Nur die halbe Wahrheit

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Kassel am 6. Mai 2006: Rund 2.000 Menschen demonstrieren unter dem Motto »Kein 10. Opfer!« | (c) Screenshot der ARD-Dokumentation »Acht Türken, ein Grieche, eine Polizistin«

Kassel am 6. Mai 2006: Rund 2.000 Menschen
demonstrieren unter dem Motto »Kein 10. Opfer!«
| (c) Screenshot der ARD-Dokumentation
»Acht Türken, ein Grieche, eine Polizistin«

Der -Prozess in München könnte viele Erwartungen enttäuschen

Die bürokratische und dogmatische Haltung des Münchner Gerichts bei der Vergabe der Presseplätze für den ersten großen NSU-Prozess beschäftigt seit Wochen die Medien und die Politik. Und es sieht derzeit so aus, als könnte sich die »vierte Gewalt« an der starren Haltung des Gerichts die Zähne ausbeißen. Noch schwerer dürfte es für die Angehörigen werden, dass ihre Interessen beim Gericht Berücksichtigung finden.
Ein Beitrag von Eike Sanders und Ulli Jentsch, zuerst erschienen im monitor (pdf), Nr. 59 (April 2013)

Ihre persönlichen Erwartungen zum Prozess beschrieb Elif Kubaşik, die Witwe des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşik, auf einer Veranstaltung Anfang April in Berlin. Sie empfinde eine »riesengroße Enttäuschung« über den deutschen Staat. Sie habe anfangs gedacht, »die würden den Fall im Handumdrehen lösen.« Wenige Monate nach dem Mord war eine Nazi-Demo, die direkt an ihrem Haus vorbei führte. Sie durfte die Wohnung stundenlang nicht verlassen. Das könne sie nicht vergessen, denn es schien ihr, als wenn die Neonazis sagen würden: »Wir machen das auch noch einmal«. »Ich habe eine unglaubliche Angst heute vor Nazis und Naziübergriffen. (…) Wenn ich mit so einer Angst leben muss, dann ist der Staat dafür verantwortlich und ich verlange Rechenschaft.«

Von dem Prozess erwartet Elif Kubaşik, dass die Täter bestraft werden. Aber sie glaube nicht, dass es nur um »diese eine Terroristin« gehe, deren Namen sie nicht aussprechen will: Dahinter stehe eine Gruppe, ein größeres Netzwerk. Sie wünscht sich lückenlose Aufklärung: »Wenn ich das Gefühl habe, dass diese Strukturen nicht aufgedeckt werden, dann werde ich vor den europäischen Menschengerichtshof ziehen.«

»Diese eine Terroristin«

Kerim Şimşek, Sohn des im Jahre 2000 ermordeten Enver Şimşek, beschrieb seine Erwartung an die Begegnung mit  Beate Zschäpe im Gerichtssaal kürzlich so: »Ich will ihren Gesichtsausdruck sehen. Ich will ihre Mimik sehen. Und ich  hoffe, dass sie da Reue zeigt und nicht irgendwie so //keine Ahnung// mit dieser Ideologie ‚Ich hab das richtige getan‘.« Und auch Attila Özer, Verletzter des Anschlages in der Keupstraße, machte deutlich, warum ihm die Konfrontation mit der mutmaßlichen Täterin wichtig ist: »Ich wollte sie [Beate Zschäpe] ja besuchen, aber durfte ich nicht. Ja, ich wollte einfach mal in ihre Augen sehen und // was das für ein Mensch ist // was sie vielleicht, was sie mir sagen will – das würd mich mal interessieren. Wenn sie mir gegenüber ist.«[1]

