„Die Anklageschrift ist falsch! Sie muss auf einen breiteren NSU-Unterstützerkreis ausgeweitet werden“

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Interview mit NSU-Nebenklage-Vertreterin Gül Pinar, zuerst erschienen in: elalemelalem.de

Ab heute sagen Betroffene des neonazistischen Nagelbombenanschlages vom 9. Juni 2004 auf der Kölner Keupstraße als ZeugInnen im NSU-Prozess aus. Die Strafverteidigerin Gül Pinar begleitet von Beginn an die juristische Aufarbeitung der deutschlandweiten Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds. Im Prozess vertritt sie die Familie des Hamburger Mordopfers Süleyman Taşköprü. Sie ist davon überzeugt, dass es sich beim NSU um ein weitaus größeres Netzwerk handelt, als um die derzeit fünf Angeklagten. Mit Hilfe der Recherchen der Antifa haben sie und andere NebenklagevertreterInnen in den vergangenen eineinhalb Jahren zahlreiche Beweisanträge in den Prozess eingebracht, um vergangene und noch bestehende, aktive Strukturen der extremen Rechten in Deutschland aufzudecken, die mit der Terror-Zelle in Verbindung stehen. Pinar fordert zudem, den Verstrickungen der Ermittlungs- und Verfassungsschutzbehörden in die Geschehnisse und einem hiermit verbundenen institutionellen Rassismus nachzugehen und schlägt weitere Untersuchungskommissionen sowie unabhängige Ausschüsse vor. Hierfür brauche es den Druck der Zivilgesellschaft, der auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auch damit einhergehen müsse, sich stärker mit eigenen Stereotypen, Ressentiments und Rassismen auseinanderzusetzen und sich mit Betroffenen von rassistischer Gewalt zu solidarisieren. Im Interview* mit elalem führt Gül Pinar ihre Beobachtungen und Forderungen aus.

elalem: Im NSU-Prozess vertrittst du die Familie des Hamburger Mordopfers Süleyman Taşköprü, der am 27. Juni 2001 in der Hamburger Schützenstraße vom NSU ermordet wurde. Was ist damals passiert?

Gül Pinar: Die Schützenstraße ist eine Wohnstraße mit kleiner Ladenzeile am Rande Hamburg-Altonas. Hier hatte die Familie Taşköprü einen Gemüseladen, in dem Süleyman Taşköprü mit mehreren Kopfschüssen ermordet wurde. Sein Vater war zur Tatzeit nur kurz nicht im Laden. Als er zurückkam, verließen zwei Personen „deutschen“ Aussehens das Geschäft, was der Vater so auch den Ermittlungsbehörden mitteilte. Dennoch behauptet das für die Ermittlungen zuständige Hamburger Landeskriminalamt (LKA) bis heute, dass es keine Anhaltspunkte für eine rechts- oder rassistisch-motivierte Tat gegeben habe – jahrelang wurden hier Ermittlungen angestellt, quasi jeder Stein umgedreht, elf Ordner Ermittlungsakten angesammelt, aber einen rechtsextremen Hintergrund der Tat will man hier bis zum Schluss nicht gesehen haben.

Gibt es mittlerweile Hinweise darauf, wie der NSU seine Mordopfer und Anschlagsziele ausgesucht hat?

Es gibt deutliche Anzeichen, die auf ein breites bundes- wie landesweites Unterstützernetzwerk des NSU hinweisen. Dass diese Vernetzung in viele lokale rechtsextreme Strukturen hineinreichte, lässt sich gut am Hamburger Fall veranschaulichen:

Wie das Gericht mittlerweile festgestellt hat, haben Mitglieder von ‚Blood and Honour Sachsen‘ und ‚Blood and Honour Thüringen‘ die 1998 untergetauchten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nicht nur finanziell, sondern auch bei der Beschaffung einer der Tatwaffen unterstützt. Die Verbindung zu Hamburg besteht hier unter anderem über Christian Worch, der bis vor wenigen Jahren in Hamburg gelebt hat und Mitbegründer der Anti-Antifa ist. Diese ist wiederum eng mit den Blood and Honour-Strukturen verbunden. Laut Aussagen eines V-Mannes soll Worch auch engen Kontakt zu Tino Brandt gepflegt haben, der bis 2001 V-Mann des Landesamts für Verfassungsschutz in Thüringen war sowie Mitbegründer der Anti-Antifa Thüringen und des Netzwerks freier Kameradschaften ‚Thüringer Heimatschutz’ ist. Brandt hatte wiederum direkten Kontakt zu Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos. Zwischen Brandt und Hamburg gibt es noch weitere Verbindungen. So war Brandt zwischen 1999 und 2001 Domain-Inhaber der Homepage des ‚Deutschen Rechtsbüros’ (DRB), das Rechtsberatung für Rechtsextreme anbietet. Zum DRB gehörte u.a. der mittlerweile verstorbene Hamburger Rechtsextremist und Anwalt Jürgen Rieger sowie die Hamburger Rechtsanwältin Gisa Pahl. An einer von Pahl in Hamburg veranstalteten Rechtsschulung hat 1997 auch Uwe Böhnhardt teilgenommen. Pahl hatte in der Vergangenheit zudem mehrfach Kontakt zum ‚Thüringer Heimatschutz’. Mitte der 2000er Jahre hat sie auch den Mitangeklagten im NSU-Prozess, Ralf Wohlleben, vertreten.

Es liegen uns noch weitere Namen von Faschisten vor, die in Hamburg Hintergrundarbeit geleistet haben könnten, weil sie entweder in der Schützenstraße oder in der Nähe des Tatortes gewohnt haben. So hat beispielsweise ein ziemlich hohes Tier der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) lange Zeit schräg gegenüber des Ladens der Taşköprüs gelebt. Es gibt also eine ganze Reihe von Indizien für ein Hamburger Unterstützernetzwerk des NSU. Ähnliches gilt für die anderen Bundesländer, in denen der NSU Morde und Anschläge verübt hat.

Im NSU-Prozess sind aktuell allerdings nur fünf Personen als mögliche UnterstützerInnen identifiziert und angeklagt: Beate Zschäpe sowie Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schulze.

Die Anklageschrift ist falsch! Sie muss auf einen breiteren NSU-Unterstützerkreis ausgeweitet werden. Die Bundesanwaltschaft verteidigt aber ihre Anklage mit Zehen und Klauen. Dabei hat sich in den vergangenen über 160 Verhandlungstagen eindeutig herausgestellt, dass es neben Hamburg auch in den anderen Bundesländern NSU-Unterstützungsnetzwerke gegeben haben muss. Auch der NSU selbst hat sich als „Netzwerk“ bezeichnet, zum Beispiel im Bekennervideo, wo es heißt: „Der NSU ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz: Taten statt Worte“. Mit großer Wahrscheinlichkeit laufen also viele der NSU-Unterstützer und -Unterstützerinnen draußen noch frei herum! Dass sich im Moment keine weiteren Morde ereignen, liegt meiner Meinung nach nur daran, dass sich die Bewegung in einer Findungsphase befindet. An ihrer Existenz zweifle ich jedoch nicht. Deswegen betonen wir als Nebenklagevertreterinnen und -vertreter auch die ganze Zeit, dass es noch weitere Strukturen gegeben hat und gibt, die ebenfalls aufgedeckt werden müssen.

Neben dem Verdacht auf ein breiteres NSU-Unterstützungsnetzwerk treten auch immer wieder Anzeichen für eine Verwicklung der Ermittlungsbehörden in die Mordserie zutage. Wie beobachtest du das?

Nehmen wir zum Beispiel den bisher letzten bekannten Mord an Michèle Kiesewetter im April 2007: Die einfachsten Ermittlungen wurden in ihrem Fall nicht gemacht. So haben wir beispielsweise den Ermittlungsleiter vor Gericht befragt, wo Frau Kiesewetter in den Diensten vor ihrer Ermordung eingesetzt war. Die Antwort war, man hätte sich die Dienstpläne nicht angeschaut. Das können die mir aber nicht erzählen, dass die nicht nachgeschaut haben, auf welchen Einsätzen die ermordete Kollegin vorher gewesen war. Die Nebenklagevertretung hat dann herausgefunden, dass Kiesewetter die letzten zwei Jahre immer bei Fascho-Demos eingesetzt war. Und nebenbei erwähnt: Kiesewetters Chef war Angehöriger des rassistischen Ku-Klux-Klans Deutschland und zwar ein hohes Tier in der Organisation.

