Kurz-Protokoll 222. Verhandlungstag – 29. Juli 2015

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Dieser Verhandlungstag ist geprägt vom der Vernehmung des ehemaligen V-Mann-Führers von Carsten Szczepanski, Reiner Görlitz, die sich schwierig gestaltet. Der Zeuge ist durch Verkleidung unkenntlich gemacht, antwortet einsilbig und blättert wiederholt in seinen Unterlagen. Diese Unterlagen werden nach längerer Diskussion vom Gericht beschlagnahmt und die Zeugenvernehmung wird schließlich unterbrochen. Es geht außerdem um Aliasnamen und Adresslisten des NSU. Gerade bei letzteren wird erneut deutlich, wie systematisch der NSU so wahrscheinlich mögliche Anschlagsziele sammelte.

 

Zeug_innen:

  • Reinhard Görlitz (LfV Brandenburg, V-Mann-Führer von Carsten Szczepanski)
  • Annika Al. (KOK, BKA Meckenheim, Aliaspersonalien des NSU-Kerntrios)
  • Jürgen He. (KHK, BKA Meckenheim, Auswertung von Adresslisten des NSU)

Es wird die Vernehmung des Zeugen Reiner Görlitz (zuletzt 215. Verhandlungstag) fortgesetzt. Diesmal erscheint Görlitz mit einen Zeugenbeistand, RA Peters. Wieder hat Görlitz eine Kapuze über dem Kopf, die er nicht absetzt, und trägt darunter vermutlich eine Perücke. Götzl: „Wir waren bei Fragen der Verteidigung Wohlleben. Sind noch Fragen?“ Klemke: „Als Sie Szczepanski kennenlernten, befand er sich in der JVA, im geschlossenen oder im offenen Vollzug?“ Görlitz: „Mir ist in Erinnerung, dass er sich damals im geschlossenen Vollzug befand.“ Klemke: „Wissen Sie, ob Ihre Dienststelle in irgendeiner Weise Einfluss auf die JVA genommen hat, Verbindung aufgenommen hat, dass der Herr Szczepanski in den offenen Vollzug kommt?“ Görlitz: „Ist mir nicht bekannt.“ Klemke: „Haben Sie selbst intern in Ihrer Dienststelle gegenüber Vorgesetzten insoweit Anregung gegeben, sich mit der JVA ins Benehmen zu setzen?“ Görlitz: „Nein.“
Klemke: „Wie sieht es aus mit dem Postverkehr des Herrn Szczepanski, haben Sie intern in irgendeiner Weise mitgewirkt auf evtl. Einflussnahme, dass die Postkontrolle aufgehoben wird in der JVA?“ Görlitz: „Einge- Ich habe nicht eingewirkt, nein.“
Die Frage, ob er sich auf die Vernehmung heute vorbereitet habe, bejaht Görlitz. Klemke: „Wie?“ Görlitz: „Durch Gespräche mit der Referatsleitung und dem Zeugenbeistand.“ Klemke: „Haben Sie Akteneinsicht genommen?“ Görlitz: „Ich habe auch Akteneinsicht genommen. Das bezog sich letztendlich intensiver auf etwa vier Aktenordner.“ Klemke: „Was thematisieren die vier Ordner, die Sie intensiver gesichtet haben?“ Görlitz: „Die Deckblattmeldungen in der Zeit ’97/ ’98.“ Klemke: „Mehr nicht?“ Nach kurzem Schweigen sagt Görlitz: „Mehr nicht.“
Klemke: „Ist Ihnen bekannt, ob der Herr Szczepanski während der Zeit seiner Tätigkeit für Ihre Behörde Zugang zu Waffen hatte?“ Görlitz: „Ist mir nicht bekannt.“ Klemke: „Sind Ihnen Ermittlungsverfahren bekannt gegen Herrn Szczepanski im Zusammenhang mit scharfen Schusswaffen?“ Görlitz: „Sind mir nicht bekannt.“ Klemke: „Auch nicht bekannt. Sie sagten das letzte Mal, der Herr Szczepanski hätte ausschließlich die Aufgabe gehabt, Informationen zu sammeln und weiterzugeben. Mehr nicht?“ Görlitz: „Mehr nicht.“ Klemke: „Auch nicht im Hinblick auf die Schaffung von, ich sage mal, Strukturen im Bereich Königs Wusterhausen? Da gab es auch keine konkreten Aufträge?“ Görlitz: „Selbstverständlich hatte er Aufträge Informationen zu beschaffen, das beinhaltete auch, über Organisationsstrukturen und Argumentationsstrukturen zu berichten.