Es könnte jedoch schwierig werden, wenn zum Beispiel die 22 Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße und ihre Angehörigen den Wunsch haben, den Verhandlungstagen zu dieser Tat beizuwohnen. Und einmal »dieser Terroristin« ins Gesicht zu sehen. Denn es stehen nur 50 Plätze für Besucher_innen zur Verfügung und die könnten schnell voll sein. Mit ihrer Raumentscheidung hat die Münchner Justiz ein mögliches riesiges öffentliches Interesse mutwillig ignoriert. Dass von Verwandten und Freund_innen bis hin zu türkischen Regierungsvertreter_innen viele dem Gericht auf die Finger schauen wollen, ist verständlich und war zu erwarten – nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnisse der Untersuchungsausschüsse über dilettantisch bis rassistisch geführte Ermittlungen und nachträgliche Aktenschredderei.
Ganz im Gegensatz zu dem Osloer Prozess, der durch die unglaubliche Souveränität der Prozessführung gegen den Massenmörder Anders Breivik die Weltöffentlichkeit beeindruckte, scheint in München bereits jetzt die Chance vertan zu sein, den Opfern eine Stütze bei der Verarbeitung der traumatischen Folgen der Mordserie und der gegen sie gerichteten
Ermittlungsarbeit zu sein.

Wird München ein »Jahrhundertprozess«?

»Ich bin kein großer Freund […] von Etikettierungen etwa im Sinne von ‚Jahrhundertprozess‘ […] das hat so ein bisschen was Anmaßendes so wie das Tausendjährige Reich, das dann vielleicht nur 15 Jahre gedauert hat oder sowas in der Art […]«, sagte Margarete Nötzel, Pressesprecherin des OLG München im Bayerischen Rundfunk. Nicht nur ihre offensichtliche Unkenntnis über die Dauer der NS-Herrschaft 1933-1945 ist peinlich, das Zitat ist symptomatisch für die versuchte Entpolitisierung und Bagatellisierung des anstehenden Prozesses. Die Pressestelle des OLG ist über Tage für keine weiteren Presseanfragen zu erreichen.

Gleichzeitig wird der Prozess politisch aufgeladen. Es steht zu befürchten, dass der Prozessauftakt in München auch der Auftakt für Bundestags- und Landtagswahlkampf sein könnte. Und das wäre als gesellschaftliches Signal fatal. In München kann nicht wieder gut gemacht werden, was deutsche Behörden in den Jahren 1998 bis 2011 an Fehlern begangen haben. Die Fakten sind: Die Anklageschrift ist 500 Seiten lang, bisher sind 370 Zeug_innen vorgesehen, an dem Prozess nehmen 71 Nebenkläger_innen mit ihren 49 Anwält_innen teil. Das Gericht hat bis zum Januar 2014 durchschnittlich drei Prozesstage in der Woche angesetzt und die Prozessdauer wird auf mindestens zwei Jahre geschätzt.

München ist ein Mammutprozess. Und nimmt man die Folgen für die Angehörigen und die gesamte Gesellschaft ernst, dann ist es auch ein Jahrhundertprozess. Die Verbrechen des NSU und das Verhalten der Behörden, der Medien, der gesamten Gesellschaft im Komplex NSU hatten und haben weitreichende Folgen. Die strafrechtliche Bearbeitung der Verbrechen des NSU wird unsere Gesellschaft nachhaltig prägen.

Die Aufklärung in den Ausschüssen

Daneben findet Aufklärung vor allem in den Untersuchungsausschüssen und in den Medien statt: Um die Aufarbeitung der Fehler der Behörden kümmern sich die vier parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bund, in Sachsen, Thüringen und Bayern. Ob hier die Frage geklärt werden kann, wie sehr »der Staat« als ganzes, einzelne Behörden oder einzelne Beamt_innen fahrlässig oder vorsätzlich verstrickt waren, ist fraglich. Der Zwischenbericht des Thüringer Untersuchungsausschusses liegt bereits seit Ende Februar 2013 vor. In einem Sondervotum ergänzten die beiden Ausschussvertreterinnen Martina Renner und Katharina König (DIE LINKE) den Bericht und stellten über die Arbeitsweise des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz unter anderem fest:

»Quellenschutzfetischismus und Geheimdienstgläubigkeit erlaubten es den Akteuren das Eigenleben des Dienstes bis an den Rand der Strafbarkeit und darüber hinaus zu treiben. So wurden dem Ausschuss in mehreren Fällen aus den Akten Vorgänge bekannt, die den Anfangsverdacht von Straftaten wie Geheimnisverrat, Strafvereitelung, Amtsmissbrauch,
Betrug, Untreue usw. rechtfertigen. (…) Offenkundige Verstöße gegen bundesweit gültige Vorschriften wurden semantisch gelöst, indem es neben dem Landesvorsitzenden der NPD keine weiteren Führungspersonen in der Neonaziszene gab und Straftaten, selbst Gewaltstraftaten, von V-Leuten bagatellisiert wurden bzw. ein Spitzelnotstand in Thüringen konstruiert wurde.«[2]