Auch an der Person Tino Brandt zeigen sich die Verstrickungen der Verfassungsschutzbehörden in die Mordserie deutlich. Brandt hat kontinuierlich hohe Beträge vom Thüringer Verfassungsschutz erhalten. Er hatte ein Auto, immer die neuesten Handys und bekam einen Computer gestellt, den Brandt u.a. dazu genutzt hat, verschiedene rechte Zeitungen zu erstellen. Brandt hat seine ganze Verfassungsschutz-Kohle in die Szene gesteckt und dabei über die Anti-Antifa auch den Thüringer Heimatschutz mitgegründet. Brandt selbst hat vor Gericht gesagt, dass der Thüringer Heimatschutz niemals solche Strukturen hätte aufbauen können, wenn es das Geld des Verfassungsschutzes nicht gegeben hätte. Er hat damit die Plakate bezahlt, er hat die Telefone bezahlt, er hat das Benzin für die Fahrten zu den rechten Veranstaltungen und Demos bezahlt und so weiter.

Außerdem: Brandt saß den Uwes und der Beate quasi auf dem Schoss – will aber nichts von ihren Taten mitbekommen haben? Als der NSU am 04. November aufflog, telefonierte Brandt mit seinem Verbindungsmann in der Verfassungsschutzbehörde. Von diesem Telefonat gibt es Protokolle, in denen sich Sätze finden wie: „Ja, der Polizei wirst du es aber so oder so erzählen.“ Man kann zwar nicht genau sagen, was damit gemeint ist, entscheidend für die Frage der Verfassungsschutzverstrickung ist jedoch ein damit zusammenhängender anderer Umstand: Im Gericht haben wir den Verfassungsschutzmitarbeiter und Chef von Tino Brandt Herrn Wießner gefragt, ob er nach dem Auffliegen des NSU mit Tino Brandt telefoniert hat. Nachdem Wießner dies verneinte, haben wir ihm die Protokolle vorgehalten und ihn damit konfrontiert, dass sein Telefonat mit Brandt abgehört wurde. Wießner hatte dazu nichts weiter zu sagen, als dass er sich nicht mehr an das Gespräch erinnern könne.

Neben diesen Beispielen finden sich noch so viele weitere Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten, die auf eine Verstrickung mit der Mordserie hinweisen und bereits vielfach durch die Medien gegangen sind: die geschredderten Verfassungsschutz-Akten; der plötzliche Diabetes-Tod des V-Manns Corelli im Jahr 2014; der Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé, der in der Anwesenheit eines V-Mannes stattgefunden hat, der jedoch nichts von der Tat mitbekommen haben will; nicht ausgewertete Videoaufnahmen vom Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004, in denen erst neun Jahre danach durch Recherchen eines Nebenklagekollegen an insgesamt fünf Stellen Mundlos und Böhnhardt gesichtet wurden – das sind alles Geschehnisse, die mir große Bauchschmerzen bereiten.

Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss ist sich in seinem 1.900-Seiten umfassenden Abschlussbericht sicher, dass es sich zumindest bei den Thüringer Ermittlungen nicht nur um „Pannen“ oder „unglückliche Umstände“ gehandelt hat, sondern vielmehr vom „Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen (Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, Anm. elalem)“ auszugehen ist.

Ich wehre mich eigentlich gegen Verschwörungstheorien, aber immer wieder poppen so Fakten auf, die es mir schwer machen, nicht an eine Verschwörung, Billigung oder gar eine Mittäterschaft einzelner Teile der Sicherheitsbehörden zu glauben. Noch gehe ich davon aus, dass die Verfassungsschutzbehörden irgendwann bemerkt haben, dass ihre V-Männer auf ganz schlimme Weise in die Taten verstrickt waren. Wohlwollend ausgedrückt: Die haben nicht ausreichend genau hingeguckt, wen sie da eigentlich bezahlen. Das V-Mann-System ist ihnen aus den Händen geglitten und jetzt versuchen sie das System zu stoppen und ihre Mitverantwortung unter den Tisch zu kehren, auch um die Institution des Verfassungsschutzes zu retten. Sollte dies der Fall sein, verstehe ich nur nicht, warum weiterhin am System der V-Leute festgehalten wird. Es stellt sich außerdem die Frage: Wenn die Ermittlungsbehörden schlichtweg ‚nur’ auf dem rechten Auge blind gewesen sind, warum können sie dies nicht öffentlich eingestehen und die Akten offenlegen? Es müsste doch klar sein, dass solange Akten geschwärzt und zurückgehalten werden, Verschwörungstheorien nur befördert werden. Auch uns als VertreterInnen der Nebenklage wird immer wieder die Akteneinsicht verwehrt, indem behauptet wird, bestimmte Sachverhalte hätten nichts mit dem Verfahren zu tun.