“ Klemke: „Berichten oder errichten?“ Görlitz: „Berichten.“ Klemke: „Ich hatte gefragt, ob er den Auftrag hatte, Strukturen zu bilden.“ Görlitz: „Nein.“ Klemke: „Zu fördern?“ Görlitz: „Nein.“ Klemke: „Nicht. Sagt Ihnen der Name Uwe Menzel was?“ Görlitz schweigt kurz und sagt dann: „Nein.“ Klemke: „Der Uwe Menzel soll sich gegenüber dem BKA so geäußert haben, dass Szczepanski bereits zu Zeiten, als er in Haft saß, herumerzählt habe, dass er Waffen besorgen könne, das soll er unter anderem dem Herrn Menzel gesagt haben. Haben Sie dazu Kenntnisse?“ Görlitz: „Herr Szczepanski hat darüber mir nichts berichtet.“ Klemke: „Der Herr Menzel hat bei einer Vernehmung beim BKA ausgesagt, dass Szczepanski die Strukturen in Königs Wusterhausen aufgebaut habe? Ist in diesem Zusammenhang Ihnen etwas zur Kenntnis gelangt?“ Görlitz: „Mir ist nicht bekannt, dass Herr Szczepanski Strukturen aufgebaut hat in Königs Wusterhausen.“ Klemke: „Er soll nach Angaben von Herrn Menzel immer wieder den Leuten in diesen Strukturen nahegebracht haben, sich zu bewaffnen.“ Das sei ihm nicht zur Kenntnis gelangt, sagt Görlitz.
RA Heer sagt, es setze sich fort, was er bereits thematisiert habe, es sei bei der Aussage und auch beim Nachdenken das Gesicht des Zeugen nicht erkennbar: „Ich rege an, das ins Protokoll aufzunehmen.“ Es folgt eine kurze Debatte zwischen der BAW und RA Heer über die Sitzordnung. Dann beantragt Heer, den Zeugen aufzufordern, die Kapuze abzunehmen. Götzl sagt, es gebe entsprechende Auflagen. Heer erwidert, Görlitz habe ja noch einen Perücke darunter: „Doppelt ist nicht erforderlich und ich beantrage das.“ Götzl sagt, dann solle sich RA Peters halt ein bisschen zurücksetzen und Görlitz vielleicht die Kapuze ein bisschen zurücksetzen: „Ist vielleicht auch angenehmer von der Wärme.“
RA Bliwier: „Ich schließe mich dem Antrag an. Diese Maskerade ist ziemlich unerträglich.“ Er wolle das, so Bliwier weiter, auch damit verbinden, dass dem Zeugen aufgegeben wird, die mitgebrachten Unterlagen zu überlassen, um zu prüfen, auf welche Weise sich der Zeuge vorbereitet hat: „Also Abnahme der Kapuze und Aushändigung der Unterlagen an den Senat.“ RA Hoffmann schließt sich an.
Götzl fragt Görlitz: „Sind Sie bereit, die Unterlagen auszuhändigen?“ Görlitz: „Nein.“ Götzl: „Aus welchem Grund?“ Görlitz sagt, die habe er zusammengestellt. RA Peters sagt, es handele sich um Kopien von Unterlagen des VS Brandenburg, Verschlusssachen; es handele sich ausschließlich um Aufzeichnungen des Zeugen zur Vorbereitung auf den heutigen Tag und Görlitz sei nicht befugt, diese Unterlagen herauszugeben. Götzl sagt, es sei die Frage, ob eine Sperrerklärung nach StPO vorliege. Peters sagt, dass Görlitz die nicht herausgeben dürfe. Götzl sagt, das sei nur so, wenn das Herausgeben der Schriftstücke dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde.
Bundesanwalt Diemer: „Da meine ich jetzt schon, dass man das abklären müsste.“ Götzl: „Das mache ich ja gerade, das ist der Zweck der Sache.“ Peters sagt, er gehe davon aus, dass es eine Sperrerklärung gebe, er könne das sofort klären. Götzl: „Dann überlassen Sie uns die Unterlagen, wir werden sie nicht sichten natürlich, und Sie fordern eine Sperrerklärung an. Wir geben Ihnen die Gelegenheit die Sperrerklärung zu prüfen und uns zukommen zu lassen.“ Es folgen eine längere Diskussion und eine Pause.