Ob solche Erkenntnisse jemals strafrechtliche Folgen haben werden, darf bezweifelt werden. Es ist bisher nicht bekannt geworden, dass es auch nur ein Ermittlungsverfahren gegen dienstlich Verantwortliche gibt, sei es in den Ländern oder im Bund. Das höchste Maß an Verantwortung scheint zu sein, sich in den vorzeitigen Ruhestand zu verabschieden, wie zuletzt die Berliner Chefin des Verfassungsschutzes, Claudia Schmid.

Die Aufklärung durch die Medien

In der heutigen Wissensproduktion über den NSU spielen die Medien eine zentrale Rolle. Sie liefern der Öffentlichkeit die Informationen, die sich aus zugespielten Akten speisen und im besten Fall mit eigenständigen Recherchen ergänzt sind. Die Schuld der Medien, ihre Ignoranz gegenüber der Möglichkeit von rassistischen Morden und ihre Mitschuld bei der Stigmatisierung der Opfer und ihrer Communities als mögliche Täter_innen sowie ihre rassistische Sprachwahl im Schlagwort »Döner-Morde« wurden schon frühzeitig nach dem Auffliegen des NSU bearbeitet.

Wie groß die langfristigen Lerneffekte dieser Selbstkritik sind, ist allerdings fraglich. In einer beachtlich schonungslosen Selbstkritik schrieb kürzlich die Journalistin Heike Kleffner, die seit mehr als 13 Jahren an dem Rechercheprojekt über die Todesopfer rechter Gewalt von Tagesspiegel und Zeit beteiligt ist:

»Was wäre gewesen, wenn wir uns nicht selbst den Blick auf die Realität verstellt hätten und zumindest die neun rassistisch motivierten Morde des NSU als Verdachtsfälle mit möglichen rechten Hintergrund im September 2010 bei der letzten Aktualisierung des Rechercheprojekts genannt hätten? Aus Gesprächen mit Angehörigen von Todesopfern rechter Gewalt wissen wir, wie zentral für sie die öffentliche Anerkennung des Tatmotivs »Rassismus« oder »Hass
auf Linke« für den Verlust ihrer Kinder, Väter oder Geschwister ist. Diese Anerkennung haben wir den Angehörigen der NSU-Mordopfer viel zu lange versagt und damit ihr Trauma und ihre Isolation verstärkt.«[3]

Seit dem Auffliegen des NSU kümmern sich engagierte Journalist_ innen ebenso wie unabhängige antifaschistische Initiativen – und oftmals beide Hand in Hand – um die Recherchen und Analysen über das Umfeld des NSU, das Milieu der neonazistischen Naziszene in Thüringen, Sachsen und all der anderen Bundesländer, in die es Bezüge gibt.

Die großen Fragen stellen

Unzählige Fragen sind offen, darunter vor allem viele »große Fragen«, deren Beantwortung uns einem Gesamtbild von dem, was passiert ist, näher bringen könnten: Wie gelang es dem »Trio« 13 Jahre im Untergrund in Chemnitz und Zwickau zu leben und diese Mordserie, die Bombenanschläge und die Banküberfälle durchzuführen? Wer half ihnen vor
Ort? Wer bildete sie zu den brutalen Schützen aus, die sie offensichtlich waren? Oder war das alles »learning by doing«? Wie viel wusste wer in ihrem Umfeld? Warum zogen sie 2000 um? Warum brach vermutlich die Mordserie 2006 ab? Warum wurde Michèle Kiesewetter ermordet und ihr Kollege lebensbedrohlich verletzt? Warum produzierte der NSU
zwei Bekennervideos, die sie erst am 4.11.2011 in Umlauf brachten?

