sei direkt als Beschuldigter belehrt worden. Dann sei er vom Eingangs- in den Gewahrsamsbereich geholt und erkennungsdienstlich behandelt worden, inklusive Durchsuchung der Person. N. sei nach einem Anwalt gefragt worden und habe geantwortet, keinen zu haben. Aufgenommen worden sei dies von seinem Kollegen S., Leiter des K11 in Trier, der die Information dem Staatsanwalt mitgeteilt habe. Sein Kollege J. habe den Beschuldigten entgegengenommen. Er selbst, so B., habe dann den eingetroffenen Zeugen, den Anrufer S., befragt. Dieser kenne N. als Coronaleugner und Gassibekannschaft. Mit der Auswahl des Pflichtverteidigers habe er nichts zu tun gehabt, so B., das seien sein Kollege S. und der Staatsanwalt gewesen.

Es ging dann in der Befragung der Verteidigung länger um die Frage der Vorführung als Beschuldigter beim Ermittlungsrichter, die Auswahl des Pflichtverteidigers, den Beamten S. und die Frage, ob es bezüglich der Vernehmung des Beschuldigten Eile gegeben habe. RA Klein stellte dann einen Antrag auf wörtliche Protokollierung zur besonderen Eilbedürftigkeit. Es folgte eine juristische Auseinandersetzung.

Nach einer Unterbrechung bis 15:18 Uhr nahm die Staatsanwaltschaft Stellung. B. habe geantwortet, er habe „keine besondere Eilbedürftigkeit mitbekommen, das hätte auch abends um 5 stattfinden können“. Der Antrag sei abzulehnen. Die Nebenklage schloss sich der StA an. Büch-Schmitz lehnte den Antrag dann ab, weil es auf eine wortgetreue Protokollierung nicht ankomme.

Es ging dann wieder um die Bestellung des Pflichtverteidigers, die Rolle des Beamten S. usw. Der Zeuge B. konnte hierzu aber kaum etwas beitragen. Auf die Frage von RA Klein, was N. zu B. gesagt habe, als er am Boden lag, sagte B., dass N. Namen und Geburtsdatum genannt und gesagt habe, dass er sich stellen wolle, da er gestern eine „Kurzschlussreaktion“ gehabt habe, bei vollem Bewusstsein, aber betrunken. N. habe weiter angegeben, es gebe nichts zu entschuldigen, weil er schon wieder zu Hause gewesen sei.

Auf Frage von Klein, warum S., der die ganze Nacht schon da war und 1. KHK ist, der Vernehmung nicht beigewohnt habe, antwortete B. – langsam etwas ungehalten –, dass S. ja nicht jede Vernehmung mitmachen müsse, „vielleicht weil er die ganze Nacht schon da war“.

Es folgte dann noch eine kurze Befragung durch RA Küster, danach wurde der Zeuge B. unvereidigt entlassen.

Dann folgten bis 16:37 Uhr vom Sachverständigen Herrn Dr. Kaufmann, Leiter der Untersuchungsstelle für Blutalkohol an der Universitätsmedizin Mainz, ausführliche Rechenspiele zum Blutalkoholwert des Angeklagten zum Tatzeitpunkt.

Danach widersprach die Verteidigung der weiteren Vernehmung von Frau Dr. Ihm, eine Mail sei dem Angeklagten nicht rechtzeitig zugegangen, man müsse sich mindestens eine Stunde lang dazu mit ihm besprechen können. Es gab keine Stellungnahme der StA dazu, die Nebenklage-Vertreterin RAin Streit-Stifano Espósito dagegen sagte, sie könne nicht verstehen, dass bei einer von der Verteidigung selbst kreierten Situation diese immer nochmal widersprechen würde.

Nach einer weiteren Unterbrechung teilte Büch-Schmitz der anwesenden Dr. Ihm mit, dass es einen neuen Termin geben müsse, sie entschuldige sich für die lange Wartezeit.

OStAin Frohn regte dann an, die Polizei Trier solle die Umstände der Beisetzung des Vaters von N. ermitteln.

Der Verhandlungstag endete um 17:03 Uhr.

„I already thought of throwing some napalm in tbh.“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 15. Verhandlungstag, 31. Mai 2022

Der Prozesstag startete erst um 13:34 Uhr. Der sachverständige Dolmetscher soll erneut englischsprachige Chats des Angeklagten übersetzen. Bei ihm sind es 232 Blatt, bei anderen 222, 190 oder 219 Seiten. Erklärt wird dies mit unterschiedlichen Schriftgrößen.

Im Chat vom 21.09.2021 ab 15:47 Uhr sprechen Mario N. und sein Schwager Jason W. über die Demonstrationen von „Fridays for Future“ in Berlin, welche angeblich für höhere Steuern demonstrieren würden. N. bezeichnet die Demonstrierenden als „blaumachende Kids“, „schwachsinnige Erwachsene“, Greta Thunberg als „zurückgebliebenes Kind, das von Klimalobbyisten für deren Zwecke missbraucht würde“. Berlin habe „vermutlich den niedrigsten Durchschnitts-IQ im Land“, das Ganze „basierend auf dem Klima-Hoax“. Greta Thunberg sei „wirklich medizinisch zurückgeblieben, eine Art von Autismus, die sie vor allem Angst haben lässt“. Um 16:11:36 Uhr traf der Angeklagte im Chatverlauf folgende Aussage: „I already thought of throwing some napalm in tbh“. N. hatte also daran gedacht, Napalm auf eine FFF-Demo zu werfen. Um 16:11:51 Uhr ergänzte er: „I don’t think this is funny anymore“. Die Verteidigung beantragt den gesamten Chatverlauf einzuführen, um nicht nur ausgewählte Spotlights ihres Mandaten zu zeigen, sondern den ganzen Menschen. Es handelt sich dabei um 643 PDF-Seiten Chatverlauf, das Gericht gibt dem Antrag statt.

Nach einer Unterbrechung betrat der Sachverständige Prof. Schick, Facharzt HNO der Uniklinik Homburg/Saar, den Saal. Die Verteidigung widersprach der Anhörung und beantragte einen Gerichtsbeschluss zur geplanten Einlassung ihres Mandanten. Dieser wolle sich noch vor dem Sachverständigen zur Sache einlassen, denn das Gutachten habe den Mandanten sehr überrascht. Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz erklärte der Verteidigung, dass die Einlassung erfolgen, aber der Sachverständige zunächst belehrt werde, so dass dieser auch die Einlassung anhören kann. Nach der Belehrung des Sachverständigen ließ der Angeklagte sich ein. Er erzählte von einer Narbe, die heute noch sichtbar sei, die durch eine Notoperation direkt nach seiner Geburt entstanden sei. Er sei tot geboren worden, sei blau gewesen und habe nicht geatmet. Dies wisse er aus Erzählungen seiner Mutter. Ende der 90er, Anfang 2000 sei er in Idar-Oberstein wegen eines verschluckten Gegenstandes von einem HNO-Arzt geröntgt worden. Dieser habe auf den Röntgenaufnahmen eine Verengung der Luftröhre erkannt. Der Angeklagte versteht nicht, wieso dies im CT nicht sichtbar sein soll.

Der Antrag auf objektiven Befund, zur Einlassung des Angeklagten auf angeborene Luftröhrenverengung zu Prozessbeginn, ging von der Verteidigung aus. Ein objektiver Befund setzt eine Befunderhebung voraus und so wird die Narbe vom Gericht und dem Sachverständigen Schick in Augenschein genommen. Der Angeklagte sei seit über 40 Jahren bei Frau Dr. Bergfrede in Behandlung, diese wird in den kommenden Verhandlungstagen ebenfalls als Zeugin gehört werden. Das Gutachten Prof. Schicks ergab, dass im CT keine Verengung der Luftröhre sichtbar und auch endoskopisch keine Engstelle von oben bis zur Gabelung der Luftröhre sichtbar sei. Prof. Schick erklärte die Verfahrenstechnik des CT und der Endoskopie und beantwortete Fragen. Eine Luftröhrenspiegelung sei nur unter Narkose möglich, so Schick. Gefunden wurde mittels Endoskop auf einer Nasenseite ein Polyp, dies sei typisch für Asthma-bronchiale-Patienten, im Fall des Angeklagten aber keine Einschränkung der Atemwege, außerdem bestehe keine Einschränkung eine Maske zu tragen.Der Sachverständige wird gefragt wie die Narbe N.s zu erklären sei, auch hierauf antwortete er
ausführlich. Schick berichtete weiter, dass die Sauerstoffsättigung im Blut des Angeklagten während der Untersuchung unverändert gewesen sei, obwohl dieser zum Teil Maske getragen habe. Die Verteidigung wollte lieber über N. subjektives Empfinden zur eigenen Atmung sprechen als über objektive Befunde. Mehrfach versuchte RA Klein den Sachverständigen zu Aussagen zu bewegen, worauf dieser sich aber nicht einließ.

Auch diese von der Verteidigung beantragte Beweiserhebung brachte für den Mandanten also keine Verbesserung. Um 15:32 Uhr wurde der Sachverständige Schick unvereidigt entlassen. Nach einer Unterbrechung bis 16:08 Uhr verlas der Sachverständige Dolmetscher Ochsenfeld nun aus dem kompletten Chatverlauf zwischen Mario N. und Jason W. vom Messenger Telegram. Jede einzelne Nachricht wird mit Datum, Uhrzeit, Verfasser, englischem Originaltext und deutscher Übersetzung vorgetragen. Auf diese Weise werden 86 von 643 Seiten der PDF-Datei abgearbeitet. Der Chat startete am 20.09.2019, vorgetragen wurde bis zum 03.10.2019, vorgetragen. Inhaltlich ergaben sich daraus keine wichtigen neuen Erkenntnisse. Wichtige Themen sind folgende: Alkohol; 2019 bereits weniger Aufträge für N.; Kündigung des Netflix-Abos, weil diese zu viel linke Inhalte in eigenen Produktionen bringen; N. traut der Firma Apple nicht mehr. Auf die durchaus interessante Nachricht vom 21.09.2019, in der N. von einer „ursprünglich sogenannten Verfassung“ schreibt, gibt es leider keine Nachfragen des Gerichts. Es geht in dieser Nachrichtenfolge um Steuern und Gesetze. An die Gesetze der Regierung glaube er nicht mehr, so N. Dass hier Reichsbürger-Wording verwendet wurde, kann also nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Andere Nachrichten lassen darauf allerdings auch keine Rückschlüsse zu. Der Verhandlungstag endete um 18:05 Uhr.
 

Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 16. Verhandlungstag, 21. Juni 2022

Zum 16. Verhandlungstag liegt leider kein längerer Bericht vor. Am 18. Verhandlungstag wurde der psychiatrische Sachverständige Werner, der am 16. Verhandlungstag nicht anwesend war, von der Vorsitzenden Richterin Büch-Schmitz über die Inhalte des 16. Verhandlungstages informiert. Laut den Angaben von Büch-Schmitz wurde zunächst die Hausärztin des Angeklagten, Dr. Bargfrede, gehört. Sie sei seit 35 Jahren die Hausärztin von N., 2017 sei die letzte körperliche Untersuchung gewesen, das letztes Rezept für Asthmaspray vom 19.10.19. In 35 Jahren habe der Patient nie ärztliche Hilfe wegen eines Asthmageschehens benötigt. Im September 2020 sei ein Attest wegen Maskenbefreiung nicht angesprochen worden. Weiter wurde eine Bestattungsunternehmerin gehört, dabei ging es um die Bestattung des Vaters von N. und die damals geltenden Corona-Schutzmaßnahmen. Zur Zeit der Beerdigung des Vaters des Angeklagten durften an den Beisetzungen keine Angehörigen teilnehmen. Dies sei allerdings nur ein paar Wochen Vorschrift gewesen. N. habe aber nicht darum gebeten, die Urnenbestattung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Außerdem habe es außer dem Angeklagten selbst keine Angehörigen gegeben, die zur Beerdigung hätten kommen wollen.

 

„Too much fuzz on i-message lately“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 17. Verhandlungstag, 29. Juni 2022

Der 17. Prozesstag war schnell beendet. Wie am vorangegangenen Verhandlungstag beschlossen, waren die Chats des Angeklagten ins Selbstleseverfahren gegeben worden.

Angereist war heute der sachverständige Dolmetscher Ochsenfeld, um Fragen zur Übersetzung der englischsprachigen Chats zu beantworten. Dazu verlangte die Verteidigung erst einmal eine erneute Unterbrechung bis 09:25 Uhr.

Danach wurden zwei Begriffe besprochen und von der Verteidigung die Übersetzung beanstandet; „bitch“ solle nicht ausschließlich als „Schlampe“ übersetzt werden können, sondern auch als „Zicke“. Beim Chat-Inhalt „too much fuzz on i-message lately“ solle nicht nur als „Bullerei“, sondern auch als „Krempel“/„Gerümpel“ übersetzt werden können. Der Dolmetscher stimmte den Beanstandungen zu, wies aber darauf hin, dass immer im Kontext zu übersetzen sei. Der Kontext wurde dann jedoch nicht mehr besprochen.

Gegen 9.30 Uhr endete der Verhandlungstag bereits wieder.

 

„… steckt mehr dahinter als ein persönlicher Konflikt zwischen Kassierer und Kunde“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 18. Verhandlungstag, 1. Juli 2022

Am mittlerweile 18. Verhandlungstag stellte die dem Landeskriminalamt (LKA) zugehörige Oberpsychologierätin Dr. Ihm ihre psychologische Nachzeichnung des Tötungsdelikts in Idar-Oberstein vor. Dabei geht es um die politische Einordnung der Tat und wie es ihrer Meinung nach zu der Tat kommen konnte, wieso Alex W. zum Opfer wurde.

Ein Gespräch zwischen Dr. Ihm und dem Angeklagten gab es nicht. Grundlage ihrer Arbeit sind die Videoaufzeichnungen der Tankstellen, die Onlineaktivitäten inklusive der privaten Unterhaltungen des Angeklagten mit anderen Personen sowie die Aufzeichnungen der polizeilichen Vernehmung und Vorführung beim Ermittlungsrichter.

„… er war da sehr breit aufgestellt, was Sündenböcke betrifft“

Der Angeklagte habe sich, so Ihm, über Jahre hinweg, lange vor der Pandemie, eine Welt erschaffen, die sich aufteilt in eine innere Ich-Welt und eine Außen-Welt, die als feindlich wahrgenommen wird. In seiner Ich-Welt fühle er sich zu Besonderem berufen. Nachrichten an seine Mutter belegten dies. Darin habe er geäußert, auserwählte Dinge tun zu wollen, nicht das was alle machten. Der Begriff Narzissmus fällt mehrfach. Wenn in seinem Leben Krisensituationen auftauchten, etwa der Tod des Vaters oder ein persönliches Scheitern im Beruf oder Sozialen, reichten seine Bewältigungsstrategien (Coping, Resilienz) nicht aus und er suche Erklärungen, Schuldige, Sündenböcke in der Außenwelt. Diese Außenwelt sei eine feindliche, gegen die man sich dann folgerichtig auch verteidigen müsse. Darauf bereite er sich auch seit Jahren innerlich vor. Dr. Ihm sieht hier eine bedrohliche Entwicklung im Mindset des Angeklagten. Die kontinuierlich wiederholte Beschäftigung mit Gewalt in Chats und auch Fantasietaten sowie das Abwerten, Objektivieren, Dämonisieren und Dehumanisieren anderer Menschen als Angehörige der feindlichen Außenwelt sei typisch für eine Tätergruppe, die für sich selbst Gewalt legitimiere und auch ausführe. Dazu komme die Militarisierung des Täters, er hatte auch sein Zuhause aufgerüstet: eine Überwachungskamera vor dem Hauseingang, dahinter griffbereit eine Machete im Flur, zwei Schusswaffen. Die bloßen Gedanken der Fantasiewelt sind hier längst Realität geworden.

„… will nicht abstreiten, dass ich der Migrationspolitik seit 2015 kritisch gegenüberstehe“ – diese Aussage des Angeklagten klingt harmlos. Tatsächlich habe er sich in Chats „ausländerfeindlich, extremistisch und rassistisch“ geäußert, hat sich durch Seiten und Kanäle der AfD geklickt und auch auf der extrem rechten Plattform „InfoWars“ mitgelesen. Von QAnon und Querdenkern als Verschwörungstheorien wolle er sich aber ausdrücklich distanzieren.

„… politische Motivation als handlungsleitendes Motiv“

Eine politische Motivation als handlungsleitendes Motiv sei, so Dr. Ihm, gegeben durch die eigene Aussage des Angeklagten, er habe „ein Zeichen setzen wollen“. Trotzdem sei es keine Amoktat und die Tat werde auch nicht als terroristisch eingeordnet. Das sind keine neuen Erkenntnisse, denn dann hätte die Generalstaatsanwaltschaft die Anklage übernehmen müssen. Es handele sich Frau Dr. Ihm nach um eine Kumulation aus Hasskriminalität und der Motivation öffentlich etwas darzustellen.

Warum wurde Alex W. erschossen?

Der Täter hat sich, so lässt sich der Vortrag von Dr. Ihm übersetzen, innerlich über Jahre radikalisiert und seine Bewältigungsstrategien zu persönlichen Krisen darauf ausgelegt, andere verantwortlich zu machen: „Idiosynkratische Faktoren N.s ermöglichten das Opfer als Stellvertreter“. Aus seiner Ich-bezogenen Innenwelt heraus hat N. demnach mit unüberwindbarer Abneigung gegen ein Feindbild der Außenwelt agiert, zu dessen Stellvertreter Alex W. gemacht wurde: „Er hat in den Chats vorweggenommen, was dann passiert ist.“

Am Morgen der Tat habe N. „sicherlich nicht gewusst, was am Abend geschehen würde“. Zur innerlichen Radikalisierung, der Schaffung von Feindbildern und Verantwortlichen für alles Schlechte in seinem Leben, kommt bei N. die reale Bewaffnung. Gefehlt hat nur noch die Gelegenheit; diese hat er sich dann selbst geschaffen, vom „Narrativ sich selbst verteidigen zu müssen bis zur Provokation als Kontaktstrategie“. Alex W wurde als Stellvertreter und Feindbild vom Täter so bestimmt, deshalb wurde er umgebracht.

 

Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 19. Verhandlungstag, 6. Juli 2022

Um 8:10 Uhr begonnen, wurde der Verhandlungstag im Prozess zum Mord an Alex W. nach wenigen Minuten bereits wieder unterbrochen. Die Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz wollte eigentlich mit der Gutachtenerstattung des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Werner beginnen, Verteidiger RA Klein grätschte jedoch dazwischen und wollte zunächst vier neue Beweisanträge einbringen.

Diese erste Unterbrechung des Tages musste verlängert werden, da der Verteidigung bekannt geworden war, dass die letzten Sitzungen mit ihrem Mandaten, so RA Klein, „heimlich gefilmt und überwacht“ worden seien. Um 09:06 Uhr machte RA Klein dies öffentlich und beschwerte sich entsprechend. Danach verlas die Verteidigung ihre Anträge. Die Anträge lauteten u.a. auf Vernehmung einer Mitarbeiterin der Kreissparkasse bezüglich einer Vereinbarung auf Ratenaussetzung über 3 Monate im Frühjahr 2021 und darauf, die Zustimmung bei N.s Schwester einzuholen, ihre Vernehmung doch als Beweismittel einzuführen. N.s Schwester hatte im Februar von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Darauf folgte die nächste Unterbrechung von 09:21 bis 10:30 Uhr zur Anfertigung von Kopien.

Oberstaatsanwältin Frohn beantragte anschließend, drei von vier Anträge abzulehnen. Die Nebenklagevertretung schloss sich den Begründungen der StA an.

Überraschend wurden dann zwei neue Anträge der Verteidigung gestellt. Einer davon hatte zum Inhalt, den Anstaltspsychologen der JVA, in der N. untergebracht ist, als Zeugen zu laden.

Nach der nächsten Unterbrechung ließ Büch-Schmitz die Verteidigung die jetzt schriftlich vorliegenden zwei neuen Anträge verlesen. Während der Unterbrechung war bereits der Anstaltspsychologe telefonisch für Montag, 11.07.22, um 09:30 einbestellt und damit diesem Antrag stattgegeben worden. Fünf Entscheidungen stehen noch aus.

Um 11:35 Uhr wurde der Verhandlungstag beendet. Das mit Spannung erwartete Gutachten von Dr. Werner wurde heute also wieder nicht gehört, vielleicht kann am 11.07. damit begonnen werden.

 

Konfliktbehaftet, kritisch, egozentrisch, missionarisch, übergriffig.
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 20. Verhandlungstag, 11. Juli 2022

Zu Beginn des 20. Verhandlungstages lehnte das Gericht zunächst Beweisanträge der Verteidigung ab – etwa den Antrag auf Verlesung der Patientenakte von N., weil die Verteidigung die Gelegenheit gehabt habe, N.s Hausärztin zu befragen, oder den Antrag auf Verwertung der polizeilichen Aussage der Schwester von N., weil diese ihr Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nimmt. Nach einer Pause wurde dann verkündet, dass auf die Vernehmung einer Mitarbeiterin der Kreissparkasse Birkenfeld verzichtet wird, stattdessen wird die Erklärung zur Finanzierung des Eigenheims von N. verlesen und als Anlage zu Protokoll gegeben.

Danach wurde Diplom-Psychologe Fleig [phonetisch]  von der JVA Rohrbach, in der N. einsitzt, gehört. Fleig hat mit N. bis heute ca. 60 Gespräche geführt. Straftataufbereitung habe nicht im Fokus der Gespräche gestanden, weil es U-Haft und nicht Strafhaft sei. Der Fokus habe eher auf dem Thema Suizidalität/Suizidabklärung und Beziehungsaufbau gelegen. Auf die Frage von Vorsitzender Richterin Büch-Schmitz, wie das Empfinden N.s zur vorgeworfenen Tat gewesen sei, antwortete Fleig: „Schock, N. weiß nicht genau, was ihn zur Tat bewog“. Fleig spricht von Schuldgefühlen, es habe N. den Boden unter den Füßen weggerissen, sein Leben zerstört, er habe allmählich die Konsequenzen begriffen. Besonders kritisch sei der Tag der Entschuldigung N.s bei der Mutter gewesen, es verfolge und bedrücke ihn, die Tat sei niemals mehr wieder gutzumachen. Fleig berichtet von einem „sehr ernsten“ Suizidversuch N.s; N. habe zuvor eine Suizidabsicht immer verneint. Vor dem Suizidversuch sei N. von Mitgefangenen „massiv mit der Tat konfrontiert“ worden. Zum Thema Suizidgedanken gab Fleig außerdem an, dass laut N. eine längere Freiheitsstrafe einen Suizid wahrscheinlich als Möglichkeit einschlösse, da er, N., als „freiheitsliebender Mensch“ große Probleme mit den Umständen der Inhaftierung habe. Im weiteren ging es um N.s Stimmung und sein Verhalten im Vollzug sowie die Maßnahmen der JVA zur Suizidprävention.

Auf Frage des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Werner sagte Fleig, „Knackpunkt“ für N. sei schon 2015 gewesen, N. sei damals mit der Entwicklung Deutschlands unzufrieden gewesen. N. sei ein sehr akribischer, intelligenter Mensch, der den Dingen auf den Grund gehen will, seit 2015 habe es wohl vermehrte Informationseinholung zu politischen Entwicklungen gegeben. Die Frage von Werner, ob er Einblick in Ermittlungsergebnisse gehabt habe, verneinte der Zeuge.

Richter Hamel fragte dann, was N. bezüglich der Corona-Maßnahmen geschildert habe. N. habe gesagt, diese seien sinnlos, nicht notwendig, wegen Asthma sei ihm Maskentragen nicht lange möglich, so Fleig. Seit dem Tod des Vaters habe N. sich akribisch mit den Maßnahmen beschäftigt. N. könne schwerlich Dinge akzeptieren, von denen er nicht überzeugt sei, beschäftige sich akribisch und habe dann eine feste Meinung. Wenn er etwas mache, mache er es richtig, sehe dadurch bei sich einen Wissensvorsprung vor anderen – „andere haben keine Ahnung und sind Idioten“. Der Zeuge stellte eine gewisse Überheblichkeit und Arroganz bei N. fest, das erschwere auch Gespräche mit ihm. Seit dem Suizidversuch seien Gespräche jedoch konstruktiver und interessanter, N. könne auch eine andere Meinung „mal stehenlassen“. Erst auf Nachfrage von Hamel äußerte sich Fleig zum Thema Politik. Hamel fragte, ob es auch Gespräche zu Politik gegeben habe, ob sich N. sich als Rassist darstelle. N. habe die eigene Radikalisierung seit 2015 nicht abgestritten, so Fleig. Der Zeuge sieht aber „keine konkrete ausländerfeindliche Haltung“, N. sei kein Rassist, habe zwar rigide Überzeugungen und einen „kritischen Blick auf Ausländer“, zeige aber „keine generelle Ausländerfeindlichkeit“. Als Rassist habe er N. überhaupt nicht wahrgenommen, N. sei ja auch mit einer „Ausländerin“ zusammen. N. sei eher „demokratiekritisch, nicht demokratiefeindlich“, sei eher nicht einverstanden mit der Praxis, dem Handeln der Politik. Im Grunde sei N. eher „CSU-nahe“, es sei keine Einseitigkeit in Richtung AfD feststellbar. Hamel wies auf „sehr radikale Äußerungen“ in den Chats auf beschlagnahmten Geräten, drastische Forderungen („am Strick hängen“) gegenüber Politik und Ausländern („da siehst du mal, wie dumm die [N-Wort] sind“). Hamel: „Hat N. einen realistischen und kritischen Blick auf diese Äußerungen?“ N. habe bei sich selbst rückblickend eine „Verrohung der Sprache“ festgestellt, so der Zeuge. Auf die Frage, ob N. das rechtfertige oder bereue, sagte der Zeuge, dass das unsicher sei, Demokratiefeindlichkeit oder Rassismus sei aus den Gesprächen mit N. nicht ablesbar.

Nach weiteren Fragen zum Thema der Beziehung N.s zu seiner Partnerin, fügte der Zeuge von sich aus zum Thema Rassismus hinzu, dass N. zum Beispiel beim Thema George Floyd die Meinung vertreten habe, dass mit dem Fall ungerecht umgegangen werde, man müsse sich mal die Bodycams der Polizisten ansehen. Der Zeuge sieht diese Äußerung N.s aber eher im Zusammenhang mit einem allgemeinen Medienmisstrauen bzw. Misstrauen gegenüber der „Umsetzung der Demokratie“.

Zur Beziehung N.s. zu dessen Vater befragt sagte der Zeuge, dies sei nur am Rande Thema gewesen. N. habe insgesamt eine „nicht so harmonische Familiensituation“ angedeutet; der Vater sei Waffennarr gewesen, hätte N. schon mal eine Knarre an den Kopf gehalten. Dies habe N. berichtet, als es im Gespräch um N.s Beschäftigung mit Waffen gegangen sei und um dem Wunsch, die von seinem Vater übergebenen Waffen zu behalten. Das Motiv fürs Behalten sei laut N. Angst vor Einbruch oder ähnlichem gewesen. Hamel fragte zum Thema Ängste. Das sei, so Fleig aktuell nur eine Vermutung wegen N.s Versteifung auf die eigene Meinung und seine „bessere Informationsbasis“, dies deute auf Ängste hin.

Der Zeuge wurde um 10:30 Uhr entlassen.

Im Folgenden ging es um weitere Akten, die im Selbstleseverfahren eingeführt werden. Danach folgte eine Auseinandersetzung zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft. Dabei ging es um Beanstandungen der Verteidigung bzgl. zurückgewiesener Beweisanträge der Verteidigung und ein aus Sicht der Verteidigung vorliegendes Beweisverwertungsverbot. Thema war die Bestellung des ersten Pflichtverteidigers von N., RA Franzmann.

Hierzu merkte Nebenklagevertreterin RAin Streit-Stifano Espósito an, dass sie das das Anliegen der Verteidigung nicht verstehe, „ständig das Gericht vorwurfsvoll anzuschauen“. Sie verlangte eine Befristung der Möglichkeit der Verteidigung, Beweisanträge einzureichen, der Zustand sei eine Zumutung für die Nebenklägerin: „Das, was hier abläuft, finde ich aus meiner Sicht nicht in Ordnung.“

Nach einer Pause wurde dieser Antrag der Verteidigung per Beschluss zurückgewiesen, es seien keine Umstände ersichtlich für ein Beweisverwertungsverbot. Verteidiger RA Klein legte dann mit einem weiteren Antrag nach, die Hausärztin von N. erneut zu vernehmen und E-Mails von N. zu Privatkäufen von Salbuthamol/Asthmasprays neu auszuwerten. Nach einer weiteren Pause wurden auch diese Anträge abgelehnt.

Gegen 14 Uhr begann dann die Gutachtenerstattung des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Ralf Werner. Der Angeklagte hat sich sich auf Anraten seiner Anwälte nicht von Dr. Werner explorieren lassen. Dr. Werner erstellte das Gutachten daher aus Aktenlage und Beobachtung des Prozesses.

Werner stellte fest, dass keine Hinweise auf eine bipolare Störung bei N. – wie sie die Lebensgefährtin erwähnt hatte – erkennbar seien. Im Folgenden beschäftigte Werner sich mit dem tatzeitrelevanten Intoxikationsstatus von N., unter anderem mit dem vom Sachverständigen Kaufmann angenommenen Resorptionsdefizit, aber auch damit, dass in den im Verlauf der Verhandlung mehrfach vorgeführten Videos (erster Besuch Aral-Tankstelle, Ausweichtankstelle, zweiter Besuch Aral-Tankstelle) keine Koordinationsstörungen erkennbar seien. Werner erkennt jedenfalls keinen Anhaltspunkt für eine schwere Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt, aus neurologischer und psychiatrischer Sicht ergebe sich keine Beeinträchtigung. Kognitive Einschränkungen, etwa eine Selbsterhöhung, seien auch ohne Alkoholintoxikation bei N. erkennbar. Insgesamt gebe es keine Hinweise für eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB. Eine forensisch relevante Minderbegabung – § 20 StGB – sei bei N. ausgeschlossen.

Dann ging es um die Frage, auf welche Weise sich N. in die Bewertung der Corona-Lage in Deutschland hineingesteigert habe. Eine Persönlichkeitsstörung sei bei N. nicht feststellbar, so Werner unter Verweis auf die Maßstäbe des BGH hierzu. Eine Persönlichkeitsakzentuierung sei nicht vergleichbar mit einer Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.

Zu Persönlichkeitselementen und -aspekten von N. zitierte Werner die LKA-Psychologin Dr. Ihm zur Motivlage: „trauma-assoziiert, Tendenz zu Borderline, narzisstische Aspekte“. Auch das ergäbe keine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung, so Werner. N. reagiere an mancher Stelle ungewöhnlich, das täten aber viele andere auch, wenn man sich relativ verbreitete Reaktionen auf Impfung etc. anschaue. Die Einschätzung, dass N. auf einen Weg mit falschen Informationen oder Medien geraten sei, treffe nicht zu – Dr. Werner hält N. für intelligent genug, sich da jederzeit herauszuziehen. Es gebe einen guten Rat von Psychologen: Nicht mehr als eine halbe Stunde Beschäftigung mit dem Weltgeschehen – darüber hinaus tue man sich nichts Gutes und könne auch nicht mehr ändern dadurch. Halbwissen sei gefährlicher als Nichtwissen, so Werner. Intellektuell sei N. aber in der Lage die eigene Meinungsbildung kritisch zu begleiten. In diesem Zusammenhang erwähnte Dr. Werner, dass er einer der ersten Ärzte gewesen sei, die sich hätten impfen lassen.

Zu weiteren Punkten von Dr. Ihm – etwa borderline-assoziierte Reaktionsweisen, Denkstrukturen zwischen schwarz und weiß, Stimmungsschwankungen, längeres Liegenbleiben – merkte Werner an, dass es sich nicht um Aspekte für eine Persönlichkeitsstörung handele, sondern um Persönlichkeitsstile. N. sei konfliktbehaftet, kritisch, egozentrisch, missionarisch, übergriffig. Werner wies hierzu unter anderem auf den Umgang mit Nachbarn hin und den Abbruch von Kontakt nach einer Impfung. Zum Thema trauma-assoziierte Störungen sagte Werner, N. sei scheinbar ein glücklicher Mensch gewesen – weitestgehend positive Umstände beruflich, persönlich, finanziell. Eine Stufe tiefer könne man zu dem Gedanken kommen, dass N. doch nicht so glücklich war und mit seinem Leben haderte. Auch die Partnerschaft sei nicht ohne Probleme – hierzu verweist Werner auf verschiedene Auffassungen von N. und der Lebensgefährtin zur Verlobung.

Ein weiteres Beispiel für die persönliche Bewertung N.s im Verhältnis zur Realität sei der Schuss des Vaters auf die Ehefrau und der anschließende Suizid des Vaters. Der Vater habe ein Lungenkarzinom gehabt, N. sei der Auffassung, dass dem Vater wegen Corona nicht geholfen worden sei, der Vater mit seiner Reaktion darauf – Schuss und Suizid – quasi ein Opfer der Corona-Situation sei. Werner hält dagegen, dass mit einem Lungenkarzinom ohnehin nur eine kurze Lebenszeit zu erwarten sei. Werner nimmt eine „Verwirrung“ durch die Erkrankung an. N. deute die Realität um sich herum falsch, hätte sich informieren können, habe aber die ihm ins eigene Bild passende Erklärung gewählt. N. habe sich um seine Mutter gekümmert, sei, bis auf den Aspekt Corona, empathisch mit ihr wie auch mit seinem Schwager gewesen. In der Summe aller Aspekte fänden sich in der Persönlichkeit N.s keine Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung.

N. habe, so Werner, von ‚100 Leuten, die einen politischen Umsturz machen, ich würde ich mich beteiligen‘ gesprochen. Er sei fokussiert gewesen auf Merkel und Spahn und deren Entfernung. Werner nennt das „Selbstkorrumpierung“ – der Mensch setze sich mit missliebigen Situationen auseinander und steigere sich in Phantasien hinein, wie Abhilfe zu schaffen sei. N. hätte aber gegensteuern können, so Werner, man registriere sein eigenes gelockertes Wertesystem, könne mittels Selbstkritik gegensteuern. N. sei auf jeden Fall fähig, aber nicht willens gewesen, das zu tun.
Seelische Erkrankungen erschwerten diese Selbstkorrektur, dies sei hier aber nicht anwendbar, also sei N. selbst verantwortlich für das Ausbleiben einer Korrektur.

Es folgte die Befragung des Gutachters. Richter Hamel fragte, ob es Hinweise darauf gebe, dass N. unmittelbar bei Abgabe des Schusses die Situation aufgrund der Alkoholintoxikation nicht richtig erfasst hat. Werner verneinte das, N. habe mit voreingenommenen Szenarien (Situation A/ Situation B) provoziert, habe auf ein bestimmtes Szenario abgezielt. Werner verneint, dass es sich, auch in Bezug auf das danach gedrehte Selfie-Video, um eine Affekttat handele. Das Selfie – „I shot this asshole“ – sei passend zur Tat und zur Entwicklung zur Tat hin. Die Selfies auf dem Weg zur Tat zeigten einen Erregungszustand ohne ungewöhnliche Dimension. Einen Affektabbau nach den Kriterien von Prof. Henning Saß sieht Werner nicht. Werner wies hin auf die Vorbereitungshandlung (2. Fahrt mit Waffe), die Konstellation (persönliche Entwicklung N.s bis zur Tat, das Herunterziehen der Maske), die zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs (Wartezeit in der Schlange spricht gegen abrupten Affektablauf), den komplexer Handlungsablauf in verschiedenen Etappen (Tankstelle 1, Tankstelle 2, 2. Besuch Tankstelle 1) und die exakte und detailreiche Erinnerung (diese sei bei Affekt nicht vorhanden). Werner sieht bei N. keine Anzeichen für eine depressive Störung. Zum Thema „Hang“ nach § 64 StGB sagte Werner, das sei nicht die zentrale Frage, weil Alkohol keine unersetzliche Bedingung für die Tat sei, sondern die Entwicklung von N. seit 2015.

Richter Stöhr hielt vor, dass N. angegeben habe, „überlegt“ zu haben, und fragte, wie Werner dieses Handlungsschema einordne. Werner antwortete, dass es sich um keine Kurzschlusshandlung gehandelt habe. Auf eine Frage Stöhrs zum Thema Gewöhnung an Alkohol, schilderte Werner Patienten, die, was in der Praxis ca. einmal wöchentlich vorkomme, mit 4,0 Promille an der Rezeption ankommen und denen man das nicht anmerke. Auf Frage Hamels, ob eine Aussage zur psychischen Verfasstheit vor der Tat möglich sei, sagte Werner, dass N. nicht erregt in die Tankstelle gegangen sei und geschossen habe, sondern es im Vorfeld mehrere Entschlüsse und Überlegungen gegeben habe.

Oberstaatsanwältin Frohn wollte wissen, wie weit für Werner die enthemmende Wirkung des Alkohols ging. Wegen des überlegten Ablauf und der persönlichen Fehlentwicklung seit 2015 mit Gewaltphantasien sei nicht der Alkohol hauptursächlich, so Werner. Werner bejahte eine „bahnende Funktion“ des Alkohols, verwies aber ansonsten auf seine Argumentation zur vorigen Frage. Werner sieht auch keine berechtigten Ohnmachtsgefühle, keine Beeinträchtigung durch das Masketragen, maximal die geschäftlichen Beeinträchtigungen seien anzuwenden – herausgefordert sich anzupassen seien aber alle gewesen.

RAin Streit-Stifano Espósito fragte, wenn jemand hat Streit mit Nachbarn habe und sich daraus eine Tat im Affekt ergebe, ob das mit N.s Streit beim ersten Besuch in der Tankstelle vergleichbar sei. Das verneinte Werner, es habe sich nicht um eine unverhofft eintretende Begegnung gehandelt, diese sei von N. wesentlich später bewusst herbeigeführt worden.

Es folgte die Befragung durch die Verteidigung. RA Klein fragte nach einer Bewertung des „Hinknallens des ersten Sixpacks auf die Theke“ und versuchte von Werner eine Größenordnung für die Rückrechnung zu „normal alkoholgewöhnten Menschen“ zu erhalten; dieser lehnt aber wegen der Schwammigkeit des Begriffs eine konkrete Zuordnung ab. Auf die Frage, ob § 21 StGB auch psychisch anwendbar sei, ohne motorische Ausfälle, sagte Werner, das sei nicht auszuschließen. Auf erneute Nachfrage sagte er jedoch: „Nicht mit der Vorgeschichte und dem dazu passenden Vorfall.“ Alkohol sei da immer nur zusätzliche Komponente. Klein wies darauf hin, dass der Tod des Vaters bei Dr. Ihm eine viel größere Rolle gespielt habe als bei Werner. Darauf gab Werner an, dass das ein halbes Jahr zuvor gewesen sei. N. habe den Tod des Vaters mit Corona assoziiert, wäre aber in in der Lage, solch einen Schicksalsschlag zu verarbeiten; dabei spiele auch die intellektuelle Ausstattung eine Rolle. Es lasse sich also mit der Tat nur teilweise in Verbindung bringen. Es gebe keinerlei Hinweise auf Verarbeitungsschwierigkeiten. Klein erwiderte, nicht jeder rede über alles und schilderte unter anderem nochmals N.s gelegentliches Liegenbleiben im Bett – weswegen Depression nicht auszuschließen sei. Dennoch bestätigte Dr. Werner, er sehe darin keine Minderungsumstände.

Klein: „Warum teilen Sie mit dass sie einer der ersten Ärzte waren, die sich haben impfen lassen?“ Werner antwortete, er habe auf den üblichen Weg zur Entscheidungsfindung unter Medizinern hinweisen wollen. Klein: „Wenn jemand so überzeugt ist von der Sinnlosigkeit der Maßnahmen, wie N. es ist, gilt dann immer noch, ‚wie es jeden trifft‘?“ An dieser Stelle verließ die Mutter von Alex W. den Saal. Werner sagt, er sehe keine Aspekte aus Krankheitssicht oder ähnlichem, die N. aus dieser Verantwortung entließen.

Auf Kleins Frage, ob die Belastungen durch die Corona-Maßnahmen – die N. aufgrund seiner Überzeugungen noch verstärkt wahrgenommen habe – zusammen mit den Belastungen durch die Tat des Vaters eine psychiatrische Relevanz im Sinne einer Anpassungsstörung entwickeln könne, antwortete Werner: „Möglich, aber eigentlich nicht ausreichend, um das Überschreiten der Tötungshemmung zu erklären.“ Anpassungsstörungen seien nach ICD-10 auf ein halbes Jahr begrenzt. Der einzige nachvollziehbare Aspekt sei die geschäftliche Beeinträchtigung. Klein widersprach und führte unter anderem die Isolation N.s in sozialen Kontakten an. Werner blieb bei seiner Einschätzung, verwies auf soziale Kontakte beim Gassigehen, maskenfreie Selfies in der Natur etc. Auf Frage, wie er sich eigentlich die Tat erkläre, nannte Werner die Selbstkorrumpierung und die skizzierte Entwicklung des N. Nach kurzer Rücksprache mit N. sagte Klein zum Abschluss: „Wir haben uns entschieden, keinen Versuch mehr zu unternehmen, die Meinung des Gutachters zu ändern.“

Nach einer Pause wird der Sachverständige unvereidigt entlassen.

Nach Verkündung, wann es im Prozess weitergeht, und dass einige Termine aufgehoben werden, endete der Verhandlungstag.

 

Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 21. Verhandlungstag, 18. Juli 2022

Vor der angekündigten Verlesung des Auszugs von N. aus dem Bundeszentralregister beantragte Verteidiger RA Klein eine Unterbrechung; er wolle einen weiteren Antrag stellen und diesen zuvor mit seinem Mandanten besprechen.

Nach der Pause verlas Klein einen Befangenheitsantrag gegen den am 21. Verhandlungstag gehörten forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Dr. Werner. Werner habe „eine voreingenommene Haltung N. gegenüber“.

Klein begründet die Ablehnung unter anderem mit der Einschätzung Werners, dass die Auswirkungen des schwerwiegenden Lebensereignisse – Tod des Vaters, Verletzung der Mutter – zum Tatzeitpunkt bereits keine entscheidende Rolle mehr in Bezug auf eine mögliche fehlende Steuerungsfähigkeit gespielt hätten. Werner habe N. zu diesem Punkt während des Prozesses auch nicht befragt. Klein bestreitet, dass es psychiatrisch zutreffend sei, dass einer Anpassungsstörung nach sechs Monaten kein Gewicht mehr zugewiesen werden könne. Eine Anpassungsstörung könne deutlich länger anhalten, so Klein. Der Sachverständige habe außerdem ohne Kenntnis der Blutwerte eine Verwirrung des Vaters von N. – Halluzinationen vor den Schüssen auf N.s Mutter – als durch die Krankheit des Vaters ausgelöst bezeichnet. N. dagegen nehme an, dass sie durch eine falsche Medikation wegen coronabedingt ausbleibender ärztlicher Betreuung ausgelöst wurden. Klein hebt weiter darauf ab, dass der Sachverständige eine „überdeutliche Ablehnung“ der Ansichten von N. zu Corona und den Corona-Schutzmaßnahmen zeige, die Werner als falsch bezeichne. Werner habe, so Klein, die Voreingenommenheit der Meinung N.s gegenüber auch mit seiner „Prahlerei“ zur ersten Impfung zu einem frühem Zeitpunkt während der Pandemie deutlich gemacht. Weiter geht Klein darauf an, dass Werner der Belastungen N.s durch die Maßnahmen nur eingeschränkte Bedeutung in Bezug auf fehlende Steuerungsfähigkeit zugemessen habe, diese seien aber durchaus erheblich gewesen. Der Sachverständige sei, so Klein, auch hier voreingenommen und habe N. nicht dazu befragt. Im Weiteren ging es um den Blutalkoholwert von 1,8 bis 2,5 Promille, dem der Sachverständige aufgrund vermuteter Gewöhnung keine Bedeutung zur Minderung der Steuerungsfähigkeit zugestanden habe. Zuletzt verlas Klein die Fragen, die Werner im Verlauf des Prozesses direkt an N. gerichtet hatte, und dessen Antworten.

Oberstaatsanwältin Frohn erklärte, dass die Staatsanwaltschaft, wenn überhaupt, nicht heute erwidern werde, da die im Antrag wiedergegebenen Aussagen alle geprüft werden müssten.

Nach einer halbstündigen Pause ging es um 11:02 Uhr weiter. Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz verkündete, dass die Verhandlung am 01.08. fortgesetzt wird, eventuelle Stellungnahmen würden an die Beteiligten versendet.

Damit endete der Verhandlungstag bereits wieder

 

„Der Sachverständige ist nicht der Therapeut des Angeklagten“
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein – 22. Verhandlungstag, 22. August 2022

Nach längerer Pause wegen Krankheit ging es heute weiter mit dem Prozess zum Mord an Alex W. vor dem Landgericht Bad Kreuznach. Es kam jedoch nicht zu den erwarteten Plädoyers.

Zunächst verkündete das Gericht, dass der Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen den forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Dr. Werner abgelehnt wird. Die vorgebrachten Gründe seien nicht zutreffend, die Verteidigung habe aus dem Zusammenhang gerissene und verkürzte Aussagen des Sachverständigen vorgebracht. Dr. Werner habe nicht behauptet, dass Tat und Tod des Vaters keine schwerwiegende Beeinträchtigung bei N. darstellten, sondern dessen intellektuelle Fähigkeit zur Bewältigung angeführt. Der ablehnende Beschluss geht auf weitere Punkte ein, etwa auf die Aussage Dr. Werners, er sei als einer der der ersten Ärzte geimpft gewesen. Diese stelle nicht, wie von der Verteidigung vorgebracht, „Prahlerei“ dar, sondern sei eine beispielhafte Darstellung für die Entscheidungsfindung des einzelnen durch Quellenselektion gewesen, zu der N. intellektuell ebenfalls in der Lage gewesen wäre. In der Gesamtbetrachtung seien keine Gründe für eine Befangenheit vorgebracht, der Sachverständige habe sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Informationen verarbeitet, es sei keine einseitige Einstellung des Sachverständigen erkennbar.

Verteidiger RA Küster behielt sich eine Gegenvorstellung gegen den Beschluss vor und stellt einen weiteren Antrag. Er beantragte die Einholung eines zweiten Sachverständigengutachtens zum Thema Schuldfähigkeit durch Patricia Hölzle von der TU München. Dem Sachverständigen Werner fehle es an Sachkunde, es habe keine Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen von Tat und Tod des Vaters und Verletzung der Mutter stattgefunden. Dies sei zwar im schriftlichen Vorgutachten erwähnt, aber die psychischen Folgen daraus nicht berücksichtigt worden. Werner habe die Relevanz einer Anpassungsstörung ausgeschlossen. Ob, wie und wann ein derart tiefgreifender Einschnitt verarbeitet sei, sei jedoch nicht ausschließlich eine Frage der Intelligenz und der Bereitschaft, sich zur eigenen psychischen Verfassung zu äussern, so Küster, außerdem habe N. in einer Aussage bei der Polizei rückschauend erwähnt, er „hätte sich wohl nach dem Tod des Vaters psychologische Hilfe suchen sollen“. Die zeitliche Begrenzung einer Anpassungsstörung auf maximal ein halbes Jahr widerspreche wissenschaftlichen Erkenntnisssen und sei durchaus auf über ein halbes Jahr hinaus anzusetzen. Werner habe außerdem kein Verständnis für Misstrauen gegenüber den Corona-Maßnahmen, sei nicht fähig zur Einschätzung der subjektiven Belastungen und habe angegeben, N. habe dieselben Belastungen wie jedermann getragen. Küster verweist bezüglich der Expertise von Hölzle in dieser Frage auf einen Artikel in „Psychiatrische Praxis“ von 2020 zu „subjektiven Belastungen durch Covid-19“. Der Sachverständige Werner sei lokal und werde nur deshalb regelmäßig hinzugezogen, er sei N. „ohne jedwede Akzeptanz gegenübergetreten“.

Nach einer zweistündigen Pause ging es um 11:34 Uhr weiter mit der Stellungnahme von OStAin Frohn zu dem Antrag. Dieser sei abzulehnen, so Frohn, es handele sich obendrein nicht um einen Beweisantrag, sondern um einen Beweisermittlungsantrag. Es sei kein Beweisziel erkennbar, es werde kein Eingangskriterium für § 20 StGB (Schuldunfähigkeit bei seelischen Störungen) angeführt. Zudem sei das Gegenteil bereits erwiesen durch das Gutachten des Sachverständigen. Die Verteidigung greife die Sachkunde des Sachverständigen an, dieser sei aber ein erfahrener forensisch-psychiatrischer Sachverständiger. Der Sachverständige komme aus Sicht der Verteidigung zum falschen Ergebnis. Nach Auffassung der Verteidigung werde die subjektive Belastung nicht anerkannt, deshalb werde ihm die Sachkunde abgesprochen. Tatsächlich sei die Fragestellung an den Sachverständigen aber eine andere, nämlich die nach einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Der Sachverständige habe den subjektiven Belastungen keine Relevanz beigemessen, weil sich dadurch keine dekulpierende Wirkung in Bezug auf die Steuerungsfähigkeit ergeben habe. In Bezug auf die Frage nach der Dauer von Anpassungsstörungen sei entscheidend: Selbst wenn man von einer anhaltenden Anpassungsstörung ausgehen würde, bestünden keinerlei Hinweise auf eine Verminderung des Hemmungsvermögens zur Tötung. Ob ein herabgesetztes Hemmungsvermögen vorliegt, sei die Fragestellung an den Sachverständigen gewesen, nicht das Verständnis für subjektive Belastungen. Auch die Auswirkungen subjektiver Belastungen oder Ohnmachtsgefühle hätten keine dekulpierende Wirkung, seien daher nicht näher betrachtet worden. Frohn führt weiter aus, dass Hölzle keine Forensikerin sei und keine Publikationen zum Thema Schuldfähigkeit vorzuweisen habe. Frohn geht dann noch auf den von Küster genannten Artikel ein, dieser behandle vollkommen andere Fragestellungen, die nicht ansatzweise etwas mit der Fragestellung zur Schuldfähigkeit zu tun hätten. Die Antragstellungen der Verteidigung dienten nur noch der Prozessverschleppung, so Frohn.

Nebenklagevertreterin RAin Streit-Stifano Espósito sagte, sie habe der sehr ausführlichen Darlegung der Staatsanwaltschaft nichts hinzuzufügen. Die Verteidigung habe das Thema verfehlt, der Sachverständige sei nicht der Therapeut des Beklagten, so Streit-Stifano Espósito. Sie verweist auf N.s Bestrebungen seit 2019, die Welt zu verändern, notfalls mit Gewalt.

RA Küster verwahrte sich gegen Verschleppungsvorwürfe. Er vermute, so Küster,dass das Gericht den Sachverstand des Gutachters nur daran bemesse, wie häufig dieser beigezogen werde. Angemessen gewesen wären laut Küster Sachverständige wie Henning Saß oder Norbert Nedopil. Dr. Werner habe keinen Zugang zu N., sondern tue alles ab, die Verteidigung wünsche eine bessere Aufklärung bezüglich der Belastungen eines Menschen, der nie zuvor in seinem Leben straffällig geworden sei.

Es folgte eine lange Unterbrechung, erst um 15:37 Uhr ging es weiter. Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz verkündete dann den Beschluss, dass auch dieser Antrag der Verteidigung abgelehnt wird. Sie folgte dabei nahezu im Wortlaut der Argumentation der Staatsanwaltschaft.

Büch-Schmitz fragte dann den Angeklagten, ob bei den bei ihm sichergestellten zwei Schusswaffen mit Munition, Holster und Schnellader aus dem Sicherstellungsprotokoll vom 19.09.21 auf die Herausgabe verzichtet wird. Der Angeklagte bejahte das. Weil kein aktueller Auszug aus dem Bundeszentralregister für N. vorlag, wurde erneut für 10 Minuten unterbrochen. Danach sagte Büch-Schmitz, dass mangels aktuellem Auszug aus dem Bundeszentralregister der vorhandene Auszug vom 04.03.22 verlesen werde: „Keine Eintragungen.“

Dann wurde die Beweisaufnahme geschlossen.

 

„Der Mensch Alex W. hat bei diesen Überlegungen überhaupt keine Rolle gespielt, das Opfer war austauschbar.“
Prozess zum Mord an Alex W. In Idar-Oberstein – 23. Verhandlungstag, 5. September 2022

Am heutigen Verhandlungstag, der um 13:07 Uhr begann, wurden die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage gehalten.

Nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass eine Verständigung nicht stattgefunden hat , und dann das Plädoyer der Staatsanwaltschaft angekündigt worden war, wurde zunächst unterbrochen. Verteidiger RA Küster hatte sich über die „pfeifende“ Klimaanlage beschwert.

Um 13:30 Uhr begann dann OStAin Frohn mit dem Plädoyer: „Am 18.09.2021 wurde der Schüler Alex W. mit 20 Jahren erschossen. Dieses Verbrechen hat den Eltern den Sohn genommen und im ganzen Land und darüber hinaus für Entsetzen gesorgt.“ Das erste Mal habe es im Zusammenhang mit den Corona-Schutzmaßnahmen tödliche Gewalt gegeben. N. sei angeklagt wegen des unerlaubten Besitzes zweier Schusswaffen und wegen Mordes. Frohn äußert in ihrem Plädoyer dann Unverständnis für die längere Verfahrensdauer als vorgesehen und verweist ausdrücklich darauf, dass sie nicht die krankheitsbedingten Verzögerungen meint. Damit zielt sie auf Beweisanträge der Verteidigung ab, bei denen sie in Frage stellt, ob tatsächlich im Interesse des Angeklagten waren. Für Nebenklage und Angehörige jedenfalls stelle das eine große Belastung dar und sei schwer auszuhalten. Frohn: „Die eine oder andere so initiierte Beweiserhebung war, wenn auch nicht unbedingt im Sinne des Verteidigung, aufschlussreich.“

Es geht im Plädoyer dann um den Werdegang des 1972 in der DDR geborenen Angeklagten. Frohn nennt den alkoholabhängigen Vater, der Waffennarr gewesen sei. N. sei daher früh in Kontakt mit Informationen zu Waffen gekommen. N. habe Gewalterfahrungen durch den Vater gemacht. Dann geht es um die Schul- und Berufsausbildung von N. und die familiären Umstände, wobei auch der enge Kontakt vor allem zum Schwager in den USA genannt wird. N. habe bei Besuchen dort auch Schießstände besucht. Die zwei Schusswaffen, die N. ab ca. 2013, spätestens ab 2014 vom Vater in Besitz bekommen habe, habe N. aufbewahrt mit dem Ziel der Verteidigung gegen Einbrecher.

Ab 2015 habe es bei N. eine problematische Entwicklung gegeben, „Schlagwort Flüchtlingskrise“. Eigentlich der CDU nahestehend habe sich N. zunehmend unzufriedener mit politischen Entscheidungen gezeigt, sich in Deutschland nicht mehr sicher gefühlt und Gedanken über eine Auswanderung nach Indonesien, dem Herkunftsland der Lebensgefährtin, oder in die USA, gehegt.

Es geht dann um Betriebsmittelkredite, die N. ab 2019 wegen ausbleibender Aufträge habe aufnehmen müssen. Ab März 2020, mit Beginn des ersten Lockdowns, hätte sich die Auftragsabsagen gehäuft, zum Teil wegen N.s Einstellung zu den Corona-Maßnahmen.

Am 26.03.2020 habe es einen Schicksalsschlag für N. gegeben,, als N.s Vater der Mutter aufgrund von Wahnvorstellungen in den Kopf geschossen und sich dann selbst getötet habe. Die Mutter habe überlebt, habe aber ins Krankenhaus gemusst, wo im Laufe der Zeit eine Krebsdiagnose gestellt worden sei. Sie starb, während N. bereits in U-Haft war. N. habe aufgrund der Corona-Maßnahmen seine Mutter nur erschwert besuchen können. N. habe auch die ausbleibenden Arztbesuche des Vaters mit den Corona-Maßnahmen in Verbindung gebracht. Der Vater habe sich selbst seine Medikation zusammengesucht. Die Beisetzung des Vaters in einem Ruheforst habe von N. nicht besucht werden können.

Seit 2020 sei Corona bestimmendes Thema für N. gewesen, er habe sich in das Thema hineingesteigert, Hunderunden-Bekanntschaften hätten den Eindruck gehabt, er kenne kein anderes Thema mehr. N. habe eine eigene Einstellung zu Corona gepflegt, nicht das Virus an sich geleugnet, sondern die Gefährlichkeit von Covid-19, es sei eine ganz normale Erkrankung. Den sogenannten Mainstream habe er eher nicht zur Information herangezogen, sich bei „alternativen Medien“ informiert, Gruppen und Seiten, die er selbst Querdenken zuordnete, Verschwörungstheoretikern. N. habe die Schutzmaßnahmen für nicht gerechtfertigt und in der Sache vollkommen sinnlos gehalten, allem voran die Maskenpflicht, die er für sich selbst als besonders belastend empfunden habe wegen seiner Asthmaerkrankung. Impfungen habe er für extrem gefährlich, lebensbedrohlich gehalten, den Kontakt mit Geimpften vermieden. Auf der Suche nach Verantwortlichen habe er Politiker – insbesondere Angela Merkel und Jens Spahn – gefunden, habe sich dazu regelmäßig in Chats, vor allem mit dem Schwager, ausgetauscht. Die ablehnende Haltung gegenüber den Maßnahmen habe sich verfestigt. N. habe sich radikalisiert, mit dem Gedanken an einen Anschluss an bewaffnete Gruppen gespielt. N. habe wegen der Impfung den Kontakt zur Schwester und zu den Hunderunden-Bekannten abgebrochen. Mit den Hunderunden-Bekannten habe man bezüglich der Flüchtlingspolitik noch eine ähnliche Meinung gehabt, bei Corona sei es schon schwieriger geworden, bei der Impfung dann ganz vorbei gewesen. Frohn: „Diese Entwicklung zeigt sich auch in der fixierten Kommunikation aus dieser Zeit.“

Frohn greift in ihrem Plädoyer einige diese Äußerungen auf. Dann geht Frohn zu einem Abriss des Tattages über.

Sie schildert den ersten Besuch in der Aral-Tankstelle, an der Alex W. arbeitete, um sich den Führerschein und elektrische Geräte zu finanzieren. Der Wortwechsel, der wegen der fehlenden Maske von N. entstanden sei, lasse sich nicht in allen Details nachvollziehen, so Frohn. N. habe die Sixpacks auf die Theke geknallt, die Außenkamera habe eine Drohgebärde erfasst, als N. die Tankstelle verlässt. Dann geht es im Plädoyer um den Besuch an der bft-Tankstelle, der zweiten Tankstelle, wo N. sich fünf Dosen Bier gekauft habe, von denen er daheim drei oder vier getrunken habe. N. habe sich in seinen Ärger hineingesteigert, die Szene als Kränkung oder Demütigung empfunden, habe Grenzen aufzeigen wollen. In dieser Stimmung habe N. um 20:20 Uhr eine Sprachnachricht an den Schwager verfasst: „Immer wenn ich dich brauche, bist du nicht da.“ N. habe die Tat angekündigt. Er habe beschlossen ein Zeichen zu setzen, hinzufahren und den Kassierer Alex W. erst zu provozieren, dann zu erschießen. N. habe den Revolver genommen, ihn in die Hosentasche gesteckt. Er habe nicht direkt bei der Aral-Tankstelle geparkt, sondern vor der Polizei. Er sei zunächst an der Tankstelle vorbei gegangen und habe das Tankstellengelände aus Richtung der Post betreten. Er habe ordnungsgemäß eine OP-Maske getragen.

Im Inneren der Tankstelle hätten zwei Freundinnen von Alex W. in der Schlange gestanden. N. habe sich angestellt und gewartet, bis er an der Reihe war. Dann habe er die Maske heruntergezogen. Der folgende Dialog sei gut feststellbar, so Frohn:

Alex W.: „Tu die Maske hoch!“
N. lehnte sich nach vorne über die Theke: „Echt?“
Alex W.: „Ja.“

Frohn weiter: „N. zog mit der rechten Hand den Revolver, richtete die Waffe auf Alex W. und drückte in Tötungsabsicht sofort ab. Er schloss aus, dass sein Opfer in irgendeiner Hinsicht damit rechnete. Alex W. starb sofort an zentralem Regulationsversagen.“

N. sei dann nach Hause gefahren und habe seiner Freundin von der Tat berichtet, die ihm nicht geglaubt habe. N. habe sich schlafen gelegt, um sich am nächsten Tag zu stellen.

Während der Schilderung der Tat durch OStAin Frohn wischte sich die Mutter immer wieder Tränen ab und schaute auf die Tischplatte. Später sah sie N. fest an.

N. sei, so Frohn weiter, während der Tat alkoholisiert gewesen, 2 Promille seien nicht auszuschließen, aber er sei schuldfähig gewesen. Nach der Tat habe N. eine Nachricht an den Schwager geschrieben, derzufolge er „ein Zeichen“ habe setzen müssen, sein Leben sei jetzt „für immer ruiniert“. Dann habe er sich gestellt und sei widerstandslos festgenommen worden.

Frohn stellt fest, dass die Täterschaft nie in Zweifel gestanden habe, N. habe spontan und ausführlich ein Geständnis abgelegt. Frohn gibt dann wieder, was N. im Wesentlichen zu seiner Entlastung angegeben hat. Die audiovisuelle Aufzeichnung der polizeilichen Vernehmung sei, so Frohn dann, nicht nur interessant in Bezug auf N.s Äußerungen, sondern zeige auch das Verhalten von N.: Zu Beginn der Vernehmung sei er angespannt gewesen, habe mit verschränkten Armen da gesessen, diese Haltung habe sich im Laufe der Vernehmung geändert. Es sei vielleicht zu viel gesagt, dass N. es genossen habe, aber er habe die Gelegenheit genutzt, seine Sicht zu erklären.

Die zahlreichen Beweise müssten nicht im Einzelnen wiedergegeben, weil der Tatablauf nicht streitig sei, fährt Frohn fort. Abweichend zur Darstellung von N. sehe man in dem Video, das das erste Betreten der Aral-Tankstelle durch N. zeigt, wie die Maske in die Hosentasche steckt, das stehe im Widerspruch zu seiner Aussage, es sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er die Maske dabei hatte. Frohn: „Was soll das sonst gewesen sein, wenn es keine Provokation war? ‚Testen wir mal, was passiert, vielleicht geht es ja auch ohne.‘ Dann hätte er seine Einstellung durchgesetzt, weil niemand wagte, ihm zu widersprechen.“

Nach weiteren Überlegungen zu diesem Video geht Frohn in ihrem Plädoyer zur Frage der Alkoholisierung über. Diese habe nie in Zweifel gestanden, auch dass sie erheblich gewesen sei, nicht. Es sei nur darum gegangen, wie erheblich genau sie war und welche Konsequenzen das für die Schuldfähigkeit hat. Frohn geht die einzelnen Angaben N.s zu seinem Alkoholkonsum am Tattag durch. Sie kommt dann zu dem Schluss, dass der durch den Sachverständigen errechnete Wert von 1,87 Promille plus Sicherheitszuschlag von 0,2, also zur Tatzeit ca. 2,0 bis 2,1 Promille plausibel errechnet sei; exakter sei es wegen der zeitlichen Abweichung nicht möglich und müsse zugunsten des Angeklagten ausgelegt werden.

Die vorsätzliche Tötung von Alex W., so Frohn dann, als Mord zu werten aufgrund der Mordmerkmale der niedrigen Beweggründe und der Heimtücke.

[Sonstige?] Niedrige Beweggründe seien laut Definition nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehend, durch hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich. Auch wenn die Beweggründe menschlich noch verständlich erscheinen würden, würden sie als niedrig definiert, wenn dem Täter bei Begehung der Tat die Umstände bewusst sind und ein krasses Missverhältnis zwischen Anlass und Tötung besteht, „hier also die Degradierung des Opfers zum bloßen Objekt“. Frohn: „Das Opfer hatte nicht zur Eskalation beigetragen. Anlass und Tat stehen hier in krassem Missverhältnis. Das ist soweit weg voneinander, das ist schon auf den ersten Blick ersichtlich. Es gab keine Provokation seitens Alex W. Er hätte großzügiger sein können, ‚bitte‘ sagen, es N. durchgehen lassen, der Chef der Tankstelle hatte diese Möglichkeit anheim gestellt. Aber Alex W. ist hier nicht derjenige, der irgendwas falsch gemacht hat.“

Zu den gesundheitlichen Einschränkungen N.s sagt Frohn, die von ihm selbst angenommene Luftröhrenverengung habe er nicht, das Asthma sei leicht.

Frohn weiter: „Die Tat war eine bewusste Entscheidung, N. kann sich nicht als Opfer darstellen. Viele Menschen waren in einer ähnlicher Situation wie N., konnten ihre Angehörigen nicht im Krankenhaus besuchen. Es starben Kranke ganz allein in solchen Einrichtungen. Im Gegensatz zu N. haben viele Menschen kein Haus mit Garten, sondern mussten in einer 2-Zimmer-Wohnung ohne Balkon das Homeschooling der Kinder organisieren. Jeder hatte seine Belastung. Es gibt niemanden hier in diesem Raum, der nicht von den Corona-Maßnahmen belastet war.“ Zum Thema der vermeintlichen Demütigung sagt Frohn, dass N. sich selbst dazu geäußert habe, dass es „hier und da“ mal vorgekommen sei, dass er gemaßregelt wurde wegen der Maske. Frohn: „Es gab keine dauerhafte Belastung, dieser Eindruck von N. muss relativiert werden.“ Der Schicksalsschlag durch Tat und Suizid des Vaters sei sicherlich belastend, aber verarbeitbar gewesen. Zu den Umständen der Beisetzung gebe es abweichende Angaben: N. habe angegeben, dass er „trotz seiner flehenden Bitten“ nicht an der Beisetzung habe teilnehmen können. Die als Zeugin gehörte Bestattungsunternehmerin habe noch nicht einmal nachdrückliche Bitten erinnert, N. habe es hingenommen. Eine Verschiebung der Beisetzung sei angeboten worden, da die Maßnahmen absehbar nur noch ein paar Wochen gelten würden, N. habe sich dagegen entschieden. Auch hier sei ihm eine Entscheidungsmöglichkeit also gegeben gewesen. Viel interessanter sei diese Wortwahl („flehende Bitten“) im Zusammenhang mit der Beweiserhebung und der Diskussion zwischen der Zeugin und N. sowie seiner Verteidigung. Es solle ein bestimmtes Bild des leidenden Angeklagten gezeichnet werden, so Frohn, und das müsse relativiert werden.

Frohn: „Alex W. hatte [betont:] nichts zu tun mit der persönlichen Entwicklung von N., das wurde ihm auch in der polizeilichen Vernehmung vorgehalten.“ N. habe geantwortet, an die verantwortlichen Politiker, Merkel und Spahn, hätte er nicht rankommen können. Weiter habe N. gesagt, Alex W. sei mitverantwortlich, weil er die Maßnahmen durchsetzen wollte. N. habe Alex W., so Frohn, stellvertretend für all diejenigen getötet, die aus seiner Sicht verantwortlich waren: „Der Mensch Alex W. hat bei diesen Überlegungen überhaupt keine Rolle gespielt, das Opfer war austauschbar.“ Das habe N. auch so formuliert, es sei nicht um den Mensch da an sich gegangen, sondern um „diese Geschichte“. Frohn: „Er hat Alex W. zum Objekt dieses Zeichens gemacht, und das sind niedrige Beweggründe.“

Zur Heimtücke sagt Frohn, dass das Opfer arglos gewesen sei. Sie zitiert eine BGH-Entscheidung: Arglos sei ein Opfer, das sich keines erheblichen Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versieht. Die Arglosigkeit führe zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das sei der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen oder in sonstiger Weise auch durch verbale Äußerungen auf den Täter einzuwirken, um den Angriff zu beenden.

Für das in subjektiver Hinsicht für einen Heimtückemord erforderliche „Ausnutzungsbewusstsein“ genüge es, zitiert Frohn weiter,dass der Täter die die Heimtücke begründenden Umstände in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatausführung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Man müsse sich also nicht heimlich an jemanden anschleichen oder ähnliches., um das Merkmal der Heimtücke zu erfüllen, schließt Frohn.

Frohn: „Alex W. steht hinter der Kasse, plaudert mit den Freundinnen. N. wartet mit Maske und Abstand dahinter, es ist keine Waffe zu sehen, er kann nichts erahnen. Erst als N. die Maske herunterzieht – womit rechnet er? ‚Oh nein, der schon wieder.‘ Er rechnet wohl mit einer Wiederholung der Auseinandersetzung, erwartet vielleicht verbale Entgleisungen. Er hat keinen Anhaltspunkt für einen körperlichen Angriff.“ Erstes Anzeichen dafür sei das Ziehen der Waffe gewesen, innerhalb einer Sekunde sei dann der Schuss gefolgt. Alex W. „hatte keine Möglichkeit, die Bedrohung zu realisieren. Bevor er das überhaupt realisieren kann, ist er schon tot, er war arg- und wehrlos.“

N. habe gehandelt, wie er es sich vorgenommen habe, als Alex W. so reagiert hatte, wie er erwartete, dass er reagieren würde. Auch eine schnelle Tatausführung könne ein Anzeichen für Heimtücke sein. Eine schnelle Tatausführung in dynamischer Situation könne hier ausgeschlossen werden, die ganze Situation habe komplett unter N.s Kontrolle gestanden. Der Sachverständige habe Schuldunfähigkeit durch Alkoholeinfluss ausgeschlossen. Frohn: „Die Tat war herbeigeführt, inszeniert und durchgeführt.“

Es geht im Plädoyer von OStAin Frohn dann um die Vorwürfe des Verstoßes gegen das Waffengesetz. Beide Waffen seien eingezogen worden, so Frohn.

Im Weiteren geht es um die Frage der möglicherweise verminderten Schuldfähigkeit wegen der Alkoholisierung. N. sei auch laut dem Sachverständigen Dr. Werner voll schuldfähig gewesen. Laut BGH sei ein Wert ab 2 Promille ein Anlass, auf Minderung des Hemmungsvermögens, der Steuerungsfähigkeit zu prüfen. Die Umstände sprächen jedoch gegen eine Einschränkung, so Frohn. N. selbst habe angegeben, er sei betrunken, aber „bei vollem Bewusstsein“ gewesen bzw. das sei „nicht im Delirium passiert, ich hab das in vollem Bewusstsein gemacht“. Dr. Werner habe keine motorischen Auffälligkeiten festgestellt, kein Zeuge habe etwas Auffälliges an der Motorik bemerkt, bei Schussabgabe und in der Videonachricht an den Schwager seien keine sprachlichen Einschränkungen festzustellen. Es habe keine Auffälligkeiten beim Fahren gegeben. N. habe zwar Erfahrung, aber keine Routine bei der Schussabgabe, trotzdem habe er gezielt, noch die Ausrichtung des Laufs korrigiert und den Hahn vorgespannt. Beim Schuss sei in den Videos kaum ein Rückschlag zu erkennen, obwohl der Rückschlag dieser Waffe erheblich sei. N. habe die Waffe unter Kontrolle gehabt. Laut dem Sachverständigen könne ein schwerer Rausch ausgeschlossen werden, dieser habe die angegeben Mengen auch nicht für plausibel gehalten. Falls diese aber doch zutreffend sei, müsse anhand der fehlenden Einschränkungen eine erhebliche Gewöhnung angenommen werden, daher sei auch hier keine Verminderung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen. Hierzu müsse erwähnt werden, dass die motorische und sprachliche Leistungsfähigkeit individuell unterschiedlich ausfalle. Wenn das Leistungsverhalten unbeeinträchtigt ist, sei das kein Ausschluss einer Verminderung. Hierzu habe sich aber der Sachverständige Dr. Werner geäußert: N. sei noch in der Lage gewesen abzuwägen, sei sich nicht ganz sicher über die Tatausführung gewesen. Er habe noch auf dem Weg zur Tankstelle überlegt: „Tust du das jetzt oder nicht?“ N. habe überlegt, dass er jetzt die Wahl habe, sein Leben weiter zu leben, sich irgendwie durchzuschlängeln oder sein Leben zu beenden, indem er jemanden aus diesem Grund umbringt. N. sei erst an der Tankstelle vorbeigegangen, sei erst dann aus Richtung Post gekommen, habe also offensichtlich überlegt. Das Hemmungsvermögen sei also vorhanden gewesen. Nach der Tat sei er nicht rausgerannt, sondern sei „ganz kontrolliert“, habe erst noch die Maske über Mund und Nase gezogen und dann die Tankstelle verlassen. Frohn: „Er hat rational die ganze Situation beherrscht.“ Dr. Werner habe eine Alkoholabhängigkeit verneint, aber eine Missbrauchstendenz konstatiert, die jedoch nicht taterheblich sei; „Alkohol war nicht die unersetzliche Bedingung dieser Straftat“. Der Sachverständige habe eine Begünstigung durch den Alkohol (den N. laut seiner Einlassung getrunken hat) und eine „bahnende Funktion“ gesehen. Frohn: „Alkohol ist kein guter Ratgeber, das können die meisten von uns nachvollziehen.“. Frohn schließt, dass der Alkohol taterleichternd, aber nicht ursächlich gewesen sei. Ein Affekt sei auszuschließen, den „haben wir nun am weiten Horizont nicht“.

Bezüglich einer möglichen Persönlichkeitsstörung oder psychischen Erkrankung bezieht sich Frohn auf Dr. Werner, der von einer „Akzentuierung von Persönlichkeitsmerkmalen“ gesprochen habe. Frohn: „Dass ein Narzisst vor uns sitzt, für diese Feststellung hätten wir keinen psychiatrischen Sachverständigen gebraucht.“ Frohn zieht die Beispiele Wahn und Intelligenzminderung heran, unter denen Betroffene nicht für ihre Meinungsbildung verantwortlich sind. Der Angeklagte dagegen sei verantwortlich für seine Meinungsbildung. Bei einer Anpassungsstörung aufgrund des Suizids des Vaters wären, so Frohn, vielleicht anderthalb Jahre Dauer diskutierbar, wenn auch der Dr. Werner das verneint habe. Frohn: „Die Frage ist: Hatte er eine? Und selbst wenn, spielte das für die Tat eine Rolle?“ Dies sei zu verneinen. Bei einer Depression zum Beispiel sei in aller Regel nicht die Steuerungsfähigkeit vermindert. Bei N. liege maximal eine leichte depressive Verstimmung vor, dies sei nicht dekulpierend, es gebe keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen angenommener Störung und Tat. So sei es auch vom Sachverständigen Werner eingeschätzt worden.

Frohn geht dann auf die persönliche Entwicklung von N. seit 2015 ein: „N. hat sich immer wieder neu entschieden, diesen radikalen Weg weiterzugehen. Nichts auf diesem Weg hat ihm Anlass gegeben, das eigene Verhalten zu überdenken.“ Zu der Entwicklung seien noch viele Fragen zu stellen, dies sei aber Aufgabe der Tataufarbeitung, die Jahre in Anspruch nehmen könne und nicht Aufgabe der Verhandlung sei.

Als Strafmaß für den Mord fordert OStAin Frohn eine lebenslange Freiheitsstrafe. Bezüglich des unerlaubten Besitzes der Waffen weist Frohn darauf hin, dass N. trotz der Bitten der Lebensgefährtin die Waffen behalten habe, die Waffen seien außerdem geladen und weitere Munition sei vorhanden gewesen, das erhöhe die Gefährlichkeit der Waffen. Hier sei eine Freiheitsstrafe von einem Jahr anzusetzen.

Dann geht es im Plädoyer um die Frage der besondere Schwere der Schuld nach §57b StGB.

[Wird bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zusätzlich die besondere Schwere der Schuld festgestellt, schiebt dies den Zeitpunkt, ab dem Anträge auf Entlassung auf Bewährung gestellt werden dürfen, weiter nach hinten. Im Normalfall können diese nach 15 Jahren gestellt werden, bei besonderer Schwere der Schuld erst später. Nach wie vielen Jahren genau, wird nicht im Urteil festgelegt, sondern später von dem für die Strafvollstreckung zuständigen Gericht, in der Regel nach 13 Jahren vollzogener Haft.]

Frohn sagt, dass Feststellung der besonderen Schwere der Schuld eine Ausnahme sei, erforderlich sei dafür ein wesentliches Maß an Tatschuld, das gesamte Tatbild einschließlich der Täterpersönlichkeit müsse von erfahrungsgemäß vorkommenden Straftaten abweichen. Dies sei eine Ermessensfrage. Entscheidungskriterien dafür seien etwa, wenn mehrere Menschen getötet wurden, oder mehrere Mordmerkmale erfüllt werden. Letzteres sei hier vorhanden. Dann geht es in Bezug auf die Frage der besonderen Schwere der Schuld um die Folgen der Tat. Zu den Folgen für die Nebenklägerin, die Mutter von Alex W., sagt Frohn: „Sie hat versucht, uns mitzuteilen, was das für sie bedeutet, ihren Sohn verloren zu haben. Das ist für uns nicht vorstellbar, aber, auch wenn das jetzt furchtbar klingt, diese Folgen sind Folgen eines Tötungsdelikts. Das ganz persönliche Leid der Nebenklägerin und der Familie ist nichts, was diesen Mordfall abhebt. Es waren aber weitere Menschen durch diese Tat mitbetroffen.“ Frohn nennt den anwesenden Kollegen von Alex W., die zwei Freundinnen, den Fünfjährigen im Auto, der die Tat durch die Scheibe beobachten musste. Frohn: „Dass andere Menschen davon mitbetroffen sein würden, war N. vollkommen egal.“ Bezüglich des konkreten Motivs gebe es ein Verbot der Doppelverwertung. Das Motiv sei bereits für die Begründung der niedrigen Beweggründe herangezogen worden. Verwertbar sei aber, so die Oberstaatsanwältin, der Beginn der Entwicklung zu Tat hin seit 2015, „eine eigentlich logische Fortentwicklung“.

Zur Frage der demokratiefeindlichen Einstellung von N. sagt Frohn, dass dem Angeklagten das Grundgesetz eigentlich sehr wichtig sei. Nachdem er aber nicht einverstanden war mit den politischen Entscheidungen, habe er sich bis hin zur Bereitschaft entwickelt, Politiker zu töten. Frohn: „Jemanden in die Gaskammer schicken zu wollen, völlig egal aus welchen Gründen, das ist nicht Ohnmacht, das ist Menschenverachtung!“

Frohn geht auf die Arroganz des Angeklagten ein: „Nur er und paar andere Auserwählte kennen die Wahrheit.“ Frohn weiter: „[betont:] Das ist Arroganz! Nicht der junge Kassierer hat sich arrogant verhalten.“ Ein Wort sei in der polizeilichen Vernehmung gefallen, das die ganze Verachtung veranschauliche: „Tankstellenboy“. Weitere Beispiele seien die Äußerung N.s, wenn er Dachdecker wäre, dann wäre er jetzt nicht hier, dann wüsste er nicht so viel darüber. Frohn: „N. hat im Lauf der Verhandlung seine ganze Anmaßung gezeigt. Er kennt sich aus, er weiß das alles, kennt sich mit allem aus und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich weiß nicht, ob ihm klar ist, wie viel er von seiner Persönlichkeit preisgegeben hat.“ N. distanziere sich zwar von seiner Tat, aber nicht von seiner Einstellung, das sei eindeutig schulderhöhend zu werten, ebenso die weitere Straftat (Besitz der Schusswaffen).

Schuldmindernde Gesichtspunkte seien, dass N. geständig ist, sich selbst gestellt hat, Reue gezeigt habe. Die Reue sei echt gewesen, so Frohn. N. habe anfangs auch unter der Situation im Prozess gelitten, es habe eine bewegende Situation zwischen N. und der Nebenklägerin gegeben. Diesen an sich sehr gewichtigen Umständen habe N. jedoch Gewicht genommen durch sein Verhalten im Laufe der Verhandlung. Anfängliches Selbstmitleid bei Erkennen der Tatkonsequenzen auf das eigene Leben sei verständlich, „im Lauf der letzten Wochen ging es aber immer mehr nur um ihn, es ging auch für ihn nur noch um ihn.“ Ebenfalls schuldmindernd seien die [per Selbstleseverfahren eingeführten]  Briefe an die Lebensgefährtin aus der Haft und der Suizidversuch in der Haft.

Alkoholbedingte Enthemmung wirke in aller Regel als mindernd, eine selbst verschuldete Alkoholisierung bedinge aber keine Strafrahmenverschiebung, da N. nicht alkoholkrank sei. Frohn: „Er hat sich bewusst dazu entschieden, weiter zu trinken, obwohl er dem Sachverständigen [unsicher]  gegenüber geäußert habe, die Erfahrung zu kennen, dass der Alkohol seine negativen Emotionen verstärkt.“

Bei der polizeilichen Vernehmung habe N. die Lage sehr realistisch eingeschätzt, so Frohn: „Das ist ein Mord, den ich bitter bereue, aber für den ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens in den Knast gehe“. Frohn fordert die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Die Waffen seien einzuziehen, die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslage der Nebenklage seien von N. zu tragen.

Nach einer halbstündigen Pause geht es um 16.31 Uhr weiter mit dem Plädoyer der Vertreterin der Nebenklage, RAin Streit-Stifano Espósito.

In ihrem kurzen Plädoyer lobt Streit-Stifano Espósito das „sehr ausführliche Plädoyer“ der StA und schließt sich deren Antrag an. An der Täterschaft N.s habe es von Anfang an keine Zweifel gegeben, es gebe eine geständige Einlassung. Zu diesem frühen Zeitpunkt hätten die Mutter von Alex sowie Tante und Großeltern den Eindruck gehabt, dass N. ernsthaft gewillt ist, sich von seinen Einstellungen zu distanzieren. Der Verlauf des Verfahrens habe anderes gezeigt. Es sei selbstverständlich, dass die Verteidigung Anträge nutzt, wenn aber der Eindruck entstehe, dass die Verteidigung im Hinblick auf die Strafe glaube, dass die Rechte anderer Verfahrensteilnehmer zurückzutreten hätten, weil sein Schicksal, sein Leben das Wichtigste sei, dann entstehe Verbitterung bei den Angehörigen. Streit-Stifano Espósito: „Die Familie hat das in bewundernswerter Weise ertragen, es gab keine empörten Aufschreie.“ Sie seien da gewesen, um zu zeigen, dass und was für ein wertvoller Mensch Alex war. In der Trauerrede für ihren Sohn habe ihre Mandantin gesagt, dass nicht Hass unser Leben bestimmen darf, „sie habe Angst davor Hass zu entwickeln, sie wolle das nicht, das sei nicht sie“. Die Mutter von Alex W. sei trotz ihres Verlustes nicht ablehnend. Die Tat des Angeklagten sei hasserfüllt und rücksichtslos gewesen, ein Akt des Hasses und der Sinnlosigkeit.

Mutter und Sohn hätten eine tiefe Verbindung gehabt. Streit-Stifano Espósito zitiert ihre Mandantin damit, dass Alex W. die Zukunft manchmal Angst gemacht habe, bei all dem Schlimmen, was in der Welt passiert, habe er sich gefragt, ob man noch Kinder bekommen soll. Streit-Stifano Espósito: „Blinder Hass, maßlose Arroganz hat das alles zerstört.“

Anscheinend habe N. geglaubt, so Streit-Stifano Espósito, durch die selbstverliebten Videos, Chats etc. wirklich unsere Regeln durch seine Sicht der Dinge außer Kraft setzen zu können. Vor, während und nach der Tat habe er überlegt, geplant, rücksichtslos und böse gehandelt. Das Geständnis habe kaum Gewicht, weil es ein Bestandteil des Wunsches sei, „ein Zeichen zu setzen“. Streit-Stifano Espósito: „Reumütiger Inhalt ist auch von Reue getragen, die bestimmt ist durch Verhalten, hier hat N. in der Verhandlung versagt.“ Trotz der demütigenden Verteidigungsstrategie des Angeklagten sei ihre Mandantin nicht bereit, sich auf die gleiche Ebene eines hasserfüllten, narzisstischen Verhaltens zu begeben. Die Angehörigen wünschten sich nur, dass keiner Familie, keinem Kind mehr so etwas zustoßen kann.

Um 16:43 Uhr wurde der Verhandlungstag beendet.

 

„Gut rübergebracht“ –
Prozess zum Mord an Alex W. in Idar-Oberstein –
24. Verhandlungstag, 9. September 2022

Der Verhandlungstag begann um 10:06 Uhr. Im Publikum saßen heute deutlich mehr sehr junge Menschen als bisher. Auf dem Programm standen die Plädoyers der Verteidigung und das letzte Wort des Angeklagten, die wir im Folgenden zusammenfassend wiedergeben. Zunächst begann RA Klein. Während des Plädoyers war RA Klein permanent in Bewegung, spazierte zum Teil auch hinter seinem Mandanten herum, wobei er sich weit vom Mikrofon entfernte und dadurch schwer verständlich wurde. Klein zitierte den Beginn des Plädoyers der Staatsanwaltschaft: „Die Tat habe im ganzen Land für Entsetzen gesorgt …“ Das erinnere er auch so, es sei, glaube er, etwa eine Woche vor der Bundestagswahl gewesen, mitten im Wahlkampf , so dass neben der Presse auch Politiker das Thema aufgegriffen hätten. Das sei kein guter Beginn für eine Verteidigung. Der Angeklagte habe „in besonderer Weise Kooperationsbereitschaft gezeigt“, so Klein, habe seine PINs für PC, Tablet und auch Handy herausgegeben. Die Verteidigung habe bereits im Vorfeld des Prozesses Kontakt zur Mutter des Getöteten aufgenommen und empfinde „höchsten Respekt und Bewunderung“ für die Familie, habe auch die eindrucksvolle Trauerrede der Mutter gehört. Die Verteidigung und N. hätten sich bemüht, „der Familie bei der Verarbeitung zu helfen“, auch wenn es bei einer Verteidigung natürlich in erster Linie um den Angeklagten gehe.

Nun beginnt Klein in seinem Plädoyer eine Attacke auf die anwaltliche Vertreterin der Nebenklage. Diese habe auf einen „Entschuldigungsbrief“ des Angeklagten – verbunden mit der Frage, ob das überhaupt gewünscht sei – nicht reagiert. So etwas habe habe er in 25 Jahren nicht erlebt, empört sich Klein, wo man doch „ganz sachte, ganz rücksichtsvoll“ vorgegangen sei. Er habe die Nebenklagevertreterin dann in der Hauptverhandlung darauf angesprochen und eine „harsche Reaktion“ bekommen, sie habe geantwortet: „Ja, glauben sie denn, ich antworte auf so was?“ Die Nebenklage habe dann schon beim ersten Antrag der Verteidigung „ihren Missmut sehr lautstark und vehement geäußert“. Man hätte, so Klein, diesen Prozess sehr viel harmonischer durchführen müssen, am Angeklagten habe es nachweislich nicht gelegen. Dieser habe wiederholt Reue gezeigt, ein Geständnis abgelegt, sich nachvollziehbar entschuldigt. Besser könne für eine Nebenklage der Prozess gar nicht beginnen, als mit einem Angeklagten, der sich erklärt, also die Gründe erkläre, warum ihr Sohn „leider an diesem Tage zu Tode gekommen ist“. Die Demütigung, die der Verteidigung von der Nebenklage zur Last gelegt worden sei, könne er nicht erkennen. Es sei nicht versucht worden, die Rechte der Nebenklage zu beschneiden. Auch ein Mörder habe Rechte, die er wahrnehmen könne, wenn es um sein Schicksal gehe: „Es wird nicht über Opfer verhandelt, sondern über Angeklagte.“

Auch die Vorwürfe von OStAin Frohn könne er nicht verstehen, so Klein. Er könne nicht verstehen, dass eine Verteidigung gerügt werde, dass es nur noch um den Angeklagten gehe, oder gesagt werde, dass N. die Wirkung anfänglicher Reue im Lauf der Verhandlung verspielt habe, und ihm eigensüchtiges Verhalten vorgeworfen werde. All dies dem „bislang unbescholtenen“ N., der außerdem im festen Glauben gewesen sei, tatsächlich eine Luftröhrenverengung zu haben, vorzuwerfen, das sei „billig“. Klein wirft in seinem Plädoyer dann der Staatsanwaltschaft vor, dass aus umfassenden Chat-Verläufen einzelne Nachrichten herausgelöst worden seien, denn dann sei deren Gewichtung fraglich. Beweisanträge seien außerdem wesentlich, „und es waren gar nicht so viele“. Im Weiteren sagte Klein unter anderem, dass der Vorwurf der Prozessverschleppung gegen die Verteidigung haltlos sei: „Wir haben getan, was wir tun mussten.“

Das psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Dr. Werner bezeichnet Klein als „sehr oberflächlich“, es werde der Persönlichkeit N.s nicht gerecht im Gegensatz zu der Stellungnahme von Dr. Ihm. Der Angeklagte sei leider finanziell nicht in der Lage, ein eigenes Gutachten in Auftrag zu geben, also müsse „die Verteidigung eben damit leben“.

Die Kammer und die Staatsanwaltschaft würden überwiegend Wert darauf legen, wie N. sich äußere, um Rückschlüsse auf seine Gesinnung zu ziehen, dieses Vorgehen sei „risikoreich“. N. sei in verschiedenen Foren Leser gewesen, habe sich dort aber nicht geäußert. Er sei nicht einverstanden gewesen mit den „massiven Freiheitseinschränkungen“ und der Unterstützung Deutschlands, als reiches Land, von Flüchtlingen. Er habe sich „sehr drastisch“ dazu geäußert, mit Begriffen wie „Gaskammern“. Das habe Bestürzung bei allen erregt, außer bei einem Zeugen, der diesen Äußerungen anscheinend zugeneigt gewesen sei. Es sei klar, so Klein weiter, dass die Äußerungen N.s gegenüber seinem Schwager und seiner Mutter „im Grunde genommen Selbstgespräche“ seien.

So stelle man eindeutig niedrige Beweggründe fest, die Menschenverachtung sei auf den ersten Blick ebenso klar wie das krasse Missverhältnis zwischen Anlass und Tat. Allerdings versperre das den Blick auf die Beweggründe dahinter, die „Betroffenheit“, die „Befindlichkeiten“ des Angeklagten. Dass die StA dies auch bei der Frage der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld heranziehe, erwecke Zweifel an den Beweggründen, wegen der besonderen Geschichte, die N. prägte. Hier sei es weniger die Charakterfrage („Rechthaber“), sondern es komme auf die subjektive Sicht des Angeklagten zum Tatzeitpunkt: „So leicht kann man es sich nicht machen“.

Das von der Staatsanwaltschaft festgestellte Missverhältnis zwischen dem Anlass und der Tat sei in Relation zu setzen zur Rechtsprechung des BGH. Die niedrigen Beweggründe seien durch die StA zwar korrekt dargestellt worden, wenn allerdings auch nur annähernd nachvollziehbar ein Grund für die Tötung erkennbar sei, handele es sich nicht um niedrige Beweggründe. Hass und Wut seien nur Stempel des Verwerflichen, wenn diese Emotionen nicht annähernd nachvollziehbar seien. Es habe ein ganzes „Bündel von Motiven“ gegeben, so Klein: politische Gründe, die Corona-Maßnahmen, Wut und Hass bei angreifbarem Verhalten des Opfers. Klein führt zwei Beispiele an, in denen die Auswahl des Opfers völlig willkürlich sei, und sagt dann, bei einer Verfolgung eigener Interessen dagegen sei laut BGH das Missverhältnis normal. Klein zitiert hierzu aus Entscheidungen des BGH. Das Missverhältnis, so Klein weiter, müsse gravierend sein, entscheidend sei außerdem die seelische Situation des Täters zur Tatzeit. Wenn solche Motive wie im obigen Fall mitspielten, sei auch ein krasses Missverhältnis alleine nicht ausreichend für Feststellung der sonstigen niedrigen Beweggründe.

Die nächste Frage sei die nach der willkürlichen Auswahl des Opfers. Alex W. habe nichts falsch gemacht, man könne ihm nichts vorwerfen, er habe auf die Maskenpflicht hinzuweisen gehabt, eine Ausnahme machen können, „wenn Leute Probleme haben“. Aber es sei kein Vergleich gegeben mit dem willkürlich überfahrenen Fußgänger, den Klein in einem Beispiel erwähnt hatte. Es habe ja eine Interaktion gegeben; hätte sich Alex W. anders verhalten, wäre es wohl nicht zur Tat gekommen. Natürlich hätte es auch jemand anders sein können als Alex W., das sei ja immer so, aber eine Interaktion habe vorgelegen. Die StA wisse schon, warum sie vortrage, dass der Angeklagte schon beim ersten Betreten der Aral-Tankstelle provozieren wollte, denn dann wäre die Auswahl des Opfers willkürlich, „dann hätten wir einen anderen Fall, als den, den wir hier haben“. Hier mache es sich die Staatsanwaltschaft zu leicht. Die Handlung, die Maske in die Hosentasche zu stecken, mache keinen Sinn, denn wenn N. hätte provozieren wollen, hätte er gar keine Maske mitgenommen, so Klein.

Klein argumentiert dann damit, dass N. bei der Polizei ja auch nicht mehr gewusst habe, wo die Waffe war. Klein: „Warum sollte er ausgerechnet an diesem Tag in diese Tankstelle reingegangen sein, um zu provozieren, das hat er sonst auch nicht getan?“ Weil die Angestellten in der Tankstelle selbst keine Maske getragen hätten, habe N. wohl gedacht: „Die sehen das hier nicht so eng, tragen ja selbst auch keine, also probier ich das so, wird schon gehen.“ Also habe es keine willkürliche Opferauswahl gegeben, N. sei eher im Glauben gewesen, man könne hier verständnisvoller umgehen mit denjenigen, die keine Maske tragen wollen. Wie freundlich oder unfreundlich die Kommunikation gewesen sei, sei unklar, es sei aber „nicht völlig fernliegend“, anzunehmen, dass Alex W. genervt war von bereits mehreren Leuten, die ohne Maske reingekommen sind. Vielleicht sei der Angeklagte schon der dritte an diesem Tag gewesen, so dass Alex W. vielleicht „sehr verkürzt“ auf die Maske hingewiesen habe. Offensichtlich habe sich ein Disput entwickelt. Dass dabei der Begriff „tierische Probleme“ von N. geäußert wurde, sei nicht widerlegt, N. habe das alkoholbedingt nicht mehr genau erinnert.

Klein sagt, die Aufforderung durch Alex W. habe den Angeklagten wütend gemacht, sei es die Maske aufsetzen zu sollen, sei es, dass er dazu von einem jungen Mann, keinem Staatsvertreter, aufgefordert wurde, „Stichwort: ‚Tankstellenboy‘“. Klein versucht dann eine Beschreibung, warum N. so empfindlich reagiert habe: „Du 50-Jähriger, willst hier Bier kaufen ohne Maske, kannste vergessen.“ Die Schilder in der Tankstelle, die auf die Maskenpflicht hinwiesen und auf die Tatsache, dass das Personal keine tragen müsse, hätten wohl gerade den Grund gehabt, es Leuten zu erklären, die das ungerecht fänden – weil es eben gesetzlich vorgeschrieben sei. Wenn man sich das überlege, habe man ansatzweise Verständnis dafür. Der Anlass sei auf den ersten Blick natürlich ein kleiner, es sei aber gerade bei N. mit seiner ablehnenden Haltung, seinem Unverständnis ein besonderes Ereignis.

Es geht im Plädoyer dann darum, dass N. zu diesem Zeitpunkt seelisch nicht gesund gewesen sei. Klein zählt Tat und Tod des Vaters, die Probleme mit der Arbeit usw. auf. Dann sagt er, es bröckele „ja auch gerade in der Öffentlichkeit mit diesen Corona-Maßnahmen – ich bin jetzt kein Querdenker.“ In Bezug auf OStAin Frohns Frage, wer von den Maßnahmen nicht belastet gewesen sei, sagt Klein: „Wenn wir alle belastet waren, dann haben auch alle ein Fünkchen Verständnis dafür, dass mal einer durchdreht.“ Es geht dann um die angebliche Luftröhrenverengung bei N. und den diesbezüglichen Beweisantrag. Man wisse, so Klein, dass Einschränkungen auch subjektiv seien. Klein konstatiert eine Belastung durch die Maske für jeden, er selbst sei, trotz persönlichem Risiko durch eine Lungenerkrankung, froh, keine mehr tragen zu müssen. Es stelle sich die Frage, was objektiv feststellbar sei und was subjektiv erlebt: „Wenn Sie glauben, eine Luftröhrenverengung zu haben, dann bekommen Sie auch schlecht Luft.“ Dass N. keine weitere ärztliche Behandlung für sein Asthma in Anspruch genommen hat, erklärt er mit der nahezu 50-jährigen Erfahrung N.s mit seiner Krankheit, bei der ein Arzt ihm über das Rezept für das Asthmaspray hinaus auch nicht weiterhelfen könne. N. habe sich über die Kassenbeschränkung der Verschreibung hinaus selbst mit dem Spray versorgt: „Dreimal drei Stöße täglich.“

„Leute, denen es gut geht, sind Fremden gegenüber freundlicher eingestellt“ – Klein führt als Beispiele Flüchtlinge an, erwähnt N.s Haus mit der Kreditbelastung und Aussetzung der Raten wegen Auftragswegfall, Tat und Suizid des Vaters, die Ängste, dass Fremde einem was wegnehmen könnten, die „Belastung des Sozialsystems“ durch Zuwanderer. Auch sei es dem Vater wegen der Corona-Maßnahmen einfach nicht möglich gewesen, ins Krankenhaus zu gehen. Die Corona-Maßnahmen seien dann schon „Dinge, die einen in eine Wut bringen können“. Die Belastung sei bei N. da gewesen, die Psychologin habe von schlechter seelischer Verfassung gesprochen. Der Sachverständige Dr. Werner habe da eine ganz eigene Sachkunde zu dem Thema, wer klug genug sei, sich impfen zu lassen. Klein sagt, er habe einige kluge Menschen in seinem Bekanntenkreis, die Bedenken zu den Impfungen haben. Er wundere sich allerdings, dass das zu Demonstrationen führt, im Gegensatz zu beispielsweise den Hartz-4-Sätzen. Er bezieht sich auch noch einmal auf den vorgelegten Artikel von Patricia Hölzle von der TU München, in dem Symptome wie Gereiztheit, Schlaflosigkeit, Wut angeführt sind; diese Reaktionen N.s seien also durchaus ansatzweise verständlich. Wenn das bei der Tatmotivation eine Rolle gespielt habe, dann seien keine niedrigen Beweggründe feststellbar. Der Charakter, den man N. unterstelle, die Art und Weise, wie er fremdes Menschenleben betrachte, sei dann nur noch wenig behelflich, da dann kein Fall mehr bestünde, bei dem er willkürlich menschliches Leben beendet habe.

Klein vergleicht Äußerungen aus den Chats mit einem Tagebuch und gibt an, dass er in seinen eigenen Gedanken auch schon Menschen aufgehängt habe. Im engsten Freundeskreis würden solche Äußerungen auch fallen, das sei normal, nur solche Worte wie Gaskammern würde er nicht in den Mund nehmen, weil er geschichtlich gebildet sei. Klein sagt, er nehme N. ab, dass ihm unklar gewesen sei, dass „er das tut an diesem Tag“. Die Bemerkung N.s, wäre er Dachdecker, wäre er jetzt nicht hier, sei objektiv auszulegen: ein Dachdecker verfüge gar nicht über die Quellen, über die ein Informatiker verfüge. Im Netz finde Beeinflussung statt, N. sei damit auch ein Opfer der einseitigen Berichterstattung der ihm zugänglichen Quellen, auf die er tagtäglich stieß. N. habe trotz seiner Intelligenz nicht einfach eine Meinungsänderung herbeiführen können. Eine „charakterliche Verwahrlosung“ habe N. selbst eingeräumt. Es gebe aber keinen entscheidenden Bezugspunkt bei der Motivation der konkreten Tat. Das Opfer sei kein Ausländer oder Politiker gewesen, sondern einem Berufsfeld zugehörig, dem sich N. eigentlich verbunden fühle. Die politische Betrachtung sei völlig ungeklärtes Terrain. Klein verweist in diesem Zusammenhang auf die Tötung von drei Polizisten bei Protesten gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen. N. habe ja keinen Amoklauf begehen wollen. Ein Terrorakt betreffe völlig Unbeteiligte, das sei in diesem Fall nicht festzustellen.

Zur Frage der Heimtücke sagt Klein, die StA setze Planung voraus, dafür spräche das Masketragen. Die Maske habe N. ja aber zum Tatzeitpunkt abgenommen, so Klein. Alex W. sei zwar arg- und wehrlos gewesen, aber der Angeklagte habe „besondere Rücksichtnahme“ auf unbeteiligte Dritte genommen, weswegen er gewartet habe, bis die Schlange vor der Kasse sich aufgelöst hat. Der beisitzende Richter habe nach der Wahl der Tatwaffe gefragt, wozu N. angegeben habe, er habe sich nichts dabei gedacht. Auch das spreche gegen Heimtücke, denn dann wäre eher die kleinere, besser zu verbergende Waffe gewählt worden. Dem Angeklagten sei es nicht auf Heimtücke angekommen, mit der mitgeführten Waffe hätte er das Opfer auch direkt beim Betreten des Ladens erschießen können. Es sei geplant gewesen, dass Alex W. wieder wie zuvor reagiert, deshalb die schnelle Durchführung. N. habe seine Legende vor der Tat aufgegeben, in dem er die Maske absetzte, und die Waffe zwar verborgen getragen, es sei aber fernliegend, dass zur Tatzeit ein „Ausnutzungsbewusstsein“ vorhanden gewesen war. In Rechtsfolge sei Totschlag anzunehmen mit der entsprechenden Strafrahmenverschiebung.

Es ging dann um die vermeintliche „Anpassungsstörung“ N.s, die ja „leider nicht aufgeklärt worden“ sei. Der Erholung nach der Tat des Vaters seien durch die Corona-Maßnahmen und die wirtschaftlichen Belastungen Steine in den Weg gelegt worden so Klein. Er zweifelte dann die Angaben der Zeugin aus dem Bestattungsunternehmen an. Er sage jeden Morgen zu seiner Frau „jetzt gehe ich mich wieder belügen lassen“ – Zeugen seien eigeninteressiert und im Rechtfertigungsmodus. Dass N. nur mal kurz gefragt haben solle, ob er an der Beisetzung teilnehmen könne, sei völlig lebensfremd, wenn man N. kenne. Auch mit den angesetzten Alkoholmengen erklärt sich Klein nicht einverstanden, die Vorverlagerung des Trinkzeitraums bezeichnete er als problematisch und schloss eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit nach § 21 nicht aus. Die besondere Schwere der Schuld sei dagegen auszuschließen. Für den Angeklagten spreche unter anderem, dass er keine Vorstrafen habe, psychisch belastet und erheblich alkoholisiert gewesen sei. Dass diese Alkoholisierung selbst verschuldet sei, bestreitet Klein mit Verweis auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen, in dem dieser darlegt, dass er in N.s Chats 47 Erwähnungen von Alkohol gefunden habe. N. habe den Konsum nicht in den Griff bekommen, so Klein, darauf deuteten auch die Eigenbeschreibungen von N. hin.

N.s Leben, so Klein, sei damals schon beendet gewesen – er sei zermürbt gewesen, habe mit dem Rücken an der Wand gestanden, er habe ein sehr frühes Geständnis geliefert und sich selbst gestellt, zeige Reue und Schuldbewusstsein und habe versucht, sich zu entschuldigen. In der Haft habe er einen Suizidversuch unternommen. Auch zu bedenken sei, dass er zum Entlassungszeitpunkt aus der Haft in relativ hohem Alter sein werde. Dazu komme die „Vorverurteilung“ in der Presse, auch namhafte Politiker hätten sofort von „Mord“ gesprochen, der Spiegel habe das sogar in eine Titelzeile gesetzt. Klein forderte dann eine Freiheitsstrafe für Totschlag, ohne sie konkret zu beziffern.

Nach einer etwa 20-minütigen Pause ergriff dann Verteidiger RA Küster das Wort. Er begann sein Plädoyer mit Vorwürfen der Einseitigkeit; von der Kammer sei nicht viel zu erwarten für die Verteidigung. Das Verhalten der Kammer sei bezeichnend und passe ins Bild des Plädoyers der Staatsanwaltschaft – die Richterin habe das Plädoyer seines Kollegen lediglich mit einem „Danke“ entgegen genommen, während bei der Staatsanwaltschaft die Ausführlichkeit lobend hervorgehoben worden sei. Das Gericht sei der Seite der Staatsanwaltschaft „mehr zugeneigt“.

Danach stieg Küster wie sein Kollege Klein auf die Nebenklage ein: Die Vertreterin der Nebenklage verstehe nicht, was Aufgabe der Verteidigung sei. Strafgerichtsbarkeit sei Kampf, die Seite der Verteidigung sei „nicht für ein gerechtes Urteil da“, sondern für den Angeklagten, das müsse man akzeptieren. Es habe keine Verschleppung gegeben, keine Anträge ins Blaue, es sei versucht worden, Aufklärung zu betreiben. Klein habe in seinem Schlussvortrag bereits im Wesentlichen „das Feld abgegrast“, zwei Punkte seien dabei sehr wichtig: Heimtücke und die besondere Schwere der Schuld. Heimtücke werde „mal in die eine oder in die andere Richtung gedeutet“, es gebe keine wissenschaftliche Grundlage für Bewusstseinszustände des Täters bezüglich der Heimtücke. Die Staatsanwaltschaft sehe: ein schreckliches Verbrechen hat stattgefunden, ein junger Mensch ist zu Tode gekommen, der Staat muss hart reagieren. N. sei aber bisher völlig unbescholten durchs Leben gegangen, sei sozial integriert. Es gehe um die Ansicht „eiskalter Killer“ versus die Auseinandersetzung mit dem Menschen N.

Laut BGH sei die objektive Lage klar für Heimtücke, so Küster, wenn zum Beispiel Schüsse in den Rücken fallen. Das sei hier scheinbar ähnlich, weil sehr schnell ins Gesicht geschossen wurde. Küster: „Aber was war die Situation?“ Zur Vorgeschichte der Tat sagte Küster, N. habe sich nachhaltig in einer Art Verzweiflung befunden. 2020/21 seien gesellschaftlich alle Maßnahmen akzeptiert worden, mittlerweile werde schon kritischer nachgefragt, warum „wir“ zum Beispiel „bei Inzidenzen von 100 weggesperrt wurden“, jetzt bei 2000er-Inzidenzen sei nichts mehr unternommen worden. N. sei zu einem sehr frühen Zeitpunkt schon kritisch gewesen, sein psychischer Zustand sei nicht gut gewesen, er sei alkoholisiert und von heftigen Gemütsregungen und Wut getrieben gewesen. Küster fragt rhetorisch: „Hat der wirklich gedacht bei der Tat, ich überrasche den?“ Hätte N. diese Art Charakter gehabt, so Küster, wäre er nicht 50 Jahre „so gut durchs Leben gekommen“. N. sei bei der Tat nicht Herr seiner Sinne gewesen. Es sei Aufgabe der Verteidigung, einen Menschen anzuschauen, ob er zu so einer Tat fähig ist. Das sei zugegeben ein schwammiges Argument. Bei einer Alkoholisierung von 2 Promille, „bin ich da noch Herr meiner Sinne und realisiere, was ich da mache? Ich meine nein“. Heimtücke sei also zu verneinen.

Danach kam Küster zur Frage der besonderen Schwere der Schuld. Diese sei nur auf den großen Druck der Öffentlichkeit hin angesetzt worden, weil man zu dem Schluss gekommen sei, „dass man mit dem schärfsten Schwert der Justiz antworten muss“. Fachlich sei eine besondere Schwere der Schuld nicht zu rechtfertigen. N. habe einen Beruf gehabt, eine Lebensgefährtin, sei nicht vorbestraft, sei sozial integriert, das Opfer habe nicht leiden müssen. Ebenfalls ein wichtiges Argument sei, wie er an die Waffe kam. N. sei „ nicht losgezogen, um eine Waffe zu kaufen“, sondern der Vater sei Waffennarr gewesen. Es sei fraglich, ob es klug ist, ein Kind damit vertraut zu machen, statt es vor der Gefährlichkeit zu warnen. Aber der Vater habe ihm die Waffen geschenkt. N. habe nicht die kriminelle Energie gehabt, eine Waffe schwarz zu erwerben.

Es sei ein Zeichen der Hilflosigkeit der Staatsanwaltschaft, die besondere Schwere der Schuld zu konstruieren. Wenn N. mit 65 aus der Haft komme, habe er Buße getan. Sollte er länger inhaftiert bleiben „wird Alexander auch nicht mehr lebendig“. Die heutige Innenministerin Nancy Faeser habe auf einer Bundespressekonferenz sofort von „Mord“ gesprochen. Es gebe für die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld keine nachvollziehbaren Argumente außer dem Druck der Öffentlichkeit. Küster: „Wir Verteidiger dürfen mehr Emotionen einsetzen.“ Die Staatsanwaltschaft habe jedoch mit ihrem Verweis auf die Folgen der Tat für die Nebenklägerin einen Trick aufgeführt, um Emotionen bei den Schöffen zu wecken: „Oder warum sagt man’s denn überhaupt?“ RA Klein habe die Täterpersönlichkeit durch den Vergleich der Chats mit einem Tagebuch gut dargestellt. Dass in N. bereits länger „die Gewalt geschlummert hat“, sei absurd und nicht haltbar. Er sei erst durch die Pandemie ins Wanken gekommen. In allem Weiteren schließt sich Küster seinem Kollegen Klein an. Damit beendete er um 12:28 Uhr seine Beitrag.

Nach dem vorangegangen Tadel, dass das Plädoyer der Verteidigung nicht ausreichend gewürdigt worden sei, wurde diesmal die Verteidigung von Richterin Büch-Schmitz ausgiebig gelobt. Dann erteilte sie dem Angeklagten Mario N. die Möglichkeit, das letzte Wort im Prozess zu ergreifen.

Der Angeklagte sprach daraufhin die Mutter von Alex W. direkt an, redete dabei nicht sehr laut und manchmal etwas undeutlich. Er schaute die Mutter hin und wieder kurz an, sonst blickte er vor sich hin. Die Mutter erwiderte den Blick nicht. Im Großen und Ganzen wolle er sich, so N., den Verteidigern anschließen, die Sache sei aus seiner Sicht „gut rübergebracht“ worden. Er spricht dann darüber, wie sehr ihm die Sache leidtue. Das sage er nicht für Presse und Gericht und es habe sich im Lauf der Verhandlung auch nicht geändert, auch wenn das so ausgesehen habe. Er sei manchmal selbst erschrocken, wie kalt das behandelt worden sei. Dann sagte er zur Mutter von Alex W.: „Es tut mir sehr leid und ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie sich fühlen.“ Er wünsche es sich, könne aber die Zeit nicht mehr zurückdrehen.

Damit endet der 24. Verhandlungstag um 12:35 Uhr. Fortgesetzt wird am 13.09. um 09:00 Uhr mit dem Urteil.

 

„Der Mensch Alexander W. zählte nicht.“
Prozess zum Mord an Alex W. In Idar-Oberstein – Urteil, 13. September 2022

Um 09:10 Uhr betrat die Kammer des Landgerichtes um die Vorsitzende Richterin Claudia Büch-Schmitz den Saal im Justizzentrum Bad Kreuznach. Büch-Schmitz verkündete noch im Stehen das Urteil „im Namen des Volkes“ gegen den Mörder von Alex W. Das Gericht verurteilt Mario N. wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. N. wird außerdem wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt, seine Waffen werden eingezogen. Er muss die Kosten des Verfahrens und auch die notwendigen Auslagen der Nebenklage tragen. Die besondere Schwere der Schuld stellt das Gericht nicht fest. Verurteilt wird N. auch wegen illegalen Waffenbesitzes.

Nachdem alle im Saal anwesenden Personen Platz genommen hatten, verlas Büch-Schmitz die Urteilsgründe und schilderte zunächst den Tathergang. Die Urteilsbegründung stellt fest, dass der Angeklagte den getöteten Alex W. „repräsentativ für verantwortliche Politiker“ ermordet habe, aus „Ablehnung des Staates und seiner Repräsentanten“. Der Angeklagte habe „ein Zeichen setzen“ wollen. Die unmittelbar Verantwortlichen habe er nicht zur Rechenschaft ziehen können. Der Angeklagte sei sich über die Videoaufzeichnung bewusst gewesen und damit über die mögliche Konsequenz den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen zu müssen. N. habe für sich ein Widerstandsrecht als adäquates Mittel gesehen, habe sich berufen gefühlt, weil der Rest der Gesellschaft nicht dazu in der Lage sei. Zeug*innen hätten beim Angeklagten keine Anzeichen vorausgegangenen Alkoholgenusses wahrgenommen. Im Folgenden werden noch einmal die Videonachrichten N.s an seinen Schwager nach der Tat verlesen; u.a. seine Nachricht: „Ich habe das Arschloch erschossen, ich hab‘s getan.“

Der Angeklagte „war nicht beeinträchtigt“, so Büch-Schmitz weiter, weder durch Alkoholgenuss noch durch andere Einflüsse. Dann beschrieb sie das Leid der Mutter und anderer Zeug*innen. Der Angeklagte wirkt dabei nicht besonders bewegt. Vorsitzende Richterin Büch-Schmitz dagegen schluckt und stockt selbst mehrfach, ist sichtlich berührt.

Zum Angeklagten heißt es dann weiter im Urteil, die Kammer stelle fest, dass er bereits in der Kindheit durch den Vater an Waffen herangeführt worden sei, später weiter durch den Schwager. Büch-Schmitz beschreibt das Verhältnis des Vaters zu Waffen, spricht über den Suizid des Vaters im halluzinatorischen Zustand; die Mutter von N. sei später gestorben. Wegen deren Impfung sei das Verhältnis zur Schwester später schlechter und abgebrochen geworden. N. sei zweimal geschieden, habe eine Ausbildung zum Schreiner. Er habe nach der Abzahlung eines Kredits auswandern wollen wegen der politischen Verhältnisse in Deutschland.

Er habe sich seit 2015 zunehmend radikalisiert, habe rassistische Ansichten vertreten, politisch Andersdenkende abgelehnt. Sie verweist auf die Chatnachricht des Angeklagten, dass es für Linke früher die Gaskammern gegeben habe. Der Angeklagte habe nur noch Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Anschauung gesehen. Das Urteil zählt einschlägige Äußerungen des Angeklagten noch einmal auf, etwa die Äußerung, dass er Napalm auf Fridays for Future werfen wolle. Die sich zuspitzende Radikalisierung N.s sei darin gegipfelt, nur mehr den Tod von zum Beispiel Jens Spahn und Angela Merkel als Lösung zu sehen. Der Angeklagte habe geäußert, er würde sich einer bewaffneten Armee anschließen. Das Urteil zitiert Äußerungen wie „die müssen weg“, und dass N. von „erschlagen, geköpft, gehängt“ gesprochen habe. Das habe sich schließlich auch gegen vermeintliche Stellvertreter gerichtet, der Angeklagte habe von den „Flachwichsern des Ordnungsamtes“ gesprochen, davon, dass er „die abgestochen“ hätte. Das Urteil zitiert die Äußerung „Wag dich, Freundchen“ als Drohung gegen Mitarbeiter eines Krankenhauses. So habe N. sich Zugang ins Krankenhauses verschafft. N. habe sich in seinen Einstellungen immer wieder bestätigt und bestärkt gefühlt, habe sich durch seine IT-Kenntnisse als privilegiert angesehen und seiner Überzeugung widersprechende Quellen nicht zur Kenntnis genommen. Büch-Schmitz geht darauf ein, dass N. das Whiskey-Trinken aufgegeben wegen habe wegen der finanziellen Situation, es habe eine Absprache mit der Lebensgefährtin gegeben, dass er maximal ein Sixpack Bier trinke [?], weil ihn Bier bzw. Alkohol reizbar mache.

Der Angeklagte habe den Tatverlauf so eingeräumt, wie er auf den Videos zu sehen ist. Die Kammer folgt seiner Darstellung nicht, dass er das Überraschungsmoment des Opfers nicht habe ausnutzen wollen, und auch nicht seiner Darstellung, dass er das Opfer auf ein gesundheitliches Problem mit dem Masketragen hingewiesen habe. Ebenfalls folgt die Kammer nicht der Darstellung, dass er sich durch seine ablehnende Einstellung mehr beeinträchtigt „gefühlt“ habe als andere. Auch der Suizid des Vaters als wesentliche Ursache der Tat vermöge nicht zu überzeugen. Büch-Schmitz sagte, dass es letztlich so gewesen sei, dass seine einseitige Information zur Tat führte.

Das Urteil benennt dann rechtsradikales Gedankengut bei N., das Gewalt und Aufrufe zur Tötung von „Ausländern“ umfasse und bereits 2019 gefestigt gewesen sei. N. habe keine Konsequenzen ziehen wollen aus seiner finanziellen Lage und habe Schuldige ausfindig gemacht, und das schon vor der Corona-Pandemie. Das Pandemiegeschehen sei nicht ausschlaggebend für N.s Radikalisierung gewesen, habe diese nur verstärkt. N. habe Gewalt als Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele als legitim angesehen und habe eine „staatsfeindliche Gesinnung“. Das Urteil zitiert dann den Angeklagten mit dem Begriff „Tankstellenboy“ in Bezug auf Alex W. und dass der Angeklagte in seiner Sicht an diesem gescheitert war.

Dann geht das Urteil auf die Frage der Mordmerkmale Heimtücke und niedere Beweggründe ein. In Bezug auf die geschilderte Tatausführung weist Büch-Schmitz darauf hin, dass N. vor dem Mord seine Maske ordnungsgemäß getragen und sich in der Reihe vor der Kasse angestellt habe. Alex W. sei arglos gewesen. Für das Opfer sei kein Anhaltspunkt für einen Angriff auf Leben oder körperliche Unversehrtheit erkennbar gewesen. Der Angeklagte habe bis zum letzten Moment die Waffe im Hosenbund versteckt. Alex W. habe keine Möglichkeit gehabt dem Angriff zu begegnen. Dafür sei der Zeitraum zwischen der auf den Kopf gerichteten Waffe und der Schussabgabe zu kurz gewesen. Zeug*innen hätten bestätigt, dass es „plötzlich und ohne Vorwarnung“ geschah. Der Täter habe in Bezug das Mordmerkmal der Heimtücke vorsätzlich gehandelt, die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in seinen Tatplan aufgenommen. Die Kammer ist auch überzeugt, dass Alkohol keinen Einfluss hatte, und sieht das politische Motiv als Grundlage für die Tat. Das Opfer sei stellvertretend für die Verantwortlichen ermordet worden und habe die Konsequenzen tragen sollen.

Ein vermeintliches Widerstandsrecht sieht die Kammer nicht. Die Voraussetzungen von Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes (Widerstandsrecht) sieht die Kammer „nicht ansatzweise erfüllt“. Der Angeklagte habe seinen „Widerstand“ zelebrieren wollen. Die Kammer folgt nicht der Inszenierung N.s als Opfer der Umstände: „Der Mensch Alexander W. zählte für den Angeklagten nicht.“ N.s Tat sei als von niedrigen Beweggründen getragen anzusehen.

Im Folgenden ging es dann nochmal einmal ausführlicher um die Frage, warum Alkohol keine Rolle gespielt habe. Zur Frage der nicht erfolgten Feststellung der besonderen Schwere der Schuld machte Büch-Schmitz ebenfalls längere Ausführungen – unter anderem, dass und warum sich die beiden genannten Mordmerkmale gegenseitig bedingten.

Damit endete der Prozess gegen 10.40 Uhr.

Sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft haben gegen das Urteil Revision eingelegt, damit ist es noch nicht rechtskräftig.