NSU: Quellenschutz statt Strafverfolgung

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Nach mehr als einhundert Prozesstagen in München sowie nach Untersuchungsausschüssen im Bund und in drei Ländern kommt die Rechtsextremismusexpertin Heike Kleffner zu einem ernüchternden Befund: Um die höchst fragwürdige Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz im NSU-Komplex auszuleuchten, bedarf es eines zweiten Bundestagsuntersuchungsausschusses.

Von Heike Kleffner (aus: »Blätter« 7/2014, Seite 33-36)  

Der „NSU lebt und ihr werdet die nächsten Opfer sein“, sprayten unbekannte Täter vor gut einem Jahr an das Gebäude der Islamischen Gemeinde in Düren. Tatsächlich kann niemand mit Sicherheit sagen, ob diese Schmiererei lediglich neonazistische Vernichtungsphantasien widerspiegelt oder ob sie zutrifft – und hierzulande nach wie rechte Terrorgruppen unbehelligt agieren können.

Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) sind jedenfalls lediglich Stückwerk. Noch immer sind zentrale Fragen ungeklärt: Was wussten die Strafverfolgungsbehörden und die Geheimdienste – insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz – schon vor dem 4. November 2011, dem Tag der Selbstenttarnung des NSU durch den Tod von Böhnhardt und Mundlos, tatsächlich über die Existenz rechtsterroristischer Strukturen im Allgemeinen und über das NSU-Netzwerk im Besonderen? Und hatte das mutmaßliche NSU-Kerntrio jenseits des inzwischen bekannten Unterstützer-Netzwerks von drei Dutzend Neonazis weitere Helfer und Helferinnen – speziell an den Tatorten in Nürnberg, München, Köln, Hamburg, Rostock, Kassel und Dortmund?

„Ich verlange nichts mehr als Transparenz“, betonte Gamze Kubasik, die Tochter des im April 2006 in Dortmund ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik, anlässlich des 100. Prozesstages in München.[1]

»Von Anfang an haben die in den NSU-Komplex verstrickten deutschen Geheimdienste mit Blockaden und dem Schreddern von Akten reagiert.«

Doch auf das Versprechen „größtmöglicher Aufklärung“ – O-Ton Angela Merkel anlässlich der Trauerfeier im Februar 2012 – haben die in den NSU-Komplex verstrickten deutschen Geheimdienste bis heute mit Blockaden, dem Schreddern von Akten und weiterer Geheimhaltung reagiert.

Deshalb werden seit dem Ende des Bundestagsuntersuchungsausschusses zunehmend Forderungen nach weiterer parlamentarischer Aufklärung im Bundestag laut – nicht zuletzt Dank hartnäckig recherchierender Journalisten wie beispielsweise Dirk Laabs und Stefan Aust.[2]

Zu den noch immer offenen Komplexen, die zu untersuchen wären, zählt beispielsweise die „Operation Konfetti“: Am 11. November 2011 ließ ein Referatsleiter in der Abteilung „Rechtsterrorismus“ im Bundesamt für Verfassungsschutz (Arbeitsname Lothar Lingen) unzählige Akten schreddern – darunter jene des V-Mannes „Tarif“, eines langjährigen militanten Neonazis, und anderer V-Leute aus der Thüringer Neonaziszene.

Erst ein gutes halbes Jahr später, im Juni 2012, wurde der Bundestagsuntersuchungsausschuss davon in Kenntnis gesetzt. Daraufhin trat Heinz Fromm von seinem Amt als Präsident des Bundesamtes zurück. Dennoch wurden wesentliche Teile der Akte „Tarif“ bis heute nicht rekonstruiert – im Gegensatz zu anderen bei dieser Aktion zerstörten Unterlagen. Mit Verweis auf ein laufendes Disziplinarverfahren verweigerte Lingen als Zeuge vor dem Bundestagsausschuss die Antworten auf die Schlüsselfragen: Warum wurde ausgerechnet die Akte „Tarif“ vernichtet? Und inwieweit war er selbst in die operative Führung des V-Mannes eingebunden? Auch die Antworten des sogenannten Sonderermittlers des Bundesinnenministeriums blieben diesbezüglich lückenhaft.

Im April dieses Jahres nun äußerte sich überraschend „Tarif“ selbst, und zwar im „Spiegel“: Nach dem Untertauchen des mutmaßlichen NSU-Kerntrios sei er von deren langjährigen Bekannten und Unterstützer André K. gefragt worden, ob er ein Versteck zur Verfügung stellen könne. Er habe daraufhin seinen V-Mann-Führer über die Anfrage informiert, der ihm wenig später eine Absage erteilt haben soll.[3] Entsprechende Akten oder sogenannte Treffberichte, die diesen Vorfall hätten belegen können, erhielt der Bundestagsuntersuchungsausschuss jedoch nicht.

Zugleich wurden den Abgeordneten weitere Informationen vorenthalten: Offenbar standen seit September 2012 der ehemalige V-Mann-Führer und weitere Geheimdienstbeamte in Kontakt zu dem damals in Schweden lebenden „Tarif“.