Aus verschiedenen Gründen muss klar gesagt werden, dass der kommende Prozess uns nicht erklären wird, was der NSU war und was zwischen 1995 und 2011 passiert ist. Zuerst geht es bei der rein juristischen Bearbeitung des Themas nur um strafrechtlich relevante Taten und Unterstützungshandlungen, und nicht um ideelle Unterstützung. Daher wird die  soziale und politische Dimension des NSU und seines Umfeldes sowie deren Entstehung höchstens am Rande Thema sein.  Auch die gesellschaftlichen Auswirkungen von Rassismus in Behörden und Gesellschaft, des alltäglichen  Naziterrors und des neonazistischen Terrorismus im Speziellen wird nicht Thema sein. Genauso wenig wie die  Auswirkungen auf die Angehörigen höchstens in der Beurteilung der Schwere der Straftaten Gegenstand sind.

Die Arbeit von NSU-watch

Die unabhängige Beobachtungsstelle »NSU-watch: Aufklären & Einmischen« hat Anfang April ihre Arbeit aufgenommen. Mitarbeiter_innen werden an jedem Verhandlungstag  vor Ort in München sein. Wann NSU-watch tatsächlich im Saal sitzen kann ist wegen dem umstrittenen Akkreditierungsverfahren unklar. So lange das OLG an der Liste der reservierten 50 Plätze festhält, müssen unsere Prozessbeobachter_innen wie auch beispielsweise die Hürriyet jeden Tag anstehen, um einen zufällig frei gewordenen Platz einzunehmen. Dabei ist der Skandal weniger, dass das OLG es »sicher am nötigen Fingerspitzengefühl« bei möglichen Reservierungen hat fehlen lassen, als vielmehr, dass prinzipiell in einem Saal mit nur je 50 Plätzen für Presse und Zuhörer_innen keine dem Verhandlungsgegenstand und der Anzahl der Geschädigten  angemessene Öffentlichkeit herzustellen ist.

Mit NSU-watch wollen die beteiligten Initiativen all die offenen Fragen aufgreifen, die sich auch die Angehörigen und die kritische Öffentlichkeit stellen. Die Prozessbeobachtung soll die Grundlage für mögliche prozessbegleitende  Interventionen liefern, eine Übersetzung der Protokolle und wesentlicher Texte ins Türkische soll gewährleistet werden. Der Prozess und auch seine Begleitung wird die gesamtgesellschaftliche Aufklärung nicht ersetzen können, sondern eher weitere Hinweise auf die Arbeitsweise der Neonazi-Strukturen liefern. Auch wir gehen wie Elif Kubaşik davon aus, dass das gesamte Netzwerk des NSU noch im Dunkeln liegt und wollen lückenlose Aufklärung. Die rassistischen Einstellungen in Gesellschaft und Behörden sind überdeutlich geworden und eine Konsequenz für uns ist, mit NSU-watch auch aktiv all diejenigen anzusprechen, die antirassistisch und antifaschistisch engagiert sind. Und nach Möglichkeit gemeinsam Ressourcen zu schaffen, die einer interessierten Öffentlichkeit Fakten und Einschätzungen an die Hand geben, damit die Gesellschaft ihr Versagen und ihre Missstände aufarbeiten, Verantwortung übernehmen und gegebenenfalls intervenieren kann.

Denn in der juristischen, parlamentarischen und medialen Aufarbeitung des NSU wird auch eine  breite Entsolidarisierung weiter Teile der Gesellschaft mit den Betroffenen mitverhandelt. Auf dem Tisch liegt der gesellschaftliche und behördliche Rassismus in den Ermittlungen sowie die Negierung von neonazistischem Terrorismus durch höchste politische Ämter. Die Missstände in dieser Gesellschaft, die erst zur Bildung des NSU geführt haben, dann sein ungestörtes Wirken ermöglichten und schließlich auch noch die Opfer alleine ließen und diffamierten – diese Missstände aufzuarbeiten kann kein Gericht leisten. Das müssen wir, das muss »die Gesellschaft«, selbst wollen und auch tun.

Ulli Jentsch und Eike Sanders

Anmerkungen

1 So beide in der NDR-Dokumentation »45 Min: Die Nazi-Morde« vom 8.April 2013.
2 Vgl. DIE LINKE. Fraktion im Thüringer Landtag: Sondervotum gemäß § 28 Abs. 4 zum Zwischenbericht vom 28.02.2013. Online unter www.die-linke-thl.de.
3 Vgl. Heike Kleffner: Vom journalistischen Versagen im NSU-Komplex. In: Tagesspiegel v. 20.3.2013, online unter www.tagesspiegel.de.