Woher zieht ihr als Nebenklagevertreterinnen und -vertreter dann eure Informationen?

Wir sind in der glücklichen Lage, dass die Antifas in Deutschland jahrelang ermittelt haben und über einen Fundus von Erkenntnissen über die rechte Szene verfügen, auf den wir heute zurückgreifen können. Das Archiv der Antifa stellt mittlerweile die Hauptquelle der Nebenklage dar. Ich muss zugeben, dass ich die Warnungen der Antifa früher lange Zeit belächelt habe. Aber verdammt, die hatten so recht! Wenn man sich beispielsweise Antifa-Zeitungen der 1990er Jahre durchliest und sieht, welche Nazi-Strukturen die damals schon beschrieben haben – das hatte ich als Hirngespinste abgetan. Und jetzt kommt alles genauso raus. Diese Rechercheergebnisse helfen uns auch, Beweisanträge zu stellen, um weitere NSU-Unterstützungsnetzwerke aufzudecken. So kommt es, dass quasi die gesamte Diskussion über Nazistrukturen im Rahmen des NSU-Prozesses ein Verdienst der Nebenklage und damit auch der Antifa-Recherchen ist.

Für meine Recherchearbeiten könnte ich aber ohne weiteres noch zehn zusätzliche Praktikantinnen und Praktikanten beschäftigen, um weiter zu recherchieren und beispielsweise Beweisanträge vor Gericht zu stellen. Das gilt ganz sicher auch für viele meiner Kollegen und Kolleginnen der Nebenklage.

In Großbritannien ereignete sich 1993 der rassistisch motivierte Mord am Schwarzen Briten Stephen Lawrence. Auch hier wurde das rassistische Motiv der Täter lange Zeit von den Ermittlerinnen und Ermittlern ignoriert bzw. gedeckt. Der unablässige Druck der Familie und weiterer Unterstützerkreise führte schließlich dazu, dass in den Folgejahren Untersuchungsausschüsse eingerichtet und 1997 die unabhängige Macpherson-Kommission zur Aufklärung des Falles gegründet wurde. Diese trug letztlich zur Aufdeckung der institutionellen Dimension des Rassismus bei und konnte maßgebliche Reformen in den Sicherheitsbehörden anstoßen. Auch in Deutschland wird von Seiten der Nebenklage immer wieder eine stärkere Fokussierung auf die Dimension des institutionellen Rassismus bei der Aufdeckung der NSU-Geschehnisse gefordert. Wie ist deine Perspektive auf das Thema?

Institutioneller Rassismus spielt in Deutschland schon allein deshalb eine Rolle, weil ein Großteil der verantwortlichen Behörden und einzelnen Beamten bei all den Taten versäumt haben, ernsthaft dahingehend zu ermitteln, ob rechte oder rassistische Motive hinter den Taten stehen. Stattdessen wurde sofort darauf geschlossen, dass es sich hier um kriminelle Migranten gehandelt haben muss. Dass solche eindimensionalen Ermittlungsperspektiven mit institutionell verankerten Rassismus zusammenhängen, wurde nicht reflektiert, sondern wird bis heute systematisch ausgeblendet.

Daneben wurde uns beim Studium der Akten aber auch immer wieder ein weit verbreiteter Rassismus in der deutschen Gesellschaft vor Augen geführt – nicht nur die Polizisten waren auf dem rechten Auge blind, sondern auch die Zeugen und Zeuginnen an den Tatorten. In ihren Aussagen springen uns in allen neun Mordakten Stereotype, Ressentiments und Rassismus nur so entgegen. So heißt es zum Beispiel, dass Gruppen von drei jungen Männern – „Verdächtigen“ – gesehen worden seien, die „alle schwarze Haare gehabt“ hätten. Sobald ein „Schwarzkopf“ auch nur ein bisschen lauter geredet hat, wurde bei der Aussage gleich ein riesen Streit daraus gemacht. Solche und andere Aussagen finden sich in fast allen Zeugenaussagen! Das ist eine Form von Alltagsrassismus, der meines Erachtens auch der Grund dafür ist, warum der NSU-Prozess in der Öffentlichkeit immer weniger Beachtung findet, weil die Menschen letztlich nicht gleichermaßen an den Opfern des NSU interessiert sind. Einige wollen sich wirklich mit dem Thema auseinandersetzen.

Die Dimension des institutionellen Rassismus sowie die Verwicklung der Ermittlungs- und Verfassungsschutzbehörden sind also zwei der Punkte, die scheinbar nicht umfassend im Strafprozess geklärt werden können. Wenn dem so ist, welche Alternativstrukturen oder -Gremien können oder sollten diese Arbeit leisten?

Zum einen müsste die Kontrolle von Verfassungsschutzämtern unbedingt von den Parlamenten losgelöst und für weitere gesellschaftliche Akteure geöffnet werden. Hierfür bietet sich die Einrichtung einer sogenannten Enquete-Kommission an, d. h. einer unabhängigen Untersuchungskommission, die den Verwicklungen der Ermittlungs- und Verfassungsschutzbehörden sowie dem Netzwerk rund um den NSU nachgeht. Das wurde auch schon von zahlreichen Nebenklagevertretern Anfang 2014 gefordert. Eine solche Kommission ist nur leider recht schwierig mit unserem Rechtssystem zu vereinbaren. Hier stellt sich zum Beispiel die Frage, wie eine unabhängige Kommission Einsicht in Verfassungsschutzakten bekommen soll, wenn nach deutschem Recht noch nicht einmal die eigenen Landeskriminalämter dazu befugt sind.

Was wir zudem brauchen, sind weitere Untersuchungsausschüsse in den Bundesländern. Dies gilt auch für Hamburg. Und zwar nicht nur, um die Kenn-Verhältnisse zwischen Hamburg und dem NSU aufzudecken, sondern vor allem, um zu erfassen, welche rechten Strukturen es zu welchem Zeitpunkt in Hamburg gegeben hat und wer was darüber wusste. Bisher gab es jedoch zu wenig öffentlichen Druck für einen solchen Untersuchungsausschuss. Als Nebenklagevertreterinnen und -vertreter wollen wir das Thema jetzt im Hamburger Wahlkampf noch stärker angehen.

Gibt es Aspekte im NSU-Komplex, die dir in der Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung bisher zu kurz gekommen sind?

In meiner Arbeit bekomme ich mit, dass viele Migrantinnen und Migranten, die nicht zu den Angehörigen der Mordopfer gehören, das Auffliegen des NSU zutiefst erschüttert hat. Zum Teil haben Leute ihre Klingelschilder abmontiert, weil sie Sorge haben, als Migranten erkannt zu werden. Dass die NSU-Geschehnisse in den migrantischen Communities so viel Angst verbreitet haben, schockiert mich. Wie die türkische Gemeinde appelliere auch ich daran, sich diesen Ängsten und Sorgen der Migrantinnen und Migranten von Seiten der Politik, Medien und Öffentlichkeit stärker anzunehmen.

In den kommenden Jahren ist vor allem die Zivilgesellschaft gefragt, die Ermittlungsverfahren kritisch zu verfolgen. Wir müssen alle genau beobachten, wo die Generalbundesanwaltschaft ermittelt und welchen Strukturen sie tatsächlich nachgeht. Dafür muss gegebenenfalls auch einmal bei der Bundesanwaltschaft nachgehakt und ein Aufstand gemacht werden, wenn Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den NSU-Ungereimtheiten einfach eingestellt werden. Auch für die Idee einer unabhängigen Untersuchungskommission auf Bundesebene und die Einrichtung weiterer parlamentarischer und unabhängiger Untersuchungsausschüsse auf Landes- und lokaler Ebene muss sich die Öffentlichkeit einsetzen, indem sie diese als Forderung an die Politiker und Politikerinnen im eigenen Wahlkreis und weitere Akteure heranträgt.