Dieser will die Beamten noch während der parlamentarischen Beweisaufnahme an den Anruf von André K. und das Verhalten des V-Mann-Führers erinnert haben, ohne dass der Bundestagsausschuss davon in Kenntnis gesetzt wurde. Ganz gleich, ob die Aussagen des ehemaligen V-Mannes in Gänze stimmen, dem Ausschuss wurde damit jegliche Möglichkeit verwehrt, die Beteiligten als Zeugen zu hören und damit die entscheidenden und bis heute völlig ungeklärten Fragen zu stellen: Hat das Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 1998 die polizeiliche Suche nach dem Trio gezielt behindert, um die sogenannte Top-Quelle „Tarif“ zu schützen? Wie eng waren die Kontakte zwischen „Tarif“ und dem Unterstützer-Netzwerk des untergetauchten NSU-Kerntrios? Und wer wusste von alledem, als „Tarifs“ Akten verschwanden?

Unstrittig ist immerhin eins: Bei der Durchsuchung einer vom Trio angemieteten Garage wurden im Januar 1998 in Jena nicht nur 1,4 Kilogramm Sprengstoff gefunden, sondern auch das von V-Mann-„Tarif“ produzierte Neonazimagazin „Sonnenbanner“. Darin findet sich unter anderem ein Aufruf an die Neonaziszene zur Bildung von kleinen, militanten „Zellen“.

Auch im Fall eines zweiten langjährigen neonazistischen V-Mannes des Bundesamtes für Verfassungsschutz häufen sich die offenen Fragen. Sein Deckname „Corelli“, sein Klarname und eine seiner Telefonnummern fanden sich auf einer Adressliste von Uwe Mundlos. Diese wurde ebenfalls bereits im Januar 1998 in Jena beschlagnahmt.

»Beharrlich wird am geheimdienstlichen Prinzip ‚Quellenschutz vor Strafverfolgung’ festgehalten.«

Dem Ermittlungsbeauftragten des Bundestagsuntersuchungsausschusss wurden jedoch lediglich zwei sogenannte Quellenmeldungen von „Corelli“ (zu dessen Kontakt mit Uwe Mundlos) aus dem Jahr 1995 vorgelegt.

Deshalb konnten die Bundestagsabgeordneten mögliche weitere Berührungspunkte von „Corelli“ mit dem mutmaßlichen NSU-Kerntrio und den Unterstützern gar nicht untersuchen – beispielsweise über das Netzwerk von Blood & Honour oder über neonazistische Internetforen, die „Corelli“ betreut hatte.

Inzwischen kann „Corelli“ dazu nicht mehr befragt werden. Er starb im April 2014 im Alter von 39 Jahren in einem Zeugenschutzprogramm der Sicherheitsbehörden – nach offiziellen Angaben an den Folgen einer unerkannten Diabetes-Erkrankung.[4] Erst nach seinem Tod wurde bekannt, dass ein langjähriger V-Mann des Hamburger Verfassungsschutzes von „Corelli“ eine möglicherweise brisante DVD erhalten haben soll.[5] Der Inhalt: Neben tausenden von szenebezogenen Fotos, Videos und Texten unter anderem auch zwei Dateien bzw. Dateiordner mit der Abkürzung NSU/NSDAP.

Brisant ist der vom Hamburger Verfassungsschuss veröffentlichte Zeitpunkt der DVD-Übergabe: Sie soll bereits im Jahr 2006 stattgefunden haben. Sämtliche vor dem Bundestag gehörten Geheimdienstmitarbeiter bestritten jedoch, dass es zu diesem Zeitpunkt bei den Sicherheitsbehörden Kenntnisse über die Existenz des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gegeben habe.

Zudem hält das Hamburger Landesamt bis heute am geheimdienstlichen Prinzip „Quellenschutz vor Strafverfolgung“ fest. Die Behörde weigert sich, dem Generalbundesanwalt die Identität jenes V-Mannes bekannt zu geben, der die DVD von „Corelli“ erhalten haben will.

Mit einer „Sperrerklärung“ verhindert der hanseatische Geheimdienst damit auch, dass der V-Mann im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München möglicherweise unangenehme Fragen beantworten muss: ob bereits im Jahr 2006 das Label „Nationalsozialistischer Untergrund“ und sein Netzwerk breiter bekannt waren als bislang angenommen; oder zur Authentizität der scheinbar zufällig aufgefundenen DVD; und nicht zuletzt zu den Aktivitäten von „Corelli“ in der Neonaziszene.

