„Combat, wie heißt das?“ – Schily übernimmt politische Verantwortung für „schildkrötenartiges“ Vorgehen des BMI

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Bericht von der 60. Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU vom 15. März 2013. Als Zeug_innen waren anwesend: Bundesinnenminister a.D. (SPD), MDg'n Christine Hammann (BMI).

Am 15. März 2013 fand die 60. Sitzung des „NSU“-Untersuchungsausschusses im Bundestag statt. Ziel der Sitzung war vorrangig zu klären, warum der damalige Bundesinnenminister Otto Schily bereits einen Tag nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 in einer Pressekonferenz äußerte, dass die Täter_innen eher in einem kriminellen Milieu und nicht innerhalb der rechten Szene zu suchen seien.

„Schildkrötenartiges“ Vorgehen des BMI
Als erste Zeugin war an diesem Tag Christine Hammann vom BMI geladen. Die heutige Unterabteilungsleiterin im Bereich Verfassungsschutz war im Jahr 2004 im Referat für politisch motivierte Kriminalität für den Bereich Rechtsextremismus unter Fachaufsicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz tätig.
Frau Hammann konnte nicht beantworten, auf welcher Grundlage Schily zu der Äußerung auf der Pressekonferenz kam. Sie selbst wurde noch am 9.6.2004 um 17.46 Uhr per E-Mail informiert. Der Betreff der Mail lautete: „Terroristische Gewaltkriminalität“. Bereits kurz darauf wurde dies „korrigiert“ und im weiteren Mailverkehr nicht mehr von „Terror“ gesprochen. Zum Tatort in der Keupstraße notierte sich die Beamtin: „Türkisches Wohnumfeld, Umfeld allgemein hoher Kriminalität“. Der von Hammann verfasste Bericht, welchen sie erst am 11.06.2004 auf Grundlage eines BKA-Berichtes zusammenstellte, erreichte den Minister erst gar nicht. Der vorgesetzte Unterabteilungsleiter notierte handschriftlich auf dem ihm vorgelegten Bericht: „Kann Notwendigkeit der Vorlage nicht erkennen.“ Auch der Abteilungsleiter ging nicht davon aus, dass der Bericht eine Rolle spielen könnte und notierte:  „Sachverhalt ist bekannt“. An diesem Punkt schien für Hammann der Fall abgeschlossen und so schrieb sie an einen der Sachbearbeiter bereits am 14.06.2004 in einer internen E-Mail bezüglich des Vorgangs: „Dann nichts wie ab in die Registratur“.
Hier verdeutlicht sich erneut das bürokratische Versagen, welches schon so oft in den vorangegangenen Sitzungen des Ausschusses erkennbar war. Der Bericht einer Mitarbeiterin, die  extra in diesem Bereich tätig ist, erreicht den Minister nicht einmal und diese sieht aufgrund des Desinteresses ihrer Vorgesetzten keinen Grund sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Auch kommt sie in keinem Punkt zu einer eigenen Bewertung sondern fasst lediglich den Bericht des BKA zusammen. Etwaige Ermittlungsfehler werden so einfach übernommen.

Beim Anschlag in der Keupstraße wurden zweiundzwanzig Menschen verletzt, drei davon schwer. Die Nagelbombe, die dort gezündet wurde, war gefüllt mit achthundert jeweils zehn Zentimeter  langen Nägeln. Das Ziel des Anschlags war, so viele Menschen wie möglich zu ermorden oder zu verletzen. Auch der Vorsitzende des UA, Sebastian Edathy, stellte noch einmal die Frage, ob es „ähnliches Anschlaggeschehen“ während ihrer Dienstzeit gegeben hätte. Dies verneinte die Zeugin. Dennoch schien hier kein gesteigertes Interesse an dem Anschlag zu bestehen. Ihrer Auffassung nach war es auch nicht so, dass das BMI aufgrund einer verstärkten Beobachtung einer vermeintlichen islamistischen Bedrohung den Komplex Rechtsextremismus bzw. rechtsextremistischen Terror vernachlässigt habe. 2004 sei im BMI das „Jahr nach Wiese“ gewesen. Der vereitelte Anschlag der Kameradschaft Süd auf die Grundsteinlegung eines jüdischen Gemeindezentrums in München im Jahr zuvor hätte „wachgerüttelt“. Wirklich wachsam kann man im Bundesinnenministerium jedoch augenscheinlich auch in den folgenden Jahren nicht gewesen sein. Nach der heutigen Auffassung von Hammann wurde der Vorgang innerhalb des BMI „schildkrötenartig“ behandelt.

