Der Wahrheit ein Kreisverkehr

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Die Ankündigung von Ralf Wohllebens AnwältInnen, dass dieser ebenso wie aussagen wird, trägt den unoriginellen Titel „Der Wahrheit eine Gasse“. Eine historische Kontextualisierung der Redewendung.

von Eike Sanders (apabiz/ NSU-Watch)

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In dem Text, den Wohllebens Anwältin am 29.11.2015 auf ihrer facebook-Seite veröffentlichte, heißt es: „Unser Mandant muss deshalb einige Dinge klarstellen, um den dreisten Lügen einiger Zeugen und zweier Mitangeklagter über seine Person seine Sicht der Geschehnisse entgegen zu stellen.“ Wohlleben würde sogar Fragen beantworten, man würde aber Fragen beanstanden, die „lediglich der Befriedigung von Szenevoyeurismus“ dienten.

Welcher Szenevoyeurismus? Um wessen „Wahrheit“ wird es also gehen? Die Wahl der Überschrift ist eindeutig, wenn man recherchiert, wer diese Floskel in welchem Kontext schon gebraucht hat. Davon ausgehend, dass Wohlleben und seine drei VerteidigerInnen – insbesondere Wolfram , der ehemalige Bundesführer der , die in einer Linie mit der -Jugend stand – sich als historisch interessierte Menschen verstehen, ist der Titel sicherlich nicht zufällig gewählt: setzt sich damit selbst in eine lange Reihe von AntisemitInnen, GeschichtsrevisionistInnen, rechten WahrheitsverdreherInnen bis HolocaustleugnerInnen. Seine Aussage wird also nicht einer objektiven Wahrheitsfindung dienen, sondern – was für einen Angeklagten legitim ist – der Versuch sein, eine hohe Strafe abzuwenden und gleichzeitig seiner neonazistischen Szene zu zeigen, dass er immer noch trotz aller strategischen Manöver und Aussagen einer der ihren ist. Die Ankündigung der AnwältInnen endet konsequenterweise mit den Worten: „Herr Wohlleben ist seinen Idealen und politischen Überzeugungen treu geblieben und wird dies auch in Zukunft bleiben. Seine Aussage ändert hieran nichts. Sie ist ein Akt der Notwehr gegen Lügen und Unterstellungen. Im Gegensatz zu anderen Verfahrensbeteiligten wird er dieses Strafverfahren nicht als politische Schaubühne missbrauchen.“ Es kann also damit gerechnet werden, dass hier ein Angeklagter ein Zerrbild der Wahrheit präsentiert, um seine menschenverachtende nationalsozialistische Weltsicht zu verteidigen. Etwas anderes ist im übrigen von seiner Kameradin im Geiste, Beate Zschäpe, auch nicht zu erwarten, auch wenn ihre Taktik eine andere sein mag.

Ein paar Beispiele der Traditionslinie der verwendeten Redewendung aus unserem Archiv:

1919
Der Lehrer und glühende Antisemit Ferdinand Friedrich Karl Werner, geboren 1876, schrieb 1919 ein Buch mit dem Titel „Der Wahrheit eine Gasse! Eine Abrechnung mit dem Judentum und seinen Helfern.“ Nach jahrzehntelanger Betätigung in verschiedenen völkischen und antisemitischen Parteien und Gruppen trat er 1933 schließlich in die NSDAP ein und wurde der erste nationalsozialistische Staatspräsident in Hessen. Der Titel des Werkes ist wohl eine Anspielung auf Theodor Körners Aufruf „Der Freiheit eine Gasse“, im 19. Jahrhundert das Motto der deutschen Nationalbewegung.

1952
Der ehemalige deutsche Reichskanzler Franz von Papen, auch der Steigbügelhalter Hitlers genannt, veröffentlichte 1952 seine Autobiografie unter dem Titel Memoirs / „Der Wahrheit eine Gasse“. Historiker_innen und Presse waren sich einig, dass das Buch alles andere als der Wahrheit dienlich sei: „Einen Gassenhauer der Wahrheit nannte Rudolf Pechel das penetrante Rechtfertigungsbuch des so naiven wie eingebildeten Mannes, der entscheidend zur Zerstörung der Weimarer Republik beigetragen hat. Hinter den Verzerrungen der Wahrheit wurde die unglaubliche Leichtfertigkeit erkennbar, mit der eine kleine Clique um Hindenburg die deutsche Katastrophe von 1933 ermöglichte“, schrieb 1968 der Spiegel. In den Bücherregalen der deutschen  GeschichtsrevisionistInnen hat das Buch aus genannten Gründen einen festen Platz.

ca. 1983
Ein Flugblatt mit dem Titel „Der Wahrheit eine Gasse! Nur ein nationaler Sozialismus sichert unsere Zukunft!“ erscheint. Es ist unterschrieben von , ehemaliges Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS und ehemaliger Landesführer der Schwarzen Front. Er war jahrzehntelang in neonazistischen und sogenannten „volkssozialistischen“ Kleinstorganisationen aktiv und immer Vertreter des sogenannten „Strasser-Flügels“ des Nationalsozialismus. In absoluter Täter-Opfer-Umkehr heißt es in dem Flugblatt: „Fest steht, daß k e i n e  politische Organisation so stark und rigoros verfolgt wurde und keine so ‚unbeliebt‘ war bei den Machthabern wie w i r  echten und alten nationalen Sozialisten.“ (Hervorherbung im Original)