Danach sagt Götzl, dass RA Peters gerade an der Abklärung sei und man daher mit der Zeugin Annika Al. (218. Verhandlungstag) fortsetze. Götzl: „Es ging ja bei Ihrer Einvernahme um die Abklärung der Nutzung von Aliaspersonalien. Wir würden weitergehen und würden dann zu Asservaten kommen, die Herrn Gerlach betreffen.“ Al. sagt, dass zu Gerlach ein Reisepass sichergestellt worden sei im Wohnmobil, der sei ab 2011 gültig gewesen, mit dem Lichtbild des Gerlach. Gerlach selber habe ausgesagt, dass er von Böhnhardt die Haare geschnitten bekommen habe, damit er mehr die Ähnlichkeit von Böhnhardt annimmt. Im Zuge der weiteren Ermittlungen sei auch herausgekommen, dass ein anderer Reisepass, der bis 2011 gültig gewesen sei, von Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe genutzt worden sei: „Diesen haben wir jedoch nicht aufgefunden. Im Wohnmobil befand sich außerdem ein Führerschein auf den Namen Gerlach, der auch für die Anmietung von PKWs und Wohnmobilen benutzt wurde. Im Wohnmobil befand sich außerdem eine ADAC-Karte und eine AOK-Versichertenkarte. Zu diesen zwei Asservaten konnten wir jedoch keine direkte Nutzung feststellen.“ Es seien außerdem noch fiktive Alias-Personalien u.a. für Bestellungen genutzt worden.
Dann fragt Götzl zu Carsten Ri. (95. Verhandlungstag). Da seien im Brandschutt der Frühlingsstraße Einzahlbelege sichergestellt worden, so Al. In den Ermittlungen sei herausgekommen, dass es wahrscheinlich so war, dass Carsten Ri. selbst die Anmietung der Altchemnitzer Straße 12 übernommen und die Wohnung Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe zur Verfügung gestellt habe. Es seien Rechnungen im Brandschutt gefunden worden, aber in abgewandelter Schreibweise. Es sei davon auszugehen, dass die Personalie nochmal benutzt wurde, ohne dass Ri. davon gewusst hat. Aus dem ‚C‘ in Carsten sei ein ‚K‘ geworden. Götzl fragt, was Al. zu den Asservaten betreffend Silvia Ro. (zuletzt 72. Verhandlungstag) sagen könne. Al.: „Da wurde unter anderem eine AOK-Versichertenkarte im Brandschutt der Frühlingsstraße 26 sichergestellt. Diese wurde auch für Zahnarztbehandlungen in der Stadt Halle verwandt. Frau Sch., geborene Ro., hat angegeben, dass sie die Versichertenkarte gegen einen Betrag von 300 Euro an den Herrn Gerlach gegeben hat.“

Um 11:44 Uhr wird eine Pause eingelegt, die bis 12:14 Uhr verlängert wird. Danach sagt Götzl, dass Görlitz und RA Peters nochmal in den Saal kommen sollen. Er teilt mit, dass nach telefonischer Rücksprache mit einer versiegelten Sicherstellung der Papiere von Görlitz Einverständnis bestehe. Man werde natürlich die Einvernahme von Görlitz unterbrechen, die Unterlagen sicherstellen und versiegeln und Görlitz dann erneut laden müssen: „Dann werden wir Ihre Einvernahme unterbrechen, Sie erneut laden und so dann verfahren.“ Es folgt die Mittagspause bis 13:19 Uhr.