Schily übernimmt Verantwortung
Als zweiter Zeuge war an diesem Tag war der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily geladen. Dieser übte sein Amt von 1998 bis 2005 aus. In diesen Zeitraum fallen sieben Morde des „NSU“.
Eva Högl (SPD) erwartete laut einer Äußerung im Vorfeld von der Befragung des Zeugen Schily eine Antwort darauf, wie es damals zu der falschen Einschätzung seinerseits kam. Außerdem sollte geklärt werden, wie man sich seitens des BMI gegenüber der rechtsextremen Szene verhielt, nachdem das neonazistische Netzwerk „Blood and Honour“ in Deutschland verboten worden war. Die FDP warf Schily vor, durch seine Äußerungen auf der Pressekonferenz die laufenden Ermittlungen damals negativ beeinflusst zu haben. Petra Pau (Die Linke) erhoffte sich Antworten auf die Frage, warum die „Gefahr des Rechtsextremismus so tödlich unterschätzt“ wurde und warum dem Quellenschutz beim Vorgehen solch ein Vorrang gewehrt wurde, wodurch eine Unterstützung der Polizei oft erschwert wurde. Im Hinblick auf den ab April in München stattfindenden Prozess gegen Beate Zschäpe sowie die Unterstützer des „NSU“ hoffe sie auf Fingerspitzengefühl der Justiz, da sonst die Opfer retraumatisiert werden könnten.
Zumindest in einem Punkt wurden die Erwartungen erfüllt: Schily übernahm die politische Verantwortung. In seiner kurzen Einleitung sprach er von einem „absoluten Misserfolg der Sicherheitsbehörden“. Für was genau Schily die Verantwortung jedoch übernimmt war nicht klar zu erkennen, da er selbst nicht falsch gehandelt haben wollte. Er habe auch keine eigene Bewertung des Anschlags vorgenommen, sondern nur die Ergebnisse der Sicherheitsbehörden wiedergegeben. An ihn sei auch während seiner Amtszeit nie herangetragen worden, dass es mit Ausnahme der Kameradschaft Süd in Deutschland eine Gefahr durch organisierte und bewaffnete Neonazis gäbe. Entsprechende Einträge aus Szeneforen waren unbekannt.

Zweifel an objektiven Ermittlungen
Schily war auch nicht der Auffassung, durch seine Aussage, es handele sich nicht um einen terroristischen Anschlag, bereits einen Tag nach der Tat die Ermittlungen negativ beeinflusst zu haben. Auf welcher Grundlage er zu der Aussage kam, könne er heute nicht mehr sagen. Es müsse aber aufgrund eines Berichts des Lagezentrums des BMI gewesen sein. Tatsächlich existiert ein Bericht für den Zeitraum vom  9.6.2004, 6 Uhr bis zum 10.6.2004, 6 Uhr. Der Absatz „politisch motivierte Kriminalität“ blieb in diesem Bericht leer und der Vorfall wurde als „organisierte Kriminalität“ eingeordnet. Im Schlusssatz des Berichts hieß es: „Ein terroristischer Hintergrund wird derzeit ausgeschlossen“. Damit widersprach der Bericht den Ermittlungen vor Ort. Völlig unverständlich bleibt, warum am 16.6. das BKA die Ermittlungen übernahm und die Abteilung für „türkische organisierte Kriminalität“ die Untersuchungen führte. Die Aussagen, dass weiterhin in alle Richtungen ermittelt wurde, darf angezweifelt werden. Auch das Lagezentrum des BMI notierte nach dem Anschlag: „zwei deutsche Namen unter den Opfern der Rest klingt türkisch“. Auch der Vorsitzende Edathy äußerte Zweifel an einer objektiven Ermittlung.  Eine konsequente Aufklärung hätte damals auch die vorausgegangenen Morde aufklären können, denn auch in der Keupstraße sowie an anderen Tatorten waren zwei Verdächtige auf Fahrrädern aufgefallen, die nach heutigen Ermittlungen Böhnhardt und Mundlos waren.

„Combat, wie heißt das?“
Schily gab an, dass denkbar sei, dass das Fehlen eines Bekenner_innenschreibens zu Fehlern bei der Bewertung des Anschlags geführt haben könnte. Einschlägige Konzepte rechts-terroristischer Gruppierungen wie z.B. von Combat 18 oder des „führerlosen Widerstandes“ dürfte Schily wohl nicht gekannt haben. Angesprochen auf diese neonazistische Gruppierung fragte dieser dann auch nach: „Combat, wie heißt das?“. Auch die später verbotene „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene“ (HNG) war Schily, der sich gern als Kämpfer gegen Rechtsextremismus in Szene setzt, gänzlich unbekannt.