März 1998
In der extrem rechten Zeitung „Recht und Wahrheit“ (Ausgabe März/April 1998, S. 9 ff) erscheint ein Artikel von dem „Sprecher der Truppenkameradschaft ‚Götz von Berlichingen'“ mit dem Titel „Der Wahrheit eine Gasse – Entlarvende Lügen über eine Division der Waffen-SS.“ Es geht in dem drögen Artikel um den Rechtsstreit der Truppenkameradschaft darüber, ob die genannte SS-Division in den letzten Kriegstagen zur Verhandlung bereite Deutsche erschossen habe oder nicht. Die Zeitung wird von dem Verein „Die Deutsche Freiheitsbewegung e.V.“ (DFF) herausgegeben, der seit 1983 als Scharnierorganisation Altnazis mit der jüngeren militanten Generation verbindet. Seit 2009 zeichnet der bekannte Neonazi Meinolf Schönborn für die Zeitung verantwortlich.

2009
Der Rechtsanwalt wird in der Broschüre „Amalia Hinterwäldlerin vor Gericht“ folgendermaßen zitiert: „Im Land der Lügen beginnt die Stunde der Wahrheit mit der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Reiches. […] Mit Auschwitz wollen unsere Feinde das Deutsche Volk ewig in Knechtschaft halten. Wir werden deshalb an diesem Ort vor aller Welt symbolisch die Fahne des Reiches aufrichten und der Wahrheit eine Gasse schlagen.“ (aus: Amalia Hinterwäldlerin vor Gericht. Ein Trauerspiel von , S. 12) Die Autorin der Broschüre Ursula Haverbeck (87) wurde 2010 für das „Trauerspiel“ wegen der Leugnung des Holocausts zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Da sie bei vielen Gelegenheiten immer wieder Auschwitz leugnete, kam sie schließlich für die öffentliche Aussage die Shoah sei „die größte und nachhaltigste Lüge der Geschichte“ in den Knast [Korrektur: sie wurde im November 2015 erstinstanzlich zu 10 Monaten ohne Bewährung verurteilt, noch ist sie frei]. Horst Mahler wurde übrigens aus gesundheitlichen Gründen im September 2015 nach nur sechs Jahren aus der Haft entlassen, obwohl er unter anderem wegen Volksverhetzung zu über zehn Jahren verurteilt worden ist.

2010/2011
Auch Michael Friedrich Vogt, bekannter rechter Verschwörungsideologe mit Nähe zu Reichsbürgern und HolocaustleugnerInnen, bediente sich des geflügelten Wortes und veröffentlichte 2010 in den Burschenschaftlichen Blättern einen Aufsatz mit dem Titel „Der Wahrheit eine Gasse – Meinungsfreiheit via Internet“ (Burschenschaftliche Blätter Nr. 3 2010, S. 109). Auf der esoterisch-reichsbürgerlichen „Messe“ des kurzzeitig existierenden Bündnisses „NeuDeutschland“ hielt er im Oktober 2011 einen ähnlich lautenden Vortrag.

Januar 2011
Lothar Greil, der eine durchgängige Karriere als Nazi und Neonazi über Hitler-Jugend, SS-Untersturmführer und dann Funktionär der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS) vorzuweisen hat und Autor in diversen extrem rechten, militaristischen und revanchistischen Zeitungen war bis er 2007 starb, wird im Neonazi-Blättchen „Eichenlaub“ zitiert: „Die ‚Befreiungs‘-Lüge ist eng mit der gängigen Verfemungslüge verknüpft. […] Die „SS“, schon von der Kriegspropaganda der Alliierten als Schreckgespenst dargestellt, spielt darin eine bevorzugte Rolle. Dennoch der Wahrheit eine Gasse!“ (Auszug aus der Erklärung zur Gründung und Aufgabe der SS von Lothar Greil, zitiert in: Eichenlaub Nr. 1 2011, S. 17). „Eichenlaub“ ist ein in Eisenhüttenstadt erschienener neonationalsozialistischer „Rundbrief an Freunde und Kameraden“ mit dem Untertitel „Kampf – Aktion – Revolution“.

19. Februar 2011
Der jährliche Groß-Aufmarsch von tausenden von Neonazis anlässlich der Bombardierung Dresdens 1945 findet 2011 von Seiten der anmeldenden Jungen Landsmannschaft Ostpreußen (JLO) unter dem Motto „Recht auf Gedenken – Der Wahrheit eine Gasse!“ statt. 15.000 Antifaschist_innen blockieren schon die Anfahrtswege und verhindern, dass die Nazis marschieren können. Die entschlossenen Blockaden waren der Anfang vom Ende des größten Neonazi-Aufmarsches in Europa.

Anzeige zur Veranstaltung am 9. Mai 2015

Anzeige zur Veranstaltung am 9. Mai 2015

9. Mai 2015
70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur organisieren Neonazis der Partei „“ (Kreisverband Rhein-Erft) an einem geheimen Ort in Nordrhein-Westfalen eine Vortragsveranstaltung mit dem Titel „Der Wahrheit eine Gasse“. Rund 70 Personen sollen nach Eigenangaben den Ausführungen der drei prominenten Holocaust-Leugner(in) Ursula Haverbeck, Udo Walendy und Arnold Höfs (alias Herbert Hoff) gelauscht haben.