Danach wird der Zeuge He., KHK beim BKA Meckenheim, gehört. Götzl sagt, es gehe um die Auswertung von Namenslisten und Notizzetteln. He. berichtet, er sei in den ersten Tagen schon in der BAO Trio eingesetzt gewesen und habe gleich mit Beginn erste Vermerke geschrieben, darunter die hier in Rede stehenden zu sichergestellten Dateien, die ihm in elektronischer Form vorgelegen hätten. In den darauf folgenden zwei, drei Tagen habe er weitere Unterlagen zur Auswertung bekommen, Papierkopien, Auszüge aus Telefonbüchern: „Also strukturierte, systematisch geordnete Adressen und Telefonnummern, wie man sie üblicherweise in einem Telefonbuch findet. Zudem Notizzettel, die mir als Bilddokumente oder Kopie vorlagen. In den Auswertevermerken habe ich die bewertet und ausgewertet.“ Götzl: „Was hat die Auswertung ergeben?“ He.: „Diese elektronischen Dateien, das waren Namens- und Adresssammlungen mit Bezug zu München, Dortmund, Nürnberg.“ Zu München habe es 88 Datensätze in einer Datei „München“ gegeben, zu Dortmund 37 und zu Nürnberg 6. He.: „Dabei ist mir aufgefallen, dass diese Dateien offensichtlich sehr systematisch angelegt waren.“
Es seien Adressen zu Personen enthalten gewesen, Mitglieder des Landtags, Parteibüroadressen, „islamistische“ Vereinigungen, Adressen von jüdischen Einrichtungen, Waffenhandlungen, „unterschiedliche Adressen mit konkreten Ortsbezügen“. He. weiter: „Ich habe das so dargelegt, dass hier der Versuch unternommen wurde, Datensätze systematisch anzulegen, die vor dem Hintergrund der Straftaten, die hier zur Rede standen, – ich hatte die DVD des NSU schon gesehen gehabt zu diesem Zeitpunkt -, ich habe die Datensammlung als Vorbereitung von Straftaten gesehen derart, wie sie auf dieser DVD auch dokumentiert waren.“
Die Papiervordrucke seien Auszüge aus Telefonbüchern gewesen mit handschriftlichen Ergänzungen und Textmarkierungen, mit „despektierlichen Bemerkungen“ zu Institutionen oder Personen. Er erinnere sich an einen handschriftlichen Vermerk: „Rote Sau“. He.: „In der Gesamtbetrachtung von Dateien, Auszügen aus Telefonbüchern und Zetteln habe ich das als Grundlage für Adressdaten in München, Nürnberg und Dortmund gesehen.“

RA Daimagüler gibt eine Erklärung ab. Nachdem der Zeuge entlassen ist: Es erscheint offensichtlich, dass der Zeuge nicht unterscheidet zwischen ‚islamisch‘ und ‚islamistisch‘. Das ist für einen muslimischen Anwalt schon schwer zu verdauen. Aus dem Vermerk ergibt sich, dass Personen auf der Liste nicht befragt wurden und dass auch die regionale Häufung nicht zur Besorgnis Anlass gegeben hat. Eine einfache Person hätte vielleicht Hinweise darauf geben können, ob es da lokale Tippgeber gegeben hat. Das ist nicht geschehen, insofern ist die Auswertung eine, die vor allem durch ihre Oberflächlichkeit besticht. Der Verhandlungstag endet um 13:44 Uhr.

Hier geht es zum Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2015/07/29/29-07-2015/