Das fatale Prinzip der Geheimdienste, neonazistische V-Leute auch bei schwersten Straftaten vor der Strafverfolgung zu schützen, setzt sich damit nahtlos fort. Die gemeinsamen Empfehlungen des Untersuchungsausschusses zu den Geheimdiensten werden von diesen nach wie vor schlicht ignoriert: „Der Quellenschutz ist nicht absolut“, heißt es da knapp und eindeutig. Denn: „Der Schutz von Leib und Leben der Quelle sowie anderer Personen, die Arbeitsfähigkeit der Verfassungsschutzbehörden und die berechtigten Belange von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr müssen in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden.“[6]

Als der Bundestagsuntersuchungsausschuss 2012 seine Arbeit aufnahm, war dessen Ende schon anderthalb Jahre später, im September 2013, allen bekannt. Doch während die Abgeordneten gegen die Uhr anrannten, setzte man bei den Geheimdiensten auf Zeit – und auf totale Kontrolle der nach außen gegebenen Informationen. In der „Lageorientierten Sondereinheit“ im Bundesamt für Verfassungsschutz konnten genau diejenigen Mitarbeiter, deren Verhalten der Untersuchungsausschuss eigentlich unter die Lupe nehmen sollte, die Akten nach Belieben zusammenstellen oder eben – wie im Fall von Referatsleiter Lothar Lingen – vernichten lassen.

»Das V-Leute-System der Geheimdienste hat zur neonazistischen Bewegung von heute beigetragen.«

Dabei handelte es sich offenbar um keinen Einzelfall. In Bezug auf den sächsischen Untersuchungsausschuss drängte sich Linksfraktion, SPD und Grünen der Eindruck auf, dass „nicht alle angeforderten Akten übersandt wurden bzw. Akten unvollständig waren.“[7]

Die Sächsische Staatsregierung veranlasste demnach keinerlei Maßnahmen, um alle Akten mit Bezügen zum NSU und seinen Unterstützern in den nachgeordneten Behörden aufzufinden. Weder gab es eine zentrale Erfassungsstelle für diesbezügliche Informationen, noch wurden sächsische Bedienstete aufgefordert, bei ihnen vorliegende Erkenntnisse an eine zentrale Stelle weiterzugeben. Das aber bedeutet, dass die dem Bundestag aus Sachsen übermittelten Akten höchstwahrscheinlich unvollständig waren – nur ein zweiter Bundestagsuntersuchungsausschuss könnte hier nachhaken.

In der letzten Legislaturperiode hat der NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss unter anderem eines eindrücklich aufgezeigt: Das V-Leute-System der Geheimdienste trug dazu bei, dass aus einer durchaus noch überschaubaren Neonaziszene der frühen 1990er Jahre die neonazistische Bewegung von heute erwachsen konnte.

Schon 1997 hatte das Bundeskriminalamt in einem „Thesen-Papier“ dieses System massiv kritisiert und dafür verantwortlich gemacht, dass führende Neonazis als V-Leute von Strafverfolgung unbehelligt blieben.[8] Geändert hat dies an der Geheimdienstpraxis jedoch nichts.

Ob die bereits beschlossenen neuen Landtags-Untersuchungsausschüsse in Nordrhein-Westfalen und Hessen die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz angesichts der Gesetzeslage in den Ländern so in den Fokus nehmen werden, wie dies notwendig wäre, ist zumindest fraglich.

Nur ein zweiter Untersuchungsausschuss im Bundestag böte die Möglichkeit, den noch immer ungeklärten Fragen in Bezug auf die Bundesbehörden nachzugehen – mit weniger Zeitdruck und mehr Vorwissen.

Doch ein solcher ist derzeit nicht in Sicht. Stattdessen wird der öffentlich bekannte Abgrund aus Hybris, Vertuschung und Versagen der Geheimdienste täglich größer – und damit auch die Zahl der offenen Fragen, die nicht im Prozess am OLG München geklärt werden können.

Die Opfer-Angehörigen und Verletzten des NSU-Terrors jedoch haben ein Recht auf umfassende Antworten – und breite gesellschaftliche Unterstützung für ihr Anliegen.


 

[1] Vgl. Lena Kampf und Matthias Weber, Merkel hat ihr Versprechen nicht gehalten, in: „Der Stern“, 24.2.2014.

[2] Stefan Aust und Dirk Laabs, Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014.

[3] Vgl. Hubert Gude, Unter Reißwölfen, in: „Der Spiegel“, 9/2014, 24.2.2014, S. 41-43.

[4] Vgl. Jörg Diehl, Sven Röbel, Jörg Schindler und Fidelius Schmidt, Ende eines Lebens im rechten Sumpf, www.spiegel.de, 14.4.2014.

[5] Vgl. DVD mit NSU-Bezug: Erstmals äußert sich der Verfassungsschutz, in: „Hamburger Abendblatt“, 3.6.2014.

[6] BT-Ds. 17/14600, S. 865.

[7] Vgl. Sondervotum von Linkspartei, SPD und Grünen zum NSU-Untersuchungsausschuss im sächsischen Landtag.

[8] Die BT-Ds. 17/14600 dokumentiert das BKA-Thesenpapier ausführlich ab S. 218 im Unterkapitel „Problematisierung der Verfassungsschutz-Quellenführung durch das BKA“; vgl. auch Heike Kleffner, Neue Fragen statt einfacher Antworten: Der Bundes-Untersuchungsausschuss, in: „Antifaschistisches Infoblatt“, 4/2013, S. 6-7, www.antifainfoblatt.de.