„Weil man etwas tun muss, sonst kann es morgen wieder passieren“
Allgemein hatte man an diesem Freitag das Gefühl, dass ein Großteil der Untersuchungsausschussmitglieder sich gedanklich bereits im Wochenende befand. Anders als sonst wurde in einem der Situation teilweise unangemessenen Ton miteinander gesprochen.  So stritten sich Wolfgang Wieland (DIE GRÜNEN) und Sebastian Edathy (SPD) nachdem der Vorsitzende den Obmann der Grünen bei einer falschen Zitierung berichtigte und dieser den SPD-Politiker anschließend als „Herrn Verteidiger des Bundesinnenministers a.D.“ bezeichnete.

Im Ausschuss hatte zuvor die Obfrau der Partei Die Linke, Petra Pau, einen Brief einer Anwohnerin aus der Keupstraße vorgelesen, welchen sie an diesem Freitag erhalten hatte. In diesem schildert die Frau, wie sie und ihr damals siebenjähriges Kind den Anschlag erlebt hatten. Ihre Wohnung wurde kurz nach dem Anschlag gewaltsam von der Polizei gestürmt und durchsucht. Verdächtigt wurde die Frau, weil sie Kurdin ist. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass sie in der Logik der ermittelnden Behörden damit als potentielle Unterstützerin der PKK verdächtigt wurde. Im Brief beklagt die Frau, dass alle möglichen Ursachen hinter dem Anschlag vermutet wurden, „nur Nazis als Täter wurden ausgeschlossen“. In den Jahren nach dem Anschlag begegneten die Nachbar_innen der Familie mit Distanz, da ihnen nach der Durchsuchung ein „Stigma“ anhing. Dies änderte sich erst nach dem Bekanntwerden der wahren Täter_innen, wovon die Familie auch nur aus der Zeitung erfuhr. Die eingetretenen Türen wurden ihnen nie ersetzt. Noch heute haben sie mit Angstzuständen zu kämpfen. Sie schrieb diesen Brief, „weil man etwas tun muss, sonst kann es morgen wieder passieren.“ (Teile des Briefes finden sich als Audioversion unter: http://medien.linksfraktion.de/audio/dm650065.mp3).

Außerdem wurde in der heutigen Sitzung thematisiert, wie sich das BMI nach dem Verbot von „Blood & Honour“ im Jahr 2000 gegenüber der rechten Szene verhalten hat. Schily wollte damals durch das Verbot „ein Zeichen setzen“. Der Abgeordnete Binninger stellte die Frage in den Raum, ob es nicht weitgehenderer Maßnahmen bedürfe als Verbote. Warum es in der Folgezeit keine weiteren Verbote gab, muss wohl auf das Desaster beim ersten NPD-Verbotsverfahren zurück geführt werden, welches 2003 scheiterte. Aufgrund des Verdachts der Wiedergründung von „Blood & Honour“ wandte sich das BMI in den Jahren 2005 und 2006 laut Schily wiederholt an die Generalbundesanwaltschaft um dort die Ermittlungen zentral übernehmen zu lassen. Die Bitte wurde jedoch abgelehnt. Die heutigen Maßnahmen von Innenminister Friedrich begrüßte Schily. Dies verwundert wenig, hatte dieser doch, was die innere Sicherheit angeht, immer für eine stärkere Zentralisierung plädiert. Und so sagte er auch heute, es bedürfe keiner sechzehn Landesämter für Verfassungsschutz. Auch schlug er vor, in Zukunft eher über eine Kronzeug_innenlösung nachzudenken um Informationen oder Tathinweise zu bekommen, anstatt hohe Belohnungen auszuloben.

Eine Ausnahme bei der heutigen Sitzung war sicher, dass ein geladener Zeuge die politische Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Es ist jedoch fraglich, was eine solches Schuldeingeständnis wert ist, wenn es gleich darauf wieder relativiert wird. Denn auch Schily gab an, nur das wiedergegeben zu haben was ihm andere vorlegten. Das rechtsextreme Spektrum sei während seiner Amtszeit auch nicht aus den Augen geraten sondern das „Ausmaß der Bedrohung unterschätzt“ worden. Den Opfern rassistischer Gewalt hilft das nicht.

Die nächste Sitzung des Untersuchungsausschusses findet am 